Startschuss zur Revolution

VW Der Skandal um manipulierte Abgaswerte wird weitere Kreise ziehen, als es die meisten heute ahnen. Sehen wir gerade den Anfang vom Ende des Autos?

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Der größte Autobauer der Welt hat seine Kunden und die Kontrollbehörden an entscheidender Stelle betrogen, systematisch und womöglich jahrelang. Eigentlich ein völlig unfassbarer Vorgang, wenn man einmal annehmen möchte, dass Großkonzerne prinzipiell durchaus Anstand besitzen und sich zumindest an die für sie relevanten Gesetze halten. Als in der Krise öffentlich bekannt wurde, dass Griechenland seine Haushaltszahlen "frisiert" hatte, um mit Ach und Krach die Kriterien für die Aufnahme in die europäische Währungsunion zu erfüllen, war die Empörung über die "Schummelgriechen" groß. Doch verglichen mit der ungleich höheren kriminellen Energie der Verantwortlichen bei VW und dem Schaden, den sie damit angerichtet haben, handelte es sich bei den "Sünden" Athens doch eher um einen Dumme-Jungen-Streich.

Wenn es wenigstens ein chinesischer oder koreanischer Hersteller gewesen wäre...aber nein, es war "ausgerechnet" ein Unternehmen aus dem so vorbildlich-korrekten Deutschland, das beim serienmäßigen Betrug erwischt wurde! Dabei glaubt wohl kaum jemand, dass andere Autobauer nicht mit ähnlichen Tricks arbeiten: Das Misstrauen und die riesige Aufmerksamkeit, die die Branche nun erfahren, dürften zu weiteren "Enthüllungen" führen. VW ist vermutlich nur die Spitze des Eisbergs.

Image vs. Nutzwert

Der längerfristige Schaden für das Image der Branche aufgrund des Vertrauensverlusts ist noch überhaupt nicht abzusehen, klar ist nur: Es wird riesig sein. Und wer einmal ein schlechtes Image hat, stößt in unserer bild- und mediengesteuerten Gesellschaft Andere ab: Geschäftspartner, Werbeträger, Trendsetter - und letztlich seine KundInnen. Autos, zumal teure, werden nicht (nur) als Gebrauchsgegenstände gekauft, sondern (auch) zur Befriedigung des eigenen Egos. Wenn nun ein ehedem bewundertes Statussymbol einen negativen "Beigeschmack" erhält, wird es als Mittel der Selbstdarstellung unattraktiv - die KäuferInnen bleiben aus.

Daraus ergibt sich eine erhebliche Verschiebung des Verhältnisses der Menschen zu ihrem "liebsten Stück": Autos werden gewissermaßen entmystifiziert und auf ihre Rolle als Gebrauchsobjekt reduziert, die bisher oft sehr emotionale Beziehung der Fahrzeugbesitzer zu ihrem Auto wird rationalisiert. Das bedeutet auch, dass wieder die Frage ins Zentrum rückt, was der Zweck eines PKWs ist: Geht es uns wirklich um dessen Besitz - oder um flexible Mobilität?

Neue Mobilität, neue Wirtschaft

Zumindest in der Stadt ist Letzteres schon heute anders möglich: Mit Bus und Bahn, Fahrrad oder e-Bike oder carsharing ist man oft schneller und stressfreier, immer aber billiger unterwegs. Neue intelligente Systeme ermöglichen die flexible Kombination verschiedener Verkehrsmittel und machen deren Nutzung - dank Smartphones - letztlich ähnlich bequem und jederzeit verfügbar wie den Privatwagen. Sicherlich befinden sich diese Möglichkeiten vielerorts noch in Aufbau, aber die Richtung der Entwicklung scheint deutlich vorgezeichnet, und nicht zuletzt der aktuelle Skandal wird die Diskussion um "alternative" Formen der Mobilität enorm verbreitern. Dabei dürften sich nicht zuletzt Synergie-Effekte mit der in den letzten Jahren aufkommenden commons-Debatte ergeben: "Eigentum" ist nicht immer die sinnvollste Form, Dinge möglichst vielen Menschen zur Verfügung zu stellen.

Wem diese Veränderungen noch nicht weitgehend genug erscheinen, der oder die möge noch einen Schritt weiterdenken und die Stellung des Autos im Kontext der Gesamtwirtschaft betrachten: Straßen- und Maschinenbau, Öl-, Chemie- und Stahlwirtschaft, elektrische Systeme, finanzierende Banken...wohl kein anderes Produkt ist von so zentraler Bedeutung für die heutige Industrielandschaft. Ein möglicher Niedergang der Autobranche würde diese somit bis in ihre Grundfesten erschüttern.

Revolution (auch) in der Landwirtschaft

Es mag wohl Zufall sein, aber ist in diesem Zusammenhang dennoch interessant: Zeitgleich spitzt sich international die Debatte um das Pflanzenschutzmittel "Roundup" bzw. dessen Wirkstoff Glyphosat zu. Am 12. September hat die Umweltbehörde des US-Bundesstaats Kalifornien dieses offiziell als 'krebserregend' eingestuft. Wenn andere Staaten sich dem anschließen, bedeutet das das Ende für Monsantos Bestseller - immerhin einer der zentralen Pfeiler der hochtechnologisierten globalisierten Landwirtschaft. Damit stehen möglicherweise gleich zwei zentrale Wirtschaftszweige vor tiefgreifenden Umwälzungen. Auch ohne den Fortgang der Ereignisse zu kennen scheint es angemessen, von einer sich anbahnenden Revolution zu sprechen. Deren Ausgang ist offen, doch die Karten für die beteiligten Großunternehmen stehen ausnahmsweise schlecht.

Dieser Artikel ist Teil einer Serie über die strategische Neuausrichtung der USA und deren politische und ökonomische Auswirkungen. Bisher erschienen:

Die neue Geopolitik - Die Folgen des #Irandeals - Eine Übersicht der geostrategischen Bedeutung des "Atom"-Abkommens der P5+1 mit Teheran

2015 als Wendepunkt - Versuch einer historischen Einordnung der aktuellen Entwicklungen

"I think we have a deal" - Beschreibung und Deutung der veränderten Situation in Syrien

Zeichen der Entspannung aus Kiew - Auch in der Ukraine ist die Lage seit Juli eine andere

Riad & Washington - BFF no more? - Beobachtungen zum sich rapide wandelnden Verhältnis der (ehemaligen?) Verbündeten USA und Saudi-Arabien

Ist das Ende da? - Die psychologischen Auswirkungen der anhaltenden Nullzinspolitik der US-Notenbank als Anzeichen einer tiefgreifenden Systemtransformation

Startschuss zur Revolution - Der VW-Skandal könnte das Ende der Öl-Wirtschaft einläuten

Mit Al-Qaida für den Frieden - Strategische Verschiebungen auch im islamistischen Lager

Wer solche Verbündeten hat... - Der Krieg im Jemen als Falle der US-Regierung für ihre "Alliierten" in Riad und deren Fürsprecher in Washington gedeutet

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Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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