In meinem Viertel lastet der Süßes-oder-Saures-Brauch zu Halloween auf den Schultern von zwei, drei Schlüsselfiguren. Ich fürchte, ich bin eine von ihnen. Unterstützt werden wir vom lokalen Einzelhandel und der Gastronomie, die auch einige Fässer Süßigkeiten bereithalten.
Doch dieses Jahr fällt Halloween auf einen Sonntag. Das bedeutet: Der Einzelhandel ist komplett raus, die Gastronomie und ich sind auf uns allein gestellt. Und das in einer sowieso schon zugespitzten Situation: Weil letztes Jahr der Coronagrusel den Süßigkeiten-Erpressern einen deutlichen Dämpfer gegeben hat, sind Nachholeffekte zu befürchten. Wir, die letzten Stützen dieses Brauches, müssen uns dafür rüsten. Das bereits erwachsene Kind muss sein Zimmer vorübergehend räumen, damit wir dort die Süßigkeiten stapeln können.
Denn es wird wie immer sein: Sobald sich herumspricht, dass wir eine der drei letzten privaten Süßigkeitenausgabestellen im gesamten Viertel sind, erklimmen die Kinder in Scharen unser viertes Stockwerk. Die Herunterkommenden werden von den Heraufkommenden gefilzt, um zu erkennen, ob sich denn der Aufstieg auch lohnt.
Ja, er lohnt, aber dann: Große Entrüstung, die anderen hatten bessere Riegel abgegriffen. „Kannst du mal gucken, ob wir noch einen Schoko-Mix-Nuss-Amaranth-Riegel dahaben?“, schreie ich nach hinten ins Halloween-Lager. „Mit oder ohne Gluten?“, tönt es zurück. Fragend schaue ich das als Kind verkleidete Kind an (wahrscheinlich für Leute kostümiert, die vor Kindern Angst haben). „Egal“, frohlockt es leise. „Is’ egal“, brülle ich nach hinten.“ Doch, o weh!: „Gar keine mehr da!“, heißt es jetzt. „Tut mir leid, alle alle.“ – „Total unfair“, schlägt es mir entgegen. Hmpf!
„Vielleicht wirfst du mir nächstes Jahr einen Bestellzettel in den Briefkasten, damit das besser klappt“, schlage ich beleidigt vor. Die erwachsene Begleitperson, die eine halbe Treppe tiefer in ihr Handy tippt, schüttelt missbilligend den Kopf. Klar war das fies. Aber liebe Halloween-Eltern, bitte denkt auch an die Situation derjenigen, die diesen Spaß am Laufen halten. Wenn bekannt wird, dass ich hier ohne Ende leckere Süßigkeiten vorrätig habe und total nett bin, dann passt bald keiner mehr ins Treppenhaus.
Überhaupt geht es so einfach nicht weiter: In kinderreichen Vierteln schafft die Halloween-Struktur ein soziales Ungleichgewicht. Die Arbeitsverdichtung für Halloween-Süßigkeitenausgeber ist extrem. Denn ist ja klar: Je mehr halloweenekstatische Familien um die Häuser ziehen, umso weniger Leute sind in diesen Häusern noch drin. Und die darin Verbliebenen ächzen unter Überbelastung, bekommen Burn-out, flüchten zu Halloween. Hab ich auch schon gemacht.
Bedenkt, was passiert, wenn sich euren Kindern keine Tür mehr öffnet. Denkt an die traurigen Zombie-, Feen-, Hirnchirurgen- und Prinzessinnenaugen, die euch dann anschauen werden. Aber, hier kommt Rettung. Ich habe eine Reformidee, die Halloween auch für die Halloween-Leistungsträger attraktiver machen wird. So attraktiv, dass eure Kinder vielleicht sogar schon in jungen Jahren selbst Leistungsträger werden wollen. Es ist ganz einfach. Ihr bringt mir Süßigkeiten mit. Geschenke, damit ich euch nicht verwünsche, zum Teufel jage, euch mit Konfetti bewerfe, mit Marmelade einschmiere oder mit Klopapier umwickle. Damit das Ganze spannend bleibt, wird es per Schnick, Schnack, Schnuck entschieden. Der Gewinner kriegt Süßigkeiten, der Verlierer muss abgeben.
Das wäre fair, das wäre eine gesunde Struktur, die dauerhaft Begeisterung bei allen Beteiligten erhalten kann. Ich glaube, ich beginne schon dieses Jahr damit. Also überlegt gut: Wollt ihr bei mir läuten oder nicht?
