"Vergesst unsere Werte nicht!"

Interview Norbert Blüm im Gespräch über Digitalisierung, Individualismus, Migration und die Irrungen der CSU

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Norbert Blüm
Norbert Blüm

Foto: imago/JOKER

Norbert Blüm ist gelernter Werkzeugmacher. Nach dem Abendgymnasium studierte er Philosophie, Theologie und Germanistik. Er bekleidete zahlreiche politische Ämter. Von 1982 bis 1998 war er Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, zwischen 1981 und 2001 auch stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Als Vorsitzender der Stiftung Kinderhilfe hat er zahlreiche Länder der Welt besucht. Er ist Mitglieder der IG Metall, von Amnesty International und der Kolpingfamilie und Autor zahlreicher Bücher, zuletzt „Aufschrei. Wider die erbarmungslose Geldgesellschaft“ (Westend 2016). Mit ihm sprach ich im Juli 2018 über die Digitalisierung, Migration und gesellschaftliche Werte.

Stefan Krabbes: Herr Dr. Blüm, Sie waren 16 Jahre lang Arbeits- und Sozialminister unter Helmut Kohl und haben sich für die Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingesetzt. Wie schätzen Sie die Entwicklungen um die Digitalisierung ein, die ja einen erheblichen Umbruch in der Arbeitswelt ausmachen wird, und wo sehen Sie die neuen Problemfelder, vor die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestellt werden?

Norbert Blüm: Man darf die Frage der Digitalisierung nicht nur auf die Entwicklung der Arbeitswelt begrenzen, sondern muss sie für die ganze Gesellschaft stellen. Wie gehen wir damit um, wenn die Arbeit der Gesellschaft ausgeht? Der Mensch ist ein Mängelwesen, da berufe ich mich auf Arnold Gehlen. Der Mensch schafft sich seine Kultur und eine zweite Natur. Hierzu gehört eben auch die Arbeit. Sie ist für den Menschen sinngebend und wir würden verkümmern, hätten wir sie nicht. Arbeit hat also eine hohe anthropologische Funktion, die wir nicht unterschätzen dürfen.

Klar ist dabei, dass die Digitalisierung, bezogen auf den Arbeitsbegriff, eine Abkehr von dem Arbeitsbegriff der produzierenden Industriegesellschaft bedeutet. Wir können nicht immer mehr und mehr produzieren. Unsere Ressourcen sind endlich. Das merken wir vielleicht nicht, weil die Welt eine Kugel ohne Grenzen ist. Wäre sie aber eine Scheibe, denn verstünden es die Menschen schneller, denn dann stießen wir irgendwann an ihren Rand und damit an ihre Grenzen.

Keine Grenzen hingegen haben die Dienstleistungen. Hier hat der Mensch einen schier unbegrenzten Bedarf. Wir stehen vor dem Umstieg von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz und von Robotern wird noch wichtiger als bisher. Sie werden produktiver und schneller sein als der Mensch. In dieser Entwicklung darf Menschlichkeit aber nicht dem Kosten-Nutzen-Denken weichen. Es muss immer klar sein, dass Maschinen der Mittel und nicht der Sinn sind. Der Mensch beherrscht die Maschine und nicht die Maschine den Menschen.

Digitalisierung hat zwei Seiten: eine helfende und eine schädliche. Ich selbst habe einen Herzschrittmacher und freue mich, dass die Digitalisierung mir das Leben ermöglicht. Aber ich möchte in Zukunft auch weiterhin von einem Arzt gesagt bekommen, was mir fehlt – und nicht von einer Maschine. Hier geht es um menschliche Zuneigung.

Ich möchte nicht, dass Biotechnik Erbsubstanz so verändert, dass wir Menschen nach Maß erstellen oder den Tod abschaffen können. Stellen Sie sich vor, Sie würden 2 Millionen Jahre alt werden. Das wäre stinklangweilig.

Technik kann also immer nur ein Hilfsmittel und kein Selbstzweck sein. Für uns Menschen sollte es auch weiterhin technikfreie Räume geben; eben da wo menschliche Zuneigung gebraucht wird. Künstliche Intelligenz kann keine Liebe ersetzen. Sollte das irgendwann passieren, lebten wir in einer Welt glücklicher Idioten. In so einer Gesellschaft will ich nicht leben.

Schauen Sie, ich war mal im hohen Norden, in Kanada bei den Eskimos. Dort gab es einen Gesundheitsdienst bestehend aus Robotern. Aber wissen Sie was? Die hatten menschliche Gesichter, die etwas ausdrückten. Ohne ein Stück suggerierter Menschlichkeit hätte man diese wahrscheinlich gar nicht akzeptiert. Das ist doch Ausdruck des tief in uns wohnenden Wunsches nach Mitmenschlichkeit. Es braucht Tabuzonen für digital: Medizin und Liebe.

