Fünf Klimaexperten klären auf: Das passiert, wenn die Welt das 1,5-Grad-Ziel verfehlt
Blick in die Zukunft Wir nähern uns mit rasanter Geschwindigkeit dem wichtigsten Klimaziel, das je beschlossen wurde: Bald schon wird die Erde 1,5 Grad wärmer sein als vor dem industriellen Zeitalter. Womit müssen wir rechnen, wenn wir diese Marke reißen?
Tuvalu, ein Inselstaat im Pazifik, ist besonders gefährdet von den Folgen des Klimawandels
Foto: Mario Tama/ Getty Images
Das ehrgeizigste Klimaziel der Welt ist in Gefahr. Sowohl aus physikalischen als auch aus politischen Gründen. Doch was würde es für den Planeten und seine Bewohner bedeuten, wenn die Menschheit das Ziel aufgeben würde, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen?
Die Aufnahme dieses Ziels wurde als einer der großen Erfolge des Pariser Klimaabkommens von 2015 gepriesen. Bis dahin waren die internationalen Ambitionen auf zwei Grad begrenzt – sehr zur Enttäuschung der kleinen Inselstaaten und anderer Länder, die an vorderster Front von Klimaschäden betroffen sind. In einem Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) wurde auf das wachsende Risiko von Katastrophen jenseits von 1,5 Grad hingewiesen. Und die
ht des Weltklimarats (IPCC) wurde auf das wachsende Risiko von Katastrophen jenseits von 1,5 Grad hingewiesen. Und die dringende Notwendigkeit dargelegt, die Kohlenstoffemissionen bis 2030 um fast die Hälfte zu senken. Trotzdem hat sich Jahre nach Paris nur eines verändert: die Schwere der Klimakrise.Die Ölkonzerne fahren Rekordgewinne ein und planen eine Ausweitung der Produktion. Die Emissionen haben ein Rekordniveau erreicht. Begünstigt durch einen El Niño sind die globalen Temperaturen in diesem Jahr höher als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Das hat verheerende Auswirkungen: Mehr Menschen sterben, die Ökosysteme werden zerstört und die Nahrungsmittelversorgung ist in Gefahr. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 lag die globale Erwärmung bereits um 1,4 Grad über dem vorindustriellen Niveau und wird wahrscheinlich in naher Zukunft 1,5 Grad erreichen. Das britische Met Office geht davon aus, dass die globale Erwärmung bereits bei 1,26 liegt.„Das 1,5-Grad-Ziel ist mausetot. Jeder, der was von Physik versteht, weiß das“ – James HansenDie Geschwindigkeit, mit der wir uns der 1,5-Grad-Marke nähern, hat viele Klimaforscher schockiert. Mehrere einflussreiche Wissenschaftler sagen, dass es eher Jahre als Jahrzehnte dauern wird, bis das ehrgeizige Pariser Ziel erreicht ist. „1,5 Grad ist mausetot und jeder, der die Physik versteht, weiß das“, sagte James Hansen kürzlich gegenüber Reportern. Hansen ist nicht irgendwer, sondern ein ehemaliger Klimaforscher bei der NASA. Trotzdem ist seine Aussage umstritten. Andere Wissenschaftler sind anderer Meinung, darunter Michael Mann von der University of Pennsylvania. Der sagt, Hansens Ansichten seien „sehr weit vom Mainstream entfernt“.Kein Land möchte dafür in die Geschichte eingehen, dass es das ehrgeizigste Klimaziel der Welt zunichtegemacht hat. Aber viele tragen mit ihren Taten und Worten zu seinem Untergang bei. Nehmen wir COP28-Präsident Sultan Al Jaber. Der ließ Anfang dieses Jahres verlautbaren: „Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels hat oberste Priorität.“ Aber in seiner Funktion als Chef des staatlichen Öl- und Gasunternehmens der Vereinigten Arabischen Emirate, Adnoc, hat er dazu beigetragen, dass es in immer weitere Ferne rückt: Adnoc steigert die Produktion fossiler Brennstoffe.Einige Klimaaktivisten glauben, dass 1,5 Grad eine bequeme Fiktion geworden ist, die die Sehnsucht nach Hoffnung befriedigt und gleichzeitig die brutale Realität verschleiert, dass der Planet auf dem besten Weg ist, sich bis Mitte des Jahrhunderts um 2,4 bis 2,7 Grad zu erwärmen. Und bis zum Jahr 2100 um weit über drei Grad. Es gibt immer noch viele Wissenschaftler und Aktivisten, die weiterhin für 1,5 Grad kämpfen, selbst wenn es zu dessen Überschreitung kommt. Nicht nur, weil es ein nützliches politisches Ziel ist, sondern auch, weil es daran erinnert, dass jeder Bruchteil eines Grades eine Frage von Leben und Tod für den Menschen und unzählige andere Arten ist.Hier erklären fünf Klimaexperten, die wichtigsten Unterschiede zwischen einer