Entführt Russland Kinder aus der Ukraine? Das ist die Geschichte des 16-jährigen David
Krieg Russland wird die gewaltsame Deportation ukrainischer Kinder vorgeworfen. Beim 16-jährigen David lagen die Dinge etwas anders. Wie er von Mariupol in ein Kinderheim im Westen Russlands kam – und wieder zurück nach Mariupol
Am 4. April vergangenen Jahres, als Blockaden seine Stadt rundherum abschnitten, bestieg der 16-jährige David in Mariupol einen Bus nach Russland. Er erzählt, er habe den russischen Soldaten genau das gesagt, was sie seiner Meinung nach hören wollten: „Ich habe mit dem Kopf genickt und gesagt: ,Ja, ja, ich will nach Russland'“, so David. „Es gab keine Möglichkeit, in die Ukraine zu gelangen. Also dachte ich, ich würde nach Russland gehen und dann über Belarus schnell wieder ausreisen.“
Doch als der Bus an seinem Ziel angekommen war, in einer Stadt im Westen Russlands, schickten die Behörden vor Ort David weiter in ein Kinderheim, weil er jünger als 18 war. Dort müsse er bleiben, bis er volljährig sei, hieß es. Se
23; es. Seinen Pass nahmen sie ihm ab.David lebte acht Monate lang in diesem russischen Kinderheim und konnte von dort nur dank des Einsatzes seiner ehemaligen Jugendclubleiter, die am zweiten Tag des Krieges nach Kiew evakuiert worden waren, und eines geheimen Netzwerks russischer Freiwilliger, die im Verborgenen arbeiteten, um deportierten Ukrainern bei der Ausreise aus Russland zu helfen, entkommen.Aus ukrainischen Waisenhäusern verschleppt?David, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist eines von Tausenden ukrainischen Kindern, von denen man annimmt, dass sie deportiert und ohne Begleitung nach Russland geschickt worden sind. In der Ukraine wird vielfach angenommen, dass – anders als bei David – die meisten Kinder aus ukrainischen Waisenhäusern verschleppt worden sind – wohin, das ist nicht bekannt. Nach offiziellen Angaben Russlands sind mindestens 400 aus der Ukraine entführte Kinder von russischen Familien adoptiert worden. Die Ukraine spricht in Bezug auf dieses Vorgehen sogar von „Völkermord“, schließlich würden Kinder einer Nation gewaltsam in eine andere Nation gebracht.David ist ein musikalisch begabter Teenager, dessen Stimme vier Oktaven erreichen kann. Seine eigene Mutter habe das nicht bemerkt, sagt er, aber andere erkannten sein Talent. Er wurde der einzige Chorknabe, der dafür bezahlt wurde, in der Kirche von Mariupol zu singen.Vor der Invasion war David aus der Wohnung seiner Mutter in Mariupol ausgezogen, schlief bei verschiedenen Freunden auf dem Sofa. Sein ganzes Leben lang hat seine Mutter stark getrunken, sagt David. Der Kauf von Alkohol hatte für sie stets Vorrang vor anderen Dingen.Bei einer pro-ukrainischen DemonstrationZwei Tage vor der Invasion war David mit seinen Freunden aus einer großen LGBTQ-Jugendgruppe in Mariupol auf eine pro-ukrainische Demonstration gegangen. Er habe den Leuten die ukrainische Nationalhymne vorgesungen, zwar nicht besonders gut, aber „das spielt keine Rolle, wichtig ist, dass ich sie gesungen habe“. Drei Tage nach der Invasion sang er die Nationalhymne erneut auf dem zentralen Platz Mariupols. Die Russen standen da bereits auf der östlichen Uferseite des Kalmius-Flusses in der Stadt.„Nach dem 1. März gab es keinen Strom und kein Internet, und ich sah ein, dass es vorbei war“, sagte David. „Die Stadt war bereits geteilt. Die Menschen am linken Ufer hatten Tage, wenn nicht Stunden Zeit, um die Stadt zu verlassen. Ich lebte am rechten Ufer.“David war in der Nacht vor der Invasion bei seiner Großmutter untergekommen. Er blieb bis zum 8. März bei ihr – dem internationalen Frauentag – und beschloss dann, seine Mutter zu besuchen, da sie auf ihn warten würde. Überall fielen Bomben. Alles war verbarrikadiert. Wie alle anderen in der Nachbarschaft habe er geplündert, um zu überleben, sagt David.Seine Mutter sieht sich als RussinAls er bei seiner Mutter ankam, freute sie sich sehr, ihn zu sehen. Aber sie lebte jetzt mit einem Mann zusammen, den David als einen „kompletten pro-russischen Trottel“ bezeichnet. Es gab zwei Radiosender, einen pro-russischen und einen ukrainischen. Wenn der Freund seiner Mutter wach war, war stets der pro-russische Sender zu hören.