Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist eine Belastung in der Krise
Meinung Benjamin Netanjahu hat als Ministerpräsident den Konflikt mit den Palästinensern weiter angestachelt. Dabei hätte er eigentlich an einer Lösung arbeiten sollen. Eins ist klar: Er muss gehen
Eine Belastung in der aktuellen Krise: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Warum ist Benjamin Netanjahu immer noch Israels Ministerpräsident? Mehr als jeder andere politische Führer auf beiden Seiten der israelisch-palästinensischen Kluft ist er für die zunehmenden Spannungen, Spaltungen und die Wut verantwortlich, die dieser schrecklichen Katastrophe vorausgingen. Es ist verheerend, aber Israelis und Palästinenser sind wieder im Krieg. Dabei war es Netanjahus oberste Pflicht, diese Möglichkeit zu verhindern. Er hat kläglich versagt, und das Maß seines Versagens ist die noch nie dagewesene Zahl der zivilen Toten in diesem Konflikt. Er versprach Sicherheit. Er schuf ein Meer von Tränen. Wenn er noch einen Funken Integrität und Schamgefühl besitzt, sollte er nicht auf die unvermeidlichen Ermittlungen warten. Er
Er sollte sofort zurücktreten.Netanjahus lange politische Karriere ist geprägt von Angst und Konfrontation. Seine rachsüchtige Reaktion auf den grausamen Hamas-Angriff vom Wochenende besteht typischerweise darin, noch mehr Gewalt und eine größere Eskalation zu versprechen. Er ruft die belagerte Bevölkerung des Gazastreifens dazu auf, ihre Häuser zu verlassen, während Israels Luftangriffe zunehmen und seine Bodentruppen in Massen aufmarschieren. Doch die Menschen in Gaza sind von allen Seiten eingeschlossen. Wohin sollen sie gehen? Ins Meer? Das ist keine rationale, humane oder nachhaltige Politik. Wenn Netanjahu an der Macht bleibt und dafür kämpft, seine eigenen Fehler zu rechtfertigen und zu entschuldigen, wird das die Sache nur schlimmer machen.Viele Israelis verstehen das sehr wohl, auch wenn Netanjahu und seine mitschuldigen, bewusst provozierenden, weit rechts stehenden Koalitionspartner es nicht tun. „Der Ministerpräsident, der sich mit seiner großen politischen Erfahrung und unersetzlichen Weisheit in Sicherheitsfragen brüstet, hat komplett darin versagt, die Gefahr zu erkennen, in die er Israel durch die Bildung einer Regierung der Annektierung und Enteignung bewusst führte“, kritisierte ein Leitartikel in der linken Zeitung Haaretz. Mit seiner Politik, die „die Existenz und die Rechte der Palästinenser offen ignoriert“, machte Netanjahu eine Kollision unvermeidlich.Illegale SiedlungenDie Explosion der palästinensischen Wut kam nicht unerwartet. Sie hatte sich seit Monaten angebahnt angesichts fast täglicher tödlicher Gewalt im Westjordanland, wo rechtsgerichtete israelische Siedler, angestachelt von extremistischen Ministern wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, scheinbar ungestraft handeln konnten. Die ungebremste Ausweitung illegaler Siedlungen und eine verstärkte jüdische Präsenz auf dem Tempelberg bei der Al-Aqsa-Moschee – betrachtet man sie im Kontext von Netanjahus Weigerung, jedweden verhandelten „Friedensprozess“ in Betracht zu ziehen, goss weiteres Öl in das schwelende Feuer.Inmitten dieser schrecklichen Vorzeichen lag die Überraschung im Zeitpunkt, dem Ort – Südisrael – und dem Ausmaß der Explosion, der massiven Geiselnahme durch die Hamas und dem schmerzlich offensichtlichen Mangel an Vorbereitung durch das israelische politische und Sicherheits-Establishment.Wenn die Autopsie der Ereignisse beginnt, wird Netanjahu wie in der Vergangenheit versuchen, die Schuld auf die Militär- und Geheimdienstchefs abzuwälzen, die den aufziehenden Sturm nicht vorhergesehen haben. Verblüffend versagt hat auch Israels riesige 1,1 Milliarden US-Dollar teure, 65 Kilometer lange, sechs Meter hohe Gaza-Grenzmauer, die die Angreifer offenbar leicht überwinden konnten. Und doch sind es letztlich nicht Betonklötze und Stacheldraht, sondern der Ministerpräsident eines Landes, von dem Sicherheit abhängig ist.Inzwischen hat eine nationale Einheitsregierung übernommen, um die schwerste Krise Israels seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 – sein UN-Botschafter hat es „Israels 9/11“ genannt – zu bewältigen. Manche argumentieren, ein Wechsel der politischen