Wenn Sie mich als Marktwirtschaftler aber nochmal auf die Sache blicken lassen, dann sage ich Ihnen voraus, dass in digitaler Zukunft Unternehmen mit zwischenmenschlichen Dienstleistungen eine echte Marktlücke darstellen werden.

Generell müssen wir ganz zu Beginn feststellen: Wir können schon mehr als wir dürfen. Die Einstiegsfrage der Digitalisierung muss daher lauten: „Was ist der Mensch; was soll er sein?“

Sie sagten mal „Sozialpolitik ist ein Handwerk, kein Mundwerk“. Meinen Sie, dass die Politik handwerklich gerüstet ist für diese geschilderten Entwicklungen? Kann Politik die durch die Digitalisierung entstehenden oder intensivierten Probleme lösen?

Politik ist nicht alleine in der Lage, diese Probleme zu lösen. Wir brauchen einen großen, gesamtgesellschaftlich organisierten Dialog. Wohl aber muss Politik in dieser Debatte Akzente setzen.

Konkret müssen Antworten gefunden werden, wie wir unsere Sozialsysteme sichern können. Schauen Sie mal in die Vereinigten Staaten. Deren Altersvorsorge ist kapitalgedeckt, weswegen dort auch der Fokus auf die Unternehmensumsätze gelegt wird. Die Schlüsselkategorie unserer Gesellschaft darf aber nie das Geld sein. Darum ist es bei uns in Kontinentaleuropa anders. Hier ist die Altersvorsorge an die Arbeit gekoppelt. Auch deswegen ist es wichtig, nicht leichtfertig die Digitalisierung als Überwindung der Arbeit zu verstehen.

Gleichzeitig lässt sich der klassische Begriff von Arbeit in unserer Zeit nicht mehr halten. Dabei darf man Arbeit nicht nur als die Arbeit von Arbeitnehmern, also als Erwerbsarbeit, begreifen, denn auch Künstler und Ehrenamtliche leisten Arbeit. Wir brauchen ein erweitertes Verständnis des Arbeitsbegriffes. Hierauf muss unser Sozialsystem Antworten liefern.

Antworten muss es aber auch liefern, auf die, entschuldigen Sie bitte den Begriff, asozialen Geschäftspraktiken von Unternehmen wie Amazon, die Scheinselbstständigkeiten fördern, die zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen?

Nein, sagen Sie das ruhig, denn diese Geschäftspraktik beschreibt es ganz gut. Das ist asozial.

Auch hierfür müssen Lösungen gefunden werden. Die Bürgerversicherung löst nicht das strukturelle Problem, wohl aber das der Mitgliedschaft. Sie entlastet uns von der schwierigen Abgrenzungsfrage, wer Arbeitnehmer ist und wer nicht. Das Verhältnis zwischen Beitrag und Leistung wird dadurch nicht verändert. Mehr Beitragszahler, mehr Leistungsempfänger. Natürlich sichern sie erst einmal mehr Menschen ab.

Was wären Maßnahmen? Sie forderten schon 1979 Ihrem Buch „Gewerkschaften zwischen Allmacht und Ohnmacht“ ein staatlich gefördertes Sabbatjahr zu Bildungszwecken. Wie sähe ein solches Modell heutzutage aus und wäre es nicht gerade jetzt zeitgemäß?

Unser Bildungssystem ist noch immer viel zu starr und der Einstieg in das und der Ausstieg aus dem Berufsleben ist viel zu unflexibel. Früher hat ein Bauer, der sich aus dem Betrieb zurückgezogen hat, doch auch nicht gleich komplett aufgehört, sondern hat das Stück für Stück getan. Genau so war es mit den jungen Menschen. Sie wurden Stück für Stück an die Arbeit herangeführt.

Heutzutage ist es doch aber so, dass man im ersten Viertel seines Lebens die Bildung fürs Leben hinter sich hat. Aber das Wissen, das ich vor 60 Jahren erworben habe, hilft mir doch nicht, die Welt von heute zu verstehen. Es ist also wichtiger denn je, dass wir Möglichkeiten schaffen auch mal eine Pause einzulegen, um sich weiterzubilden.

Wer mit 40 Jahren nochmal neu auftanken möchte, dem muss die Möglichkeit hierfür gegeben werden. Wir müssen den Lebens- und Arbeitsrhythmus wieder in Einklang bringen. Niemandem ist geholfen, wenn man am Ende seines Erwerbslebens einfach nur noch eine leblose Hülle ist.

Gerade die Digitalisierung erlaubt diese Individualisierung.

Sie sagten aber auch mal: „Der Prozess der Individualisierung stellt die Solidarität in Frage“.

