Ganz sie selbst

Transgender Emily Brothers ist Labour-Politikerin. Im britischen Wahlkampf machte sie jetzt öffentlich, dass sie früher ein Mann war
Ausgabe 04/2015
„Blinde Menschen wurden früher Korbflechter oder Klavierstimmer“: Brothers verlor als Kind die Sehkraft
„Blinde Menschen wurden früher Korbflechter oder Klavierstimmer“: Brothers verlor als Kind die Sehkraft

Foto: Linda Nylind/The Guardian

Als ich bei der Labour-Kandidatin für den Londoner Wahlkreis Sutton and Cheam an der Tür klingle, habe ich eine ziemlich klare Vorstellung, wen ich treffen werde. Für eine Partei anzutreten, die in diesem Wahlkreis in Umfragen bei neun Prozent liegt, erfordert Mut. Das als blinde und hörbehinderte Frau zu tun ist noch viel mutiger. Und sich zwölf Monate nach ihrer Nominierung ohne Absprache mit dem eigenen Parteichef als Transgender zu outen, spricht für einen Grad an Kühnheit, der in der Politik wohl seinesgleichen sucht.

Nachdem sich Emily Brothers im Dezember öffentlich zu ihrer Transgender-Identität bekannt hatte, spottete ein Kolumnist des Boulevardblatts Sun: „Wie wusste sie, dass sie das falsche Geschlecht hatte, wenn sie doch blind ist?“ Brothers konterte: „Woher weiß er, dass er ein Mann ist, wenn er das Licht ausmacht?“ Der Kolumnist entschuldigte sich öffentlich, die Sun nicht.

„Wer jetzt glaubt, ich würde mich still in die Ecke setzen, hat sich geschnitten“, sagt Brothers. Zu Beginn unseres Treffens gibt sie sich hart und kämpferisch, seit ihrer Jugend sei sie ungeduldig. „Ich habe ein Problem mit Vorschriften. Wenn man mir sagt, ich darf etwas nicht, ist das wie ein rotes Tuch für einen Stier.“ Sie sehe auch keinen Grund, warum die Parteimitglieder ihres Wahlkreises, die sie nominiert haben, sich nach ihrem Coming-out getäuscht fühlen könnten. „Vor der Kandidatenwahl habe ich nichts gesagt, wozu ich nicht auch stehe.“

Doch am Ende meines Besuchs ist „unverwundbar“ das letzte Wort, das ich benutzen würde, um Emily Brothers zu beschreiben. So wie viele Menschen, die lange Zeit mit einem Geheimnis gelebt haben, hat sie wenig Übung darin, ihre Geschichte zu erzählen. Immer wieder kommt sie ins Stocken oder schweift ab. Aber wenn sie einmal angefangen hat, will sie nicht mehr aufhören. Länger als drei Stunden redet sie, mehrmals fängt sie an zu weinen, ein- oder zweimal bin ich selbst den Tränen nahe.

Sie hat nie gewusst, wie sie aussah. 1964 wurde sie in der Nähe von Liverpool geboren, als mittleres von drei Kindern einer Arbeiterfamilie, die in einer schlichten Zweizimmerwohnung lebte. Im Alter von sechs Monaten wurde bei ihr die äußerst seltene Krankheit Aniridie diagnostiziert, ein Fehlen der Iris. Während ihrer ersten zehn Lebensjahre wurde sie immer wieder, zeitweise wöchentlich, an den Augen operiert, um das bisschen Sehkraft zu erhalten, das sie hatte. Vergeblich.

Mit sieben kam sie auf ein katholisches Internat für blinde und sehbehinderte Schüler. „Ich fühlte mich mehr und mehr von meiner Familie abgesondert, weil meine Welt so anders war als ihre.“ Doch auch in der Schule kam sie sich isoliert vor, denn sie schaffte es nicht, an Gott zu glauben. Als Jugendliche litt sie an Schlaflosigkeit und Depressionen. „Mir fehlten die Worte, um es auszudrücken. Ich wusste, dass ich männliche Geschlechtsmerkmale hatte, aber ich fühlte mich die ganze Zeit als Mädchen.“ Sie beschaffte sich einen Rock und eine Bluse und trug sie heimlich, voller Angst, erwischt zu werden.