Kommentare 17
Früher waren Allerheiligen, Allerseelen mit dem Gedenken an die verstorbenen verbunden, es war aber auch immer ein Treffen mit den lebenden Verwandten und damit ein familiäres Fest. Man mag das als katholischen Unfug und heidnischen Humbug abtun, aber es hatte eine soziale und kulturelle Komponente. Die irisch-katholische Variante dieser Gedenktage wurde in den USA zu einer rein kommerziellen Angelegenheit und wurde aus eben diesen kommerzielen Gründen dann in der BRD übernommen.
Aber es steht ja schon im kommunistischen Manifest, daß die kapitalistische Produktionsweise alle kulturellen Gepflogenheiten hinwegwischen wird um des Profites willen.
Amerikanische Kultur für immer und ewig auch wenn Sie bescheuert ist. Faszinierend, was Filme anrichten können.
„Es ist ganz einfach. Ihr bringt mir Süßigkeiten mit. Geschenke, damit ich euch nicht verwünsche, zum Teufel jage, euch mit Konfetti bewerfe, mit Marmelade einschmiere oder mit Klopapier umwickle. Damit das Ganze spannend bleibt, wird es per Schnick, Schnack, Schnuck entschieden. Der Gewinner kriegt Süßigkeiten, der Verlierer muss abgeben.“
Gute Idee, die sicherlich zur Entlastung der Halloween-Leistungsträgerinnen beitragen könnte – sie hat nur einen Haken: zu analog.
Es müsste also eine Schnick-Schnack-Schnuck-App her, um der Lösung zum Durchbruch zu verhelfen.
Das lag am Golfkrieg und dem davon betroffenen Karneval (Ausfall), ich zitiere mal die SZ:
„Kurioserweise ist der Golf-Krieg 1900/91 dafür [den Halloweenwahn] verantwortlich. Nicht etwa aus Solidarität mit den USA, die damals unter Präsident Bush senior zum ersten Mal gegen den Irak ins Feld zogen, sondern aus vornehmlich ökonomischen Gründen fasste der Brauch danach bei uns Fuß. Die Fachgruppe Karneval im Verband der deutschen Spielwarenindustrie rühmt sich, dazu wesentlich beigetragen zu haben. Zu Recht. Denn in vielen Städten wurden seinerzeit aus Pietätsgründen die Karnevalsumzüge abgesagt, die Kostüm-Firmen blieben auf ihrer Ware sitzen und suchten nach Ersatz. Durch geschickte Medienarbeit machten sie deshalb Halloween populär - mit nachhaltigem Erfolg.“
Und was die in der Kolumne angesprochenen Halloween-Leistungsträgerinnen schon 2007 zu stemmen hatten, lässt sich den folgenden Sätzen entnehmen:
„Andere Branchen wie die Süßwarenindustrie sprangen gerne auf, auch immer mehr andere Firmen drucken im Herbst Kürbisse oder Hexen auf ihre Waren. Fachleute schätzen den Umsatz mit Halloween-Artikeln inzwischen bereits auf über 150 Millionen Euro pro Jahr – ein hübsches Beispiel für kreativen Kapitalismus.“
https://www.zeit.de/online/2007/45/halloween
Bestätigt so auch den letzten Satz („aber es steht ja schon…“) des Kommentars.
„Kannst du mal gucken, ob wir noch einen Schoko-Mix-Nuss-Amaranth-Riegel dahaben?“
Haha. Aber darf es in Zeiten woker Helikopter-Eltern Regime überhaupt noch Süßes sein?
Bei mir gibt's auch nichts. Süßes habe ich zum gesundheitlichen Selbstschutz nicht mehr im Haus.
Ich habe heute sehr bedauert, dass ich nicht an Bevorratung gedacht habe. Bei mir haben so viele nette junge Eltern mit ihren Kindern geklopft und geklingelt, dass mir das richtig Freude gemacht hat. Als ich nichts mehr hatte, habe ich die Kostümierung belobigt und die Eltern zwinkerten mir freundlich zu.
Ob das nun Amerikanisierung ist oder nicht. Ich habe mich gefreut.
Heute war vor allem erstmal in vielen östlichen Ländern Reformationstag. Und der Toten wird später gedacht hier in Berlin. Ende November ist Totensonntag oder Ewigkeitssonntag.
Als überzeugter Antinatalist habe ich das aggressive Klingeln der Blagen natürlich souverän ignoriert. Präparieren muss man sich natürlich: Wohnung rechtzeitig abdunkeln (damit Türspalt und -spion nicht zuviel preisgeben!) und Sportschau mit Kopfhörer konsumieren.
Und schon hat man seine Ruhe.
Ob in Berlin, tief im Westen oder im Zentrum:
Damit hier keine Pferdeäppel mit Glühbirnen verglichen werden der kurze Hinweis
° 31. Oktober ist Reformationstag, wahlweise auch Halloween,
° 01. November Allerheiligen.