Erderwärmung von 1,5 und zwei Grad.1) Ernährung, Wasser und KonflikteDürre, Stürme und Überschwemmungen werden mit jedem zusätzlichen Bruchteil eines Grades Erwärmung häufiger und schwerer. Der IPCC hat berechnet, dass ein extremes Hitzeereignis, das in einem Klima ohne menschlichen Einfluss nur einmal pro Jahrzehnt auftreten würde, bei einer Erwärmung von 1,5 Grad 4,1 Mal pro Jahrzehnt und bei zwei Grad 5,6 Mal auftreten würde.Diejenigen, die am schlimmsten betroffen sind, tragen in der Regel die geringste Schuld – die Menschen, die in Ländern mit schwacher Wirtschaft und schwachen Gesundheitssystemen leben. Laut Catherine Nakalembe, der Leiterin des Afrika-Programms von Nasa Harvest, werden bei einer Erwärmung von zwei Grad 70 Millionen Menschen mehr in Afrika unter akuter Ernährungsunsicherheit leiden als bei einer Erwärmung von 1,5 Grad.Placeholder image-1Laut Nakalembe deuten Computermodelle darauf hin, dass bei der niedrigeren Temperatur eine schwere Dürre im südlichen Afrika um 30 Prozent unwahrscheinlicher ist als bei zwei Grad. Die Maiserträge in Westafrika könnten bei zwei Grad um 40 bis 50 Prozent geringer ausfallen als bei 1,5 Grad. Auch die Wasserknappheit würde bei dem niedrigeren Zielwert nur halb so viele Menschen betreffen.Mit zunehmender Ernährungsunsicherheit steigt auch das Konfliktrisiko und der Anreiz zur Migration. Selbst auf dem derzeitigen Niveau werden verschiedene Teile des Kontinents in rascher Folge von Katastrophen heimgesucht. Etwa die schreckliche Dürre, die 2019 weite Teile Ostafrikas ins Elend stürzte. Oder der Zyklon namens Idai, der im selben Jahr das südliche Afrika verwüstete.„Ich befürchte, dass die Dinge nur noch schlimmer werden. Diese Ereignisse zerstören ganze Existenzen und treten so häufig auf, dass keine Zeit bleibt, sich zu erholen“, sagt Nakalembe. „Jeder Bruchteil eines Grades ist wichtig, weil er einen großen Unterschied in der Schwere der Auswirkungen des Klimawandels ausmachen kann.“2) Der Amazonas und die Artenvielfalt auf dem LandEin halbes Grad weniger macht auch für die nicht-menschlichen Bewohner des Planeten einen beträchtlichen Unterschied. Bei einer Erwärmung von zwei Grad werden voraussichtlich 18 Prozent der Insektenarten, 16 Prozent der Pflanzen und acht Prozent der Wirbeltiere die Hälfte ihrer Lebensräume verlieren – mindestens doppelt so viel wie bei einer Erwärmung um 1,5 Grad. Der Amazonas und andere tropische Regenwälder würden in einer Trockenzeit, die bei zwei Grad voraussichtlich einen Monat länger dauert als bei 1,5 Grad, ebenfalls schneller verschwinden – wobei die Wahrscheinlichkeit extremer Hitze dreimal so hoch ist.Damit besteht die Gefahr, dass der Regenwald einen Kipppunkt erreicht, nach dem er austrocknet und zu einer Savanne wird, die weniger globale Vorteile wie Kohlenstoffbindung, Wassertransport und Kühlung bietet.Carlos Nobre, einer der führenden brasilianischen Klimatologen, sieht bereits erste Anzeichen dafür. Beispielsweise die brutale Dürre derzeit im Amazonasgebiet, bei der die Flüsse auf einen noch nie dagewesenen Tiefstand gesunken sind und ein Massensterben von Delfinen und Fischen zu verzeichnen ist. Eine weitere Erwärmung würde die Situation noch verschlimmern. „Wir müssen 1,5 Grad erreichen. Ich halte dies für die größte Herausforderung, vor der die Menschheit je gestanden hat“, meint er.3) Korallenriffe und das MeerDie Erwärmung der Welt hat Auswirkungen auf den Zustand der Weltmeere. Übersäuerung und Sauerstoffmangel setzen die Fischerei unter Druck, von der Milliarden von Menschen abhängen. Einst lebhafte Korallenriffe, die sehr empfindlich auf Veränderungen der Temperatur und des pH-Werts des Wassers reagieren, leiden bereits unter Ausbleichungen und werden mit jedem Bruchteil eines Grades zunehmend „ausflimmern“.Placeholder image-3Bei einem Temperaturanstieg von 1,5 Grad könnte es bereits zu spät sein, um die Bestände in der Karibik und in Teilen des westlichen Indischen Ozeans zu retten. Dann wären nur noch zwischen zehn bis 30 Prozent von ihnen gesund. Bei einer Erwärmung um zwei Grad sinkt die Überlebensrate auf ein bis zehn Prozent, da die gesunden Flecken immer isolierter und gefährdeter werden und sich nicht mehr fortpflanzen können.Der kenianische Meeresbiologe David Obura sagt, dass es bei 1,5 Grad eine Chance auf Wiederherstellung gibt. Danach wird die Herausforderung mit jedem Zehntelgrad schwieriger – und teurer. Bei einem Temperaturanstieg von zwei Grad gebe es „nach unserem derzeitigen Kenntnisstand keine Chance mehr für eine Erholung der Korallenriffe.