Der Rock unterm Bett

Um ihre Hochschulbildung musste sie kämpfen: „Blinde Menschen wurden damals Korbflechter, Klavierstimmer oder bestenfalls Physiotherapeuten.“ Doch sie bekam einen Studienplatz an einer Universität in Nordengland und begann sich politisch zu engagieren. Zum ersten Mal hörte sie da „von Transvestiten, von Ladyboys in Thailand und dergleichen. Aber das klang alles zu sexualisiert, das war nicht ich.“ Bücher oder Zeitschriften, in denen sie das, was sie fühlte, hätte wiederfinden können, waren ihr nicht zugänglich. Sie hatte Liebesbeziehungen mit Frauen, wagte aber nicht, ihnen von ihrem Geheimnis zu erzählen.

Ende der 80er arbeitete Brothers für eine Blindenorganisation und verliebte sich in eine ebenfalls blinde Kollegin. 1993 heirateten sie. „Aber ich hatte Zweifel. Nicht an meinen Gefühlen für sie, sondern daran, ob ich das Richtige tat.“ Sie bekamen einen Sohn, dann eine Tochter. Als Brothers’ Frau einen Rock unter dem Ehebett fand, glaubte sie, ihr Mann habe eine Affäre.

Erst als sich Ende der 90er das Internet ausbreitete, begann Brothers sich mittels eine Zusatzgeräts mit Blindenschrift über Geschlechteridentitäten zu informieren. Langsam verstand sie, wer sie war. Sie ging zu Treffen einer Unterstützergruppe für Transgender und fand einen Psychiater, der auf diese Identitäten spezialisiert war. Im Sommer 2006 brachte sie den Mut auf, sich ihrer Frau zu offenbaren. „Sie war schockiert, aber nicht überrascht. Sie sagte, es sei, als hätte jemand plötzlich das Licht angemacht. Aber es war schwer, ich wurde schwer depressiv. Ich wollte, dass wir zusammenbleiben. Doch sie wollte nicht mit einer anderen Frau verheiratet sein, und ich wollte als Emily leben.“

Sie war sich nicht sicher, ob das überhaupt möglich war. Sie wusste ja nicht, wie sie aussah, also auch nicht, ob sie jemals wie eine Frau aussehen könnte. „Niemand wird dir glauben, dass du eine Frau bist, sagte ich mir. Ich wollte mich nicht lächerlich machen, und ich hatte so oft davon gehört, dass Menschen wie ich in der Öffentlichkeit belästigt wurden. Ich dachte: Ich will kein Freak sein und auch kein Glamourgirl, ich möchte als ganz normale Frau leben.“

Verzweifelt und allein zog sie sich in das Ferienhaus der Familie auf der Isle of Wight zurück. „Und irgendwann im Dezember 2006 ging ich am Ufer in den frühen Morgenstunden nach Hause. Ich trug Männerkleidung. Außer mir war niemand unterwegs. Ich stieg hinunter zum Strand und ging ins Meer. Wäre es eine Nacht mit rauer See gewesen, hätte ich wohl nicht die Kraft gehabt, zurückzukehren. Ich stand mit den Klamotten bis zum Hals im Wasser. Es war eiskalt, aber ich fror nicht. Und dann hat mich etwas zurückgeholt. Wahrscheinlich meine Kinder. Der Gedanke an meine Kinder.“ An diesem Punkt unterbricht sie ihre Erzählung für einen Moment.