Das stimmt. Die Digitalisierung schafft natürlich neue und freiere Formen und Wege des Arbeitens, aber natürlich brauchen wir auch Solidarität. Aber eben keine Kolonnensolidarität, die – wie früher – dem Einzelnen vorgab, wie er zu leben hat und was gut für ihn ist. Gleichzeitig brauchen wir aber auch keine Gesellschaft in der die Menschen denken, dass sie ihr ganzes Leben lang so stark sind, dass sie im Leben niemand anderen mehr braucht. Mit solchen Menschen möchte ich auch nichts zu tun haben.

Die Menschen haben alle unterschiedliche Bedürfnisse und Bedingungen. Dem muss Rechnung getragen werden. Da hilft ein Einheitssolidaritätsbegriff gar nichts. Die kleinsten Einheiten, wie zum Beispiel Familien, müssen selbst entscheiden können, was für sie der richtige Weg ist. Dort wo Probleme gelöst werden können, sollten sie auch gelöst werden. Wenn dies nicht mehr möglich ist, braucht es aber auch Unterstützung und Hilfe.

Wir müssen uns also vergegenwärtigen, dass Subsidiarität das wohl modernste Sozialstaatsprinzip ist.

Herr Blüm, Sie sind 82, in zwei Tagen werden sie 83 Jahre alt, und sind Mitglied der CDU. Ich bin 31 Jahre und Mitglied der Grünen. Vielen Ihrer Aussagen kann ich zustimmen. Was hat sich da im Vergleich zu Ihrer aktiven politischen Zeit verändert, wenn sich CDUler und Grüne zustimmen können: Unsere Parteien, das politische System, die gesellschaftlichen Spannungsfelder?

Die Stabilisatoren des alten Parteiensystems haben sich aufgelöst. Früher war ja klar, als IG Metaller wählen Sie die SPD. Genauso wie es klar war, dass ein Katholik die CDU wählen wird. Aber das löst sich immer weiter auf. Nicht zuletzt habt dazu auch ihr Grünen beigetragen.

Bei der CDU und der CSU hat lange Zeit das „C“, das Christliche, die ideelle Grundlage gebildet. Die Grundlage bröckelt.

Ich habe die Nachkriegszeit erlebt. Stellen Sie sich doch mal vor, dass in einer Zeit in der die Menschen „hungerten“, als es ihnen wirklich dreckig ging. Sie hatten auch Hunger nach dem Sinn des Lebens. Was waren die Ideen der Menschen in den schlechtesten Zeiten? Sie strebten nach christlichen, friedlichen Werten und begannen, die Sehnsucht nach Europa zu formulieren. Diese Sehnsucht nach Ideen ist uns heute abhanden gekommen und den Parteien ist ihr ideelles Fundament schwächer geworden. Sie sind zu oberflächlich geworden, wodurch auch die Wählerbindung nachlässt. Leider regt wohl erst wieder die Not zum Nachdenken an.

So wie die CSU agiert, so beschädigt man das christliche Fundament und verliert dazu noch die Landtagswahl in Bayern. Denn die Menschen sind doch klüger und besser als manche in der CSU glauben. Die Menschen haben noch ein Mitgefühl und das werden sie sich auch nicht von der CSU in Bayern ausreden lassen.

Eine letzte Frage an den Christen Norbert Blüm: Können wir in diesen Zeiten von Digitalisierung und Migration unsere gemeinsamen, gesellschaftlichen Werte noch erhalten oder müssen wir uns vollends den Regeln des Marktes unterwerfen?

Nein. Wir müssen uns nicht den Regeln des Marktes unterwerfen. Betrachten wir das doch mal anthropologisch: Der Mensch ist das einzige Wesen, das mit Spiegelneuronen ausgestattet ist. Das verleiht uns Empathie. Es ermöglicht uns, uns in andere Menschen hinzuversetzen. Erst das unterscheidet uns von allen anderen Wesen. Das macht uns einzigartig. Also müssen wir das auch tun.

Wir Politiker müssen das auch tun und dann klar sagen, was ist. Da abstrakt drum herum zu reden führt dazu, das uns die Menschen nicht verstehen. Wir müssen klar sagen wie die Lage ist und auch Fragen stellen.

Fragen Sie doch mal: Wenn 5 deiner Kinder am Sterben sind, weil sie nichts zu essen haben, in deinem Land. Was würdest du denn machen? Würdest du dich nicht auch auf den Weg machen? Lasst uns doch endlich in die anderen hereinversetzen, unsere Werte hochhalten und uns unsere Mitmenschlichkeit zeigen.

Und dann muss man den Leuten auch sagen: Vergesst unsere Werte nicht. Liebe, Vertrauen, Freude. Seid zufrieden, liebe Leut!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Krabbes

Blogger & Speaker zu Digitalisierung & Demokratie.twitter: @stefankrabbes

Stefan Krabbes

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