Führung in einem solchen Moment würde Schwäche zeigen. Aber jede Regierung wird Schwierigkeiten haben, wenn Netanjahu, Hauptziel der jüngsten Massenproteste von Demokraten gegen seine „Justizreformen“ und Angeklagter in einem kompromittierenden Strafverfahren, ihr angehört. Er ist eine Belastung für Israel, eine Peinlichkeit für Israels Freunde. Er muss gehen.Israels OptionenAllerdings darf es keine Beschönigung des aktuellen Geschehens durch Israels Kritiker geben. Es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür, was am Wochenende passiert ist. Die mörderischen, unmenschlichen Taten der Hamas sind völlig unentschuldbar, unter welchen Missständen sie auch leiden mag. Ihr Ziel schien gewesen zu sein, maximalen Schmerz zuzufügen und dann Israel herauszufordern, aufs Schlimmste zurückzuschlagen, während die Welt entsetzt zuschaut. Wenn es das strategische Ziel der Hamas war, die Aufmerksamkeit zurück auf die palästinensische Sache zu lenken und den Trend zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten zu stören, hat sie das bereits erreicht. Aber sie hat dieser Sache einen immens dauerhaft schlechten Dienst erwiesen.Die aktuelle Sicherheitslage ist extrem bedrohlich und komplex. Israels Optionen für den nächsten Schritt sind durchweg schlecht. Allein der Gedanke, mit der Hamas zu verhandeln, ist zum jetzigen Zeitpunkt abstoßend. Aber es ist zu erwarten, dass die Hamas Gespräche über die mögliche Freilassung von hundert oder mehr israelischen Geiseln sucht, um sie gegen eine deutlich größere Zahl von Palästinensern auszutauschen, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Dies könnte ein weiteres Hauptziel des Überfalls gewesen sein. Alternativ könnte Israel seine Luftangriffe auf Gaza weiterfliegen oder ausweiten. Damit würde es das Leben der Geiseln riskieren und muss damit rechnen, dass es international dafür verantwortlich gemacht wird, dass weitere Zivilisten ums Leben kommen.Eine weitere Option ist, die bestehende Gaza-Blockade zu verschärfen, was gerade zu geschehen scheint: laut dem Verteidigungsminister hat Israel eine „komplette Belagerung“ verhängt. Auch hier wird Israel für das daraus resultierende menschliche Leid verantwortlich gemacht werden. Am riskantesten ist eine Bodeninvasion, bei der Israel ein 2005 geräumtes Gebiet wieder zu besetzen und sich der Gefahr eines lang andauernden Krieges in einem städtischen Gebiet aussetzen würde. Als Netanjahu erklärte, Israel sei im Krieg, schwor er, die Hamas und ähnlich eingestellte, vom Ausland unterstützte Gruppen wie die islamische Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad zu zerstören. Das ist eine unrealistische Übertreibung. Eine Besetzung des Gazastreifens, falls sie in den kommenden Tagen in Angriff genommen wird, stellt viel wahrscheinlicher sicher, dass die Gewalt endlos immer weitergeht.Die Aufgabe der DrittenFrüher oder später wird es einen Waffenstillstand und Gespräche geben. Das ist der Moment, in dem die sogenannte internationale Gemeinschaft viele Jahre der Vernachlässigung des israelische-palästinensischen Konflikts wiedergutmachen kann und sollte. Wenn Joe Biden die Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien und die Abraham-Abkommen retten will, wenn die USA und Europa verhindern wollen, dass ein größerer Krieg die Hisbollah im Libanon und vom Iran gestützte anti-israelische Milizen in Syrien und im Irak hineinzieht, wenn die westlichen Demokratien, Russland (und China) von der weiteren Ausweitung ihres regionalen Einflusses abhalten wollen, müssen sie den Ansatz der Nichteinmischung zur Palästinenserfrage beenden, der effektiv Hardliner auf allen Seiten ermächtigt hat.Unerschütterliche, bedingungslose Solidarität mit Israel zu erklären, wie es der britische Premierminister Rishi Sunak und andere westliche politische Führer am Wochenende taten, ist einfach – und potenziell problematisch. Sie müssen handeln, nicht sich in Szene setzen. Auch sie müssen Führungsverantwortung übernehmen und sich direkt an der Schaffung dessen zu beteiligen, was trotz allem die einzige verfügbare, plausible und dauerhafte Lösung bleibt – ein unabhängiger souveräner palästinensischer Staat, der friedlich mit Israel koexistiert.
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