„Ich sagte mir, mein Leben ist ein Scherbenhaufen, aber wenn ich es nicht ändern kann, muss ich mich damit abfinden. Ich ging zurück und dachte: Nein, so kann ich nicht leben. Ich war wütend. Ich zog die Männerkleider aus, ich hasste sie. Sie standen für etwas, das nicht ich war. Ich warf sie in den Müll. Von da an habe ich als Emily gelebt.“

Ein Sonnenschein

Nach sechs Monaten Streit sagten ihre Frau und sie es den Kindern, damals zwölf und zehn Jahre alt. Brothers verließ die gemeinsame Londoner Wohnung. „Das war der schlimmste Tag in meinem Leben. So oft hatte ich gehört, dass Transgender-Leute keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern haben. Ich hatte Angst, sie zu verlieren. Natürlich waren sie schockiert. Sie sagten: Wir lieben dich, aber wir verstehen dich nicht.“

Brothers zog auf die Isle of Wight, begann eine Hormon- und Stimmtherapie und lebte offen als Emily. „Wenn ich einen Kaffee trinken oder einkaufen ging, wurde ich nie belästigt.“ Die Reaktionen ermutigten sie und halfen ihr über die Unsicherheit hinweg. Als sie einige Monate nach ihrem Auszug ihre Frau besuchte, nahm sie auf dem Rückweg ein Taxi und erkannte den Fahrer an seiner Stimme wieder. „Und da hörte ich ihn sagen: ‚Traurige Sache mit Mrs. Brothers. Ihr Mann hat sie verlassen, der soll ein ganz schöner Frauenheld gewesen sein.‘“ Als sie wieder an ihren Arbeitsplatz bei der Kommission für Gleichberechtigung und Menschenrechte zurückkehrte, erzählte ihr ein anderer Taxifahrer: „Früher habe ich in Ihrem Büro immer einen blinden Mann abgeholt, das war ein armer Tropf. Aber Sie sind ja ein Sonnenschein.“

2008 ließ sie sich in Thailand operieren und vollendete ihre Verwandlung. „Eine Brustoperation war zum Glück nicht nötig.“ Sie legt die Hand auf ihren Busen. „Alles echt, allein durch Hormone.“ Nach der Scheidung zog Brothers wieder in die einst gemeinsame Wohnung, dort lebt sie heute mit ihrem 20-jährigen Sohn. „Vor ein paar Monaten hat er mir gesagt: Ich vermisse meinen Vater. Aber wenn du es jetzt rückgängig machen würdest, würde ich Emily vermissen.“

Von ihren alten Nachbarn hat niemand etwas zu ihrer Umwandlung gesagt. Öffentlich geoutet hat sie sich nun, weil sie fürchtete, dass die Medien es sonst tun würden. Der Spott des Sun-Kolumnisten habe auch wehgetan, sagt sie, aber nur wegen ihrer Eltern: „Ich bin mir sicher, den Spruch haben sie mitbekommen, und er hat ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Sie glauben, so etwas würde ich seit Jahren ständig durchmachen. Weil sie Emily nicht kennen.“

Als Brothers’ Ehe am Ende war, fuhr sie zu ihren Eltern, um es ihnen zu erklären. „Sie sagten, es sei eine Midlife-Crisis. Ich solle zum Arzt gehen und mir Pillen verschreiben lassen. Als wir später telefonierten, waren sie wütend. ‚Du bist krank im Kopf‘, sagten sie, ‚du machst dich zum Gespött, wie kannst du uns das bloß antun?‘“ Nachdem es eine Weile so hin- und hergegangen war, schrieb sie ihnen: „So lange, bis ihr mich respektiert und mir ein bisschen Würde lasst, nehmt bitte nur schriftlich mit mir Kontakt auf.“ Seitdem hat sie sie nicht mehr gesehen.

Kurz vor Weihnachten 2013 teilten die Eltern ihr in einem Brief mit, dass ihr jüngerer Bruder gestorben war. „Sie schrieben: ‚Wir haben dich nicht zur Beerdigung eingeladen, weil jemand wie du da fehl am Platz gewesen wäre.‘“ Brothers schrieb zurück: „Ich weiß, wie schwer diese Zeit für euch ist, aber es war falsch, mich auszuschließen.“ Sie legte zwei Restaurantgutscheine in den Umschlag und bat sie, mit ihr essen zu gehen. Die Gutscheine kamen mit einem weiteren Brief zurück. In dem stand: „Du weißt nicht, wie es sich für uns anfühlt. Wir haben zwei Söhne verloren.“

Decca Aitkenhead schreibt vor allem Porträts für den Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Decca Aitkenhead | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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