„Ich konnte nicht einschlafen“, sagt David. „Ich konnte meine Aggressionen nicht unterdrücken. Ich fragte, warum wir uns das anhören müssten. Verdammter Solowjow“, sagte er und meint damit Wladimir Solowjow, den bekanntesten russischen Propagandisten. David beschreibt, wie sich die Propaganda innerhalb weniger Tage änderte. Zuerst waren alle Ukrainer in Ordnung, sagte er, dann wurden sie alle zu Nazis und mussten getötet werden.Seine Mutter meinte, sie hörten russisches Radio, weil sie dort „die Wahrheit sagten“. David sei „ein Ukrainer“, schimpfte sie, sich selbst sah sie als Russin. Er kehrte zu seiner Großmutter zurück, mit der er sich zuvor über die russische Propaganda verständigt hatte. Auf den Straßen und in den Höfen habe er Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung gesehen.„Aber sie war einfach so müde“, sagt David über den Moment, in dem er seine Großmutter in ihrer Wohnung wiedertraf. Zwei Wochen, nachdem er Mariupol verlassen hatte, verstarb sie.Russische Beamte bieten Evakuierung anNoch in Mariupol hatten die russischen Soldaten inzwischen die Gegend erreicht, in der David sich aufhielt. Sie hielten ihn an, als er singend eine Straße entlangging. Sie zwangen ihn, sich bis auf seine Unterwäsche auszuziehen und sich an einen Zaun zu stellen. „Sie fragten mich ,Hast du irgendwelche Dills gesehen?'“ – ein Slangwort für Ukrainer oder, in diesem Fall, für ukrainische Soldaten.Russische Beamte boten Evakuierungen an – und David beschloss, diese Chance zu ergreifen. Eine junge Frau, neben der er im Bus saß, gab sich als sein Vormund aus, als sie sich den Kontroll- und Filtrationspunkten näherten. In Russland sagte die Frau dann, sie könne sich nicht um David kümmern. Er wurde zu einem Kinderheim gefahren. Den Mitarbeitern dort sagte er, er wolle zurück nach Mariupol. Er versuchte, seine Mutter anzurufen und sie zu überreden, ihn abzuholen. Aber sie weigerte sich.In einem Kinderheim in RusslandWährend dieser Zeit fand David Trost in seiner Musik. Er nahm zwei Alben auf, im Wäscheschrank, mit einem Telefon, das ihm seine ehemaligen Jugendgruppenleiter in Mariupol über eine Kette russischer Freiwilliger geschickt hatten. Er mischte traditionelle ukrainische Volksmusik und Poesie mit elektronischer Musik. In der Beschreibung des Albums, das er im Internet hochgeladen hat, schreibt David: „Hoffentlich wird es auch denjenigen gefallen, die keine Volksmusik mögen ... Leider werde ich derzeit abgeschoben (genau wie Taras)“ – eine Anspielung auf den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko, der wegen seiner ukrainisch-nationalistischen Ansichten gezwungen war, in Russland zu leben.Eingebetteter MedieninhaltDas Kinderheim war ein deprimierender Ort, sagt David. Die Mahlzeiten, die Zeit im Freien und die Schlafenszeiten waren strikt festgelegt. Allein zu sein, war kaum möglich. In der örtlichen Schule versetzte man ihn um zwei Jahre zurück, damit er russische Geschichte und andere Inhalte des russischen Lehrplans nachholen konnte. David brachte seine pro-ukrainische Haltung lautstark zum Ausdruck und was er von der Invasion hält, sehr zum Missfallen der Erwachsenen um ihn herum. Er wurde auch schikaniert. Ein Junge drohte ihm, ihn zu schlagen: „Ich nahm seine Hand, hielt sie an mein Gesicht und sagte: ,Na, dann mach schon.'“Zurück nach MariupolAnfang Oktober erfuhr David, dass er abgeholt werden kann, wenn seine Mutter einer dritten Person die Erlaubnis erteilt. „Es war, als ob mir ein Stein vom Herzen fiel“, sagte er. Die Mitarbeiter des Kinderheims meinten, sie hätten ihm diese Möglichkeit nicht angeboten, weil Davids Mutter ihm gegenüber „gleichgültig“ sei.Über dasselbe Netzwerk russischer Freiwilliger, die das Telefon geliefert hatten, wurde ein Plan ausgearbeitet, um David aus Russland herauszuholen. Es dauerte noch Wochen, Davids Mutter zu überreden, zum Notar in Mariupol zu gehen, aber schließlich tat sie es doch. Über die Freiwilligen sagt David: „Sie kratzten Geld für den Notar zusammen, für alles. Sie brachten mich völlig kostenlos zurück“, sagte David. Die Reise dauerte weniger als eine Woche. Auf jeder Etappe wurde er von neuen Freiwilligen begleitet, bei denen er die Nacht verbrachte, bevor er am nächsten Tag die nächste Etappe antrat.David wohnt jetzt in einem Hostel in Kiew und plant, sein drittes Album unter dem Künstlernamen Truffkiss aufzunehmen. Er besteht darauf, dass es live mit Instrumenten und nicht mit elektronischen Geräten produziert wird.