Zu den Standardphrasen des politischen Smalltalks gehört die Formulierung, dass Parteiprogramme „sowieso niemand liest“. Das ist bedauerlich für die Menschen, die sich Nächte um die Ohren schlagen, um zu beschließen, dass ihre Partei nicht etwa „jeden Tag Verantwortung für unser Land“ übernimmt, sondern für „Deutschland“. So geschehen in der Antragskommission der CDU für den Parteitag in dieser Woche, der das neue Grundsatzprogramm verabschiedete.
Die CDU führt in allen Umfragen, mit Abstand
Auch die vom Kreisverband Ammerland aufgeworfene Frage, ob die CDU „die Volkspartei der Mitte“ oder nicht doch „die einzige Volkspartei der Mitte“ sei, muss das deutsche Wahlvolk nur begrenzt bewegen.
„die einzige Volkspartei der Mitte“ sei, muss das deutsche Wahlvolk nur begrenzt bewegen. Allerdings, und ganz im Ernst: Ein Parteiprogramm kann eine Menge aussagen über das Gesellschaftsbild einer Partei und über die großen politischen Linien, die sonst viel zu oft hinter hektischen Debatten über Wahlkämpfe, Koalitionen und Personalien verschwinden. Und wenn es um die CDU geht, die alle bundesweiten Umfragen mit Abstand anführt, spiegeln sich hier womöglich Entwicklungen über Parteigrenzen hinweg.Tatsächlich lässt sich das neue Programm wie das Manifest jenes neuen Konservatismus lesen, der drauf und dran ist, die Vorherrschaft im politischen Diskurs zurückzugewinnen – gegen die Forderungen nach einer sozial-ökologischen Transformation des Wirtschaftssystems, gegen den Ruf nach mehr Verteilungsgerechtigkeit, gegen ein liberales Rechtsstaatsverständnis, gegen den Gedanken der Prävention in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit.In relativ moderner, zugänglicher Sprache, aber in der Sache schonungslos, skizziert die Christdemokratie ein Land, das – kurz zusammengefasst – seine vermeintliche Stabilität nicht aus der notwendigen Veränderung bezieht, sondern aus drei Kernelementen: innere und äußere Sicherheit durch einen – polizeilich und militärisch – starken Staat; wirtschaftliche Prosperität durch einen möglichst wenig steuernden, also schwachen Staat; offene Grenzen für Waren und Kapital einerseits, nationale/europäische Abschottung gegen Geflüchtete andererseits, verbunden mit antiislamischen Tönen und der Verpflichtung der Gesellschaft auf eine vage definierte „Leitkultur“.In „Leitkultur“ eingemauerter NationalstaatErwartbar ist, dass die CDU in der Wirtschaft vor allem auf „konsequenten Bürokratieabbau, weniger Regulierung und niedrige Steuern … zur Sicherung unseres Industriestandorts“ setzt. Erwartbar ist auch, dass der Klimaschutz diesen marktliberalen Prinzipien allenfalls gleichwertig, aber nicht übergeordnet gegenübersteht. Aber eine zentrale Frage an den neuen Konservatismus lautet, wie er die dadurch verursachten und durch multiple Krisen verstärkten Konflikte in der Gesellschaft zu bearbeiten gedenkt. Wer die Antworten darauf liest, stellt fest, dass die viel zitierten „Brandmauern“ einer Annäherung nach ganz rechts nicht mehr im Wege stehen: Den Auflösungserscheinungen des sozialen Zusammenhalts begegnet auch die CDU des Friedrich Merz mit einer Mischung aus Feindbildpflege und Repression.Im Kapitel „Wo wir hinwollen“ steht die (innere) Sicherheit nicht zufällig am Anfang. Da ist von Härte zu lesen, von Strafen, die „der Tat auf dem Fuße folgen“ müssen, von mehr Polizei auf den Straßen und von Gesetzesverschärfungen, aber von Prävention im Sinne von Ursachenbekämpfung so gut wie nichts. Nicht fehlen dürfen auch Parolen wie „Opferschutz geht vor Täterschutz“ (was ist das eigentlich, Täterschutz, und wer betreibt ihn?) oder „Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden“, die altbekannte Chiffre für mehr Überwachungsstaat. So viel zum repressiven Sicherheitskonzept.In Sachen „Feindbildpflege“ gibt es einerseits die Rückkehr zur Geringschätzung arbeitsloser Menschen, die wie Unmündige oder Faule „gefördert und gefordert“ werden müssen. Eine noch größere Rolle aber spielt hier der skrupellose Umgang mit dem Islam.Koalitionen mit der AfD?Der Programmentwurf enthielt nicht nur die nach kurzem Streit verschlimmbesserten Passagen zur Frage, wer „zu Deutschland gehört“ und wer nicht. Aufschlussreich ist auch, was sich die Antragskommission im Abschnitt „Wehrhafte Demokratie“ ausgedacht hatte. Zum Beispiel diesen Satz: „Wir dulden nicht, dass Frauen im Namen der Religion entrechtet oder benachteiligt werden.“ Sehr schön! Dumm nur, dass ein Ähnliches in Bezug auf andere Religionen, zum Beispiel die katholische Kirche, im Programm fehlt. Wahrscheinlich hat die CDU dort keine Hinweise auf die Benachteiligung von Frauen gefunden. Vielleicht, weil diese Religionsgemeinschaft zur „Leitkultur“ gehört?Abschottung gegen Geflüchtete, Asylverfahren jenseits der EU-Grenzen inklusive, rundet das Bild des ökonomisch globalisierten, aber gesellschaftlich in die „Leitkultur“ eingemauerten Nationalstaats ab. Gut möglich, dass die CDU vorerst nicht auf Koalitionen mit der AfD setzt, schon wegen des entgegengesetzten Verhältnisses zu Russland und seinem Angriffskrieg. Aber abgesehen davon gilt: Lesen lohnt sich. Denn die neuen CDU-Grundsätze lassen erahnen, wie es aussehen könnte, wenn Deutschland sich dem Vormarsch des rechten Nationalkonservatismus in Europa und der Welt anschließt.