Sozialdemokratie Die SPD jubelt fröhlich ihrem Kanzler Olaf Scholz zu – und dann lauthals dessen größtem Kritiker, Juso-Chef Philipp Türmer. Diese Widersprüchlichkeit wird den rechtsautoritären Aufschwung kaum bremsen
Gerade fand in Berlin eine Aufführung statt, auf die sich die Hauptdarstellerinnen und -darsteller intensiv vorbereitet hatten. Inoffizieller Titel: Olaf Scholz, der Sozialdemokrat – eine Enthüllung. Das Publikum applaudierte begeistert, was nicht verwundert: Es bestand aus Parteitagsdelegierten, war also genau genommen selbst Teil der Inszenierung.
Der offizielle Titel der Veranstaltung lautete „Deutschland. Besser. Gerecht. Unser Parteitag 2023“, und damit klar ist, wer alles mit „unser“ gemeint ist, zeigt das Foto zum Motto auf der SPD-Homepage Olaf Scholz in lächelnder Umarmung mit den Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil. Fast glaubte man im Hintergrund die Geigen zu hören, als Esken dem Kanzler zurief: „Jeder spürt,
ürt, dass du hier zu Hause bist.“ Ob die Reste des linken Parteiflügels das genauso sahen, ist nicht überliefert.Wer die traurige Lage der deutschen Sozialdemokratie vor Augen hat, wird ein gewisses Verständnis für den Versuch der Partei aufbringen, sich selbst und den irrlichternden Kanzler stark zu reden und zu klatschen. Das heißt aber nicht, dass die Inszenierung auch wirkt. Wahrscheinlich auf Dauer nicht einmal innerhalb der SPD, aber ganz sicher nicht in der breiten Öffentlichkeit. Und das hat vor allem einen Grund: Zu groß ist der Abstand zur wirklichen Welt, ob innerhalb oder außerhalb der Partei, um sich mit Aufbruch-Rhetorik und inszenierter Geschlossenheit überbrücken zu lassen.Die politische Wirklichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Sozialdemokratie lässt sich am besten mit dem Wort „Defensive“ beschreiben, unter zwei Aspekten: Der eine ist eher der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung geschuldet, für den anderen ist die SPD selbst verantwortlich.Erstens: Zählt man die SPD mit sehr viel Wohlwollen zu den treibenden Kräften einer sozial-ökologischen Transformation, dann ist nicht zu übersehen, dass sich dieses Lager insgesamt in der Defensive befindet, und zwar einerseits wegen der Weltlage insgesamt und andererseits wegen des erschreckenden Vormarsches reaktionärer Kräfte auf nationaler wie internationaler Ebene. Das hat sicher damit zu tun, dass gerade sozialdemokratische Parteien in Europa, die deutsche eingeschlossen, rund um die Jahrtausendwende der Anpassung an den voranschreitenden Neoliberalismus den Vorzug vor dem Kampf um Alternativen gegeben haben. Aber ihnen allein ist der Aufstieg rechter Scheinalternativen zum neoliberalen Modell sicher nicht anzulasten.Womit wir beim zweiten Aspekt sozialdemokratischer Defensive wären: Gerade die deutsche SPD hat aus dem Versagen vergangener Jahrzehnte allenfalls sehr begrenzt gelernt. Sie steckt nicht nur objektiv in der Defensive, sie handelt auch selbst viel zu defensiv. Mit anderen Worten: Sie ist alles andere als entschieden, sich den Anspruch der sozialökologischen Transformation wirklich zu eigen zu machen.Haushalts-Urteil mit AnsageNiemand bestreitet, dass das schwierig wäre in Zeiten wie diesen. Es ist ja nicht aus der Luft gegriffen, wenn Scholz immer wieder auf die akuten Krisen hinweist, derer sich seine Bundesregierung zu erwehren hat: Pandemiefolgen, Ukraine-Krieg, Machtverschiebungen in der globalen Ökonomie und anderes mehr. Wo es darum ging, die Auswirkungen derart großer Krisen schnell abzufedern, berufen sich die SPD und die Ampelkoalition zumindest teilweise zu Recht auf ihre Reaktionsfähigkeit und Entschlossenheit – auch wenn ihr rasches Handeln an vielen Stellen einen hohen, zu hohen Preis kosten dürfte: siehe zum Beispiel die Maßlosigkeit beim Bau der Flüssiggas-Terminals, siehe die langfristigen Gasverträge mit dem Regime in Katar und anderes mehr.In diesen Zusammenhang gehört auch die bisher größte Pleite der Ampelregierung: das vernichtende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Haushaltsführung. Es lässt sich sicher darüber diskutieren, ob das Gericht die entsprechenden Passagen im Grundgesetz nicht allzu eng ausgelegt hat, und die politischen Ziele der Unionsparteien, die das Urteil erwirkt haben, laufen faktisch auf die Politik der Staatsverarmung und des Sozialabbaus hinaus. Dennoch hat die Ampel sich die Schlappe großenteils selbst zuzuschreiben: Da auf Druck der FDP jede Einnahmeverbesserung ausgeschlossen bleibt (zum Beispiel die jetzt wieder von der SPD geforderte Solidaritätsabgabe auf große Vermögen), blieb praktisch nichts anderes übrig, als Ausgaben in Fonds und Sondervermögen zu verschieben beziehungsweise mit dem Instrument der Notlage zu jonglieren. Was also tut die SPD in dieser Situation?Am Samstagvormittag jubeln die Delegierten einem Satz des Bundeskanzlers zu, der dann ganz ähnlich auch in einem der Parteitagsbeschlüsse steht: „Es wird in einer solchen Situation keinen Abbau des Sozialstaats in Deutschland geben.