Grummeln macht glücklich

Gesellschaft Meckern dient nicht nur als Ventil, um Dampf abzulassen - es kann sogar eine gemeinschaftsstiftende Wirkung entfalten
Ausgabe 49/2014

Als der amerikanische Pfarrer Will Bowen vor einigen Jahren der notorischen Unzufriedenheit seiner Mitmenschen den Kampf ansagte, war ich sofort dabei. Bei seiner Kampagne für eine „Welt frei von allem Lamentieren“ forderte Bowen dazu auf, sich 21 Tage am Stück nicht zu beschweren. Jeder, der mitmachte, sollte ein violettes Armband tragen, das ihn an den Vorsatz erinnerte. Auch wenn ich das für etwas abgeschmackt hielt, fand ich die Idee nicht verkehrt: Wäre das Leben nicht angenehmer ohne das ganze selbstgenügsame Gemecker, das gar nicht wirklich etwas verändern will? Nur so viel: Ich hielt nicht lange durch.

Als ich nun den großartigen Essay Companions in Misery von Mariana Alessandri in der New York Times las, wurde mir klar, dass es an der Zeit ist, mich zu outen: Ja, ich bin ein Nörgler – und meine Maulerei steht meinem Glück nicht im Wege, im Gegenteil: Es macht mich erst richtig glücklich. Alessandri befasst sich mit einer Studie, nach der die Bewohner von New York City die unglücklichsten Menschen der USA sind. Dabei wurden die Teilnehmer aber nicht gefragt, ob sie „glücklich“, sondern ob sie „zufrieden“ seien. Die Wissenschaftler nahmen es mit dieser Unterscheidung leider „nicht allzu genau“, krittelte Alessandri. Sie sei selbst in New York aufgewachsen und glaube, dass beides, Glück und Zufriedenheit, rein gar nichts miteinander zu tun habe.

Ihre These: Selbst wenn es nichts ändere, diene das Meckern als Ventil, es helfe dabei, Dampf abzulassen. Noch wichtiger: Es verbindet! Zwei Fremde, die am Bahnsteig stehen und über Verspätungen schimpfen, können durchaus ihren Spaß dabei haben und lächelnd auseinandergehen. Gemeinschaftliches Maulen stiftet eine temporäre Gemeinschaft, man versichert sich gegenseitig seiner Existenz. Als Alessandri nach Texas zog, musste sie feststellen, dass ihr argloses Herumgemaule dort weit weniger akzeptiert war. Der Gedanke, in einem solch moserfeindlichen Klima leben zu müssen, macht auch mir mehr Angst, als der schlimmste Tag in New York es könnte.

Nur in einem Punkt widerspreche ich Alessandri: Ich glaube nicht, dass man seinen Ärger immer laut aussprechen muss, um sich mit den Moserern ringsum verbunden zu fühlen. Jeder, der in einer überfüllten, verspäteten S-Bahn sitzt, weiß, dass das eine Zumutung ist. Man sieht es sich gegenseitig an – und bildet eine still pulsierende Einheit von glücklichen Grummel-Genossen.

Oliver Burkeman schreibt für den Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Oliver Burkeman | The Guardian

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