“4) Schmelzende Eiskappen und Anstieg des MeeresspiegelsFür kleine Inselstaaten gibt es noch weniger Spielraum. Die Existenz der am tiefsten gelegenen Länder hängt möglicherweise von dem halben Grad zwischen 1,5 und zwei Grad ab, der den Meeresspiegelanstieg bis zum Ende dieses Jahrhunderts um mindestens zehn Zentimeter erhöhen wird. Wodurch zehn Millionen Menschen zusätzlich von Überschwemmungen und Sturmfluten bedroht sind. Außerdem erhöht sich so das Risiko für den Zusammenbruch eines großen antarktischen Gletschers.„Unser Überleben steht auf dem Spiel“, sagt Pa'olelei Luteru, Vorsitzender der Allianz der kleinen Inselstaaten. „Wir wissen, dass wir die Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen müssen, wenn wir die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels vermeiden wollen.“ Auswirkungen, unter denen ihre Inseln bereits jetzt leiden würden: Landverluste durch den Anstieg des Meeresspiegels, verlorene Menschenleben, zerstörte Häuser durch häufigere und schwerere Stürme, Mangel an Trinkwasser, Verarmung der Landwirtschaft und vieles mehr.Die rasche Erwärmung des Polarkreises, die in Teilen bereits vier grad über dem vorindustriellen Niveau liegt, hat nicht nur den Anstieg des Meeresspiegels, sondern auch das Schmelzen der Permafrostböden, die Freisetzung von Methanemissionen und die Unterbrechung des Jetstreams zur Folge, die mit jedem zusätzlichen Grad eine größere Bedrohung für das menschliche Überleben darstellen.„Die Kipppunkte kippen früher als erwartet“, so David King, ehemaliger wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung. „Das Eis, das den Nordpol seit Hunderttausenden von Jahren bedeckt, zieht sich zurück, anstatt das Sonnenlicht ins Weltall zurück zu reflektieren.“ Für ihn bleibt 1,5 Grad Celsius das Ziel, aber er glaubt, dass es sehr bald gerissen wird. Daher sieht er die Notwendigkeit, dass der Mensch stärker in das Klimasystem eingreift.„Wir müssen die Gase aus der Atmosphäre entfernen und das Sonnenlicht vom Polarkreis weg reflektieren ... es gibt verdammt viel zu tun und wir haben nur sehr wenig Zeit dafür.“ Die wichtigste Maßnahme bleibe jedoch die Abschaffung der fossilen Brennstoffe. „Wir setzen jedes Jahr mehr als 30 Milliarden Tonnen Treibhausgase frei. Wenn wir so weitermachen, sind wir am Ende“, so King.5) Anpassung und EntschädigungKlimaschwankungen sind Teil unseres Lebens. So heiß dieses Jahr auch war: Wissenschaftler sagen, dass es uns in den kommenden Jahrzehnten noch vergleichsweise kühl vorkommen wird. Die Fähigkeit der Menschheit, damit umzugehen, wird schwieriger und teurer, je länger die Welt wartet und sich erwärmt.„Die Wirksamkeit von Anpassungsmaßnahmen nimmt mit zunehmender globaler Erwärmung ab“, sagt Aïda Diongue-Niang von der Meteorologischen Agentur des Senegal. Bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad sei es wahrscheinlicher, dass sich Korallenriffe, Polar- und Bergökosysteme, Küstenfeuchtgebiete und Regenwälder an die Veränderungen an die veränderten Bedingungen anpassen.Placeholder image-2Aïda Diongue-Niang sagt, die extremen Wetterereignisse des Jahres 2023 sollten ein Weckruf für ehrgeizige Maßnahmen sein, um die globale Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad zu bregrenzen – oder so nahe wie möglich an diesem Ziel zu bleiben. Das sei immer noch möglich, betont sie und verweist auf die Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energien.Sie befürchtet jedoch, dass die Ölindustrie die ehrgeizigen Ziele wieder einmal bremsen könnten. „Der Widerstand der fossilen Brennstoffindustrie und sogar ihre Lobbyarbeit sowie der Egoismus bestimmter Staaten und Einzelpersonen stellen ein Risiko für die 1,5 Grad dar“, sagt Diongue-Niang. Sie befürchtet auch, dass die Behauptung, das 1,5-Grad-Ziel sei „unwahrscheinlich“ oder „nicht realistisch“ dazu dienen könnte, die Maßnahmen zur sofortigen Emissionsreduzierung erneut zu verzögern. Die Folgen kennen wir jetzt.
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