“ Am Montagabend aber, mitten in den noch laufenden Etatverhandlungen, stimmt der Vorsitzende Lars Klingbeil im ZDF die Öffentlichkeit auf etwas ganz anderes ein: „Wir wissen, dass wir als SPD unseren Beitrag leisten müssen. Also auch Dinge, die für uns wichtig sind.“ Und weiter: „Natürlich müssen Sparleistungen bei allen erbracht werden.“ Längst kursiert zu diesem Zeitpunkt die Information, dass zum Beispiel Zusagen für die Beratung der Opfer rechtsextremer und/oder antisemitischer Gewalt akut auf der Kippe stehen.Wer die Parteitagsbeschlüsse liest, findet unter anderem eine durch Umverteilung von Reichtum zu finanzierende Bildungsoffensive oder eine Absage an die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form. Es klingt fast, als wolle die SPD programmatisch den Anspruch der Reformpartei wenigstens in Teilen erfüllen. Aber das geht in der politischen Praxis fast unter. Nicht nur, weil die Zusammensetzung der Ampelkoalition immer wieder Zugeständnisse an die Beharrungskräfte des fossilen Kapitalismus angeblich erzwingt. Sondern deshalb, weil vor allem Olaf Scholz dieses unmögliche Bündnis in sich selbst personifiziert: An vielen Stellen will er offensichtlich nicht viel mehr, als im Rahmen der Ampelkoalition möglich ist. Da mag seine Partei noch so schöne Beschlüsse zu Reichensteuern und Vermögensabgaben fassen – am Ende kommt der Kanzler der FDP offensichtlich nur allzu gern entgegen, die all das ausschließt, als verfügte sie über ein natürliches Vetorecht. Anders gesagt: als bestimmte sie die Richtlinien der Politik.Widersprüche in der SPDGenau das wäre allerdings nach Artikel 65 Grundgesetz die Aufgabe des Bundeskanzlers. Beim SPD-Parteitag war es Juso-Chef Philipp Türmer, der darauf anspielte. Er erinnerte an das Scholz-Wort von der Führung, die bekomme, wer sie bei ihm bestelle, und fügte hinzu: „Hiermit bestelle ich sie.“ Statt den „Moderator der Macht“ zu geben, müsse der Kanzler in die Offensive gehen, auch in Konfrontation mit der FDP: „Wer aus der Defensive will, muss Angriff spielen.“Nichts illustriert die Widersprüche der defensiven SPD so sehr wie die Tatsache, dass Türmer für seine treffende Fundamentalkritik an Scholz fast genauso bejubelt wurde wie der Kanzler für seine Rede, beziehungsweise umgekehrt der Kanzler ebenso wie Türmer. Es ist allerdings eine erstaunlich breit akzeptierte Widersprüchlichkeit: Wenn der Kanzler den Sozialdemokraten mimt, tut er halt etwas für „die Seele“ oder „die DNA“ der Partei (der Korrespondent des Deutschlandfunks erwähnte gleich beides in einem Atemzug). Wenn der Kanzler dann so regiert, wie es der Klientelpartei des Neoliberalismus passt, ist das halt „die Realität“ – ein wahrhaft begrenzter Begriff von Wirklichkeit.Das Problem: Da kaum jemandem verborgen bleibt, wie gering die Halbwertszeit von Parteitagsbekenntnissen ist, nimmt sie außer den jubelnden Delegierten kaum jemand ernst. Das ist nicht nur zum Schaden der SPD, wie sich an den Umfragewerten leicht ablesen lässt. Es ist, viel schlimmer, auch zum Schaden der Glaubwürdigkeit des politischen Systems.Wenn die Haltbarkeit sozialstaatlicher Versprechungen im Rekordtempo an angeblichen Kompromisszwängen zerschellt, ohne dass ein Regierungschef sich wenigstens in Richtlinienkompetenz versucht, dann mögen große Teile der politisch-medialen Insiderschaft das achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Aber sie sollten sich nicht wundern, wenn rechts-autoritäre Scheinalternativen an Zuspruch gewinnen – so unverzeihlich es auch ist, dass so viele Menschen ihre mögliche Enttäuschung über die Etablierten in Zustimmung für die verlogenen Versprechungen von rechts verwandeln.Wenn nicht mal klar erscheint, wo der wichtigste Politiker des Landes zu Hause ist, haben es die Propagandisten rechter Irrwege besonders leicht.
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