Julian Assange: Nagelprobe einer menschenrechtsorientierten Außenpolitik

Meinung Julian Assange sitzt immer noch in London in einem Hochsicherheitsgefängnis. In den USA drohen dem Wikileaks-Gründer bis zu 175 Jahre Gefängnis. Wo bleibt der laute Protest der grünen deutschen Außenministerin?
Ausgabe 17/2022
Protest vor den Königlichen Gerichtshöfen in London: Im Berufungsgericht wurde der Fall Assange verhandelt (Archivbild)
Protest vor den Königlichen Gerichtshöfen in London: Im Berufungsgericht wurde der Fall Assange verhandelt (Archivbild)

Foto: Chris J Ratcliffe/Getty Images

Vor knapp einem Jahr wurde US-Präsident Joe Biden nach Alexej Nawalny gefragt, dem inhaftierten Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin: Was würde es für die Beziehungen zwischen Washington und Moskau bedeuten, wenn Nawalny in russischer Haft stirbt? Bidens Antwort: „Nawalnys Tod wäre ein weiterer Hinweis, dass Russland wenig oder keine Absicht hat, sich an grundlegende Menschenrechte zu halten.“ Richtig so, schließlich hat Nawalny nichts anderes „verbrochen“, als vermutlich kriminelle Praktiken in der Herrschaftselite seines Landes aufzudecken.

Die Frage lässt sich allerdings variieren: Was würde es eigentlich bedeuten, wenn Julian Assange in britischer oder US-amerikanischer Haft stirbt? Dass die USA keine Absicht haben, sich an grundlegende Menschenrechte zu halten – diese Antwort läge auf der Hand.

Julian Assange, der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, ist seit fast zehn Jahren eingesperrt: zunächst in der ecuadorianischen Botschaft in London, wohin er sich geflüchtet hatte, jetzt seit drei Jahren in einem britischen Hochsicherheitsknast. Sollte Innenministerin Priti Patel dem jüngsten Gerichtsurteil folgen und Assange an die USA ausliefern, drohen ihm bekanntlich bis zu 175 Jahre Haft. Sein „Vergehen“: Enthüllungen über mögliche Kriegsverbrechen der USA.

Der Fall des Australiers ist – wie der Fall Nawalny – natürlich auch dann ein himmelschreiender Skandal, wenn er ihn überleben sollte. Wenn die Befürchtung nicht wahr wird, dass Assange in den Suizid getrieben wird von Haftbedingungen, die der ehemalige UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer als „psychische Folter“ bezeichnet hat. Wenn es für ihn irgendwie selbst nach einem Urteil in den USA so etwas wie den „Rest seines Lebens“ gäbe. Was ist daran besser als das Schicksal eines Alexej Nawalny im russischen Arbeitslager?

Fall Julian Assange: Wo bleibt der laute Protest der deutschen Außenministerin?

Es wäre selbstverständlich ein Fehler, die Verhältnisse in den USA mit denjenigen in Russland gleichzusetzen. In der westlichen Großmacht sind Demokratie, Pressefreiheit und Rechtswesen zwar nicht im besten Zustand, aber so systematisch zerstört worden wie in Putins Russland sind sie nicht. Erst recht wären Gleichsetzungen fehl am Platz in dem Moment, in dem der russische Autokrat einen gnadenlosen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland führt.

Zu fragen ist allerdings, wie glaubwürdig Regierungen die „freie Welt“ gegen Russland verteidigen können, wenn sie zugleich das Leben eines unbequemen Journalisten zerstören. Wo bleibt eigentlich der laute Protest der grünen deutschen Außenministerin?

Es gibt, wenn es um Demokratie und Freiheit geht, einen ehernen Grundsatz, oder es sollte ihn jedenfalls geben: Wenn wir nicht selbst praktizieren, was wir verteidigen wollen, verliert unser Tun – auch der Widerstand gegen Putins Aggression – irgendwann seine zentrale Legitimation. Das macht, abgesehen vom humanitären Skandal seiner Behandlung, den Fall Assange zur Nagelprobe einer „menschenrechtsorientierten Außenpolitik“.

Hinzu kommt: Auch in West- und Mitteleuropa breitet sich eine politische Erzählung aus, die individuelle und kollektive Freiheitsrechte zur Bedrohung stilisiert, nicht zuletzt auch freie Medien. Das EU-Partnerland Ungarn, wo Regierungschef Viktor Orban die Medien systematisch unter Kontrolle gebracht hat, ist nicht das einzige Beispiel.

Wer sich diesen Entwicklungen glaubwürdig entgegenstellen will, muss sich überall für die Freiheit engagieren. Der Fall Assange wäre ein guter Anlass zu beweisen, dass es im „freien Westen“ keine doppelten Standards gibt.

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