Ich sehe da keinen erwähnenswerten Widerspruch.
Feiern kann ein Jeder, wie er es möchte: die Protestanten so, dass es keinen Spass macht, die Anderen mit Spass.
Auch US-Amerikaner dürfen sich freuen - oder Freude verbreiten. Besser mit 'kulinarischen' Cross-over-Spezialitäten als mit Agent orange.
Das geht aber auch anders.
Ich habe präventiv Nachbarskindern bereits Tage zuvor gesagt, natürlich dürften Sie klingeln. Sie sollten aber nicht vergessen, dass ich als zweiarmiger Bandit in zahlreichen Eastern und Western mitgespielt hätte.
Bei mir blieb es - leider - mucksmäuschenstill. Meine beiden Wasserpistolen dienen jetzt erst mal der Kultivierung der Zimmerpflanzen.
>>Feiern kann ein Jeder, wie er es möchte: die Protestanten so, dass es keinen Spass macht, die Anderen mit Spass.<<
Im Prinzip ist dagegen wenig einzuwenden. Es gibt in vielen Ländern, darunter auch in der Bundesrepublik, an bestimmten Tagen etwa das Tanzverbot. An Karfreitag oder am Volkstrauertag geht nix mehr. In Bayern wird dieses Verbot noch durch ein Musikverbot auf Räume ausgedehnt, in denen Trinkbares ausgegeben wird. Das deutsche Verständnis für Feiern ist halt oft mit Lautstärke und persönlichem Kontrollverlust verbunden. Nicht selten artet dieses Feiergebaren in eine Zumutung für Nichtfeiernde.
Jeder, der schon einmal en passant den guten alten Hegelschen Dreisatz These-Antithese-Synthese aufgeschnappt hat, bekommt eine Ahnung davon, wie schwierig es ist, das richtige Maß der Dinge zu finden. Darum ging/ geht es mir hier.
Manchmal kann ich der Versuchung einfach nicht widerstehen. Hier der Versuchung, den Hardcore-Protestanten einen mitzugeben. Pavlov lässt grüßen.
Ich habe nichts gegen persönlichen Kontrollverlust - so lange er persönlich bleibt. Wobei wir wieder schnell bei einem zentralen Thema wären: den Grenzen zwischen privat und öffentlich.
Der olle Leibniz soll mal gesagt haben, das Leben sei eine Kette mehr oder weniger organisierter Entgleisungen. Bei dem Einen mehr, bei der Anderen weniger.
°.°
@ rüdiger grothues!
"... nur einen Haken: zu analog."
Können Sie mir und dem Rest der Welt erläutern, was um alles in der Welt die angeblich gut Idee mit "analog" zu tun haben soll? Analog zu was??
Außerdem in ist die einzig wirklich gute Idee: Gar nicht erst aufmachen. Klingeln etc. Ignorieren!
Die einzig gute Idee ist: Einfach nicht aufmachen, Klingeln, Gesinge (und manchmal Gedrohe!!) ignorieren!
>>"... nur einen Haken: zu analog."
Können Sie mir und dem Rest der Welt erläutern, was um alles in der Welt die angeblich gut Idee mit "analog" zu tun haben soll? Analog zu was??<<
Analog ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als alles, was nicht digital ist, also in der Welt der Computer (Rechner, Laptop, Tablet, zunehmend bis fast nur noch: SMARTPHONE) stattfindet. Ein großer Teil vom "Rest der Welt" dürfte das auch so verstanden haben, denke ich.
Im Grunde ist schon das Spielen eines elektronischen Musikinstruments "analog", erst recht aber das Spielen von "Schnick Schnack Schnuck" mit den Händen (ohne dass darin ein Smartphone liegt).
Nein, Rüdiger Grothues, das Spielen von Schnick Schnack Schnuck mit den Händen ist GANZ REAL, hat mit analog nichts zu tun. Analog ist immer analog zu etwas anderem. Hartz IV funktioniert analog zur Grundsicherung, die Kurven der Rillen auf der Vinylplatte verlaufen analog zu den Schwingungen der Luft beim Schalle der Musik!
Alles richtig.
Ich schrieb aber: " Analog ist in diesem Zusammenhang (IN DIESEM ZUSAMMENHANG) zu verstehen als ..."
Alles für die Genauigkeit der/in der Sprache, aber hier geht es um ein politisches Phänomen (letztlich die tendenzielle Übernahme durch "das Digitale") und den damit einhergehenden Sprachgebrauch.
Und es geht hier auch um eine GLOSSE (auf die vielleicht auch so eingegangen werden kann).