Israelischer Lehrer Meir Baruchin: Von Facebook in den Knast
Porträt Meir Baruchin unterrichtet Geschichte und Staatsbürgerkunde in Israel. Als er das Vorgehen von Israels Armee in Gaza nach dem 7. Oktober kritisiert und vor blinder Rache warnt, wird er inhaftiert – die Anklage: Hochverrat
Meir Baruchin während der Verhandlung: Seine Entlassung als Lehrer war unrechtmäßig und er ist wieder frei
Foto: Quique Kierszenbaum/Guardian/Eyevine/Laif
Meir Baruchin trägt Brille und spricht leise. Eigentlich ist der grauhaarige Israeli Lehrer für Geschichte und Staatsbürgerkunde. Doch Anfang November landete er im Einzelhafttrakt des Russischen Quartiers, eines berüchtigten Gefängnisses in Jerusalem. Die Anklage: Hochverrat.
Die Beweise, die die Polizei zusammengetragen hatte? Eine Reihe Facebook-Posts, in denen er in Gaza getötete Zivilisten betrauerte, das israelische Militär kritisierte und vor Rachefeldzügen warnte. „Aus Gaza erreichen uns schreckliche Bilder. Ganze Familien wurden ausgelöscht. Ich lade normalerweise solche Bilder nicht hoch, aber guckt euch an, was wir aus Rache tun“, schrieb er am 8. Oktober unter einem Bild der Abu-Daqqa-Familie, die bei einem der ersten Luft
rsten Luftangriffe auf Gaza getötet wurde. „Jeder, der denkt, dass das wegen der gestrigen Ereignisse gerechtfertigt ist, soll mich bitte aus seiner Freunde-Liste löschen. Alle anderen bitte ich, alles zu tun, um diesen Wahnsinn jetzt zu stoppen. Nicht irgendwann später, jetzt!!!“Der Tag nach dem Terrorangriff der Hamas auf IsraelEs war der Tag nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, bei dem 1.200 Menschen getötet und mehr als 240 Personen entführt wurden. Bachurin wusste, dass seine Ansichten über das israelische Militär umstritten sein würden; ähnliche Äußerungen hatten ihn schon drei Jahre zuvor seine Stelle als Lehrer in Rishon LeZion in der Nähe von Tel Aviv gekostet. Aber er war überzeugt von der Wichtigkeit, sie gerade jetzt offen auszusprechen, da Israel darüber entschied, wie es auf den Angriff der Hamas reagieren würde.„Die meisten Israelis wissen nicht viel über Palästinenser. Sie halten sie allesamt für Terroristen. Oder für namenlose, gesichtslose Schemen ohne Familie, ohne ein Zuhause, ohne Hoffnungen“, sagt Baruchin. „In meinen Posts habe ich versucht, Palästinenser als Menschen zu zeigen.“„Geh nach Hause“Zehn Tage nach seinem Facebook-Post wurde Baruchin als Lehrer in Petach Tikvah gefeuert. Weniger als einen Monat später fand er sich in einem Hochsicherheitsgefängnis wieder, damit die Polizei mehr Zeit hatte, wegen seiner Äußerungen, die er nie zu verstecken versucht hatte, zu ermitteln.In Israel gibt es derzeit nur wenig öffentlichen Raum für abweichende Meinungen zum Krieg in Gaza, selbst drei Monate nach Beginn einer Militäroffensive, die bisher wohl 25.000 Palästinensern das Leben gekostet hat und deren Ende nicht absehbar ist.Baruchin ist nicht der einzige Lehrer, der ins Visier genommen wurde. Yael Ayalon, Schulleiterin eines Tel Aviver Gymnasiums, wurde von den Behörden vorgeladen, nachdem sie einen Haaretz-Artikel geteilt hatte, der davor warnte, die israelischen Medien würden das Leiden von Zivilisten in Gaza verschweigen. Als sich die Nachricht von ihrem Post verbreitete, kam es unter ihren Schülern zu Tumulten. Ayalon ging gegen ihre Kündigung vor Gericht und bekam Recht. Aber als sie an die Schule zurückkehrte, begrüßten Schüler sie mit „Geh nach Hause“-Sprechgesängen.Baruchins Entlassung war unrechtmäßigAuch Baruchins Entlassung sei unrechtmäßig, urteilte ein Gericht in Tel Aviv und wies die Gemeinde Petach Tikva an, ihn wieder einzustellen. Bei einer Befragung habe er zu hören bekommen, seine Beiträge seien wie die „Protokolle der Weisen von Zion“, die zu den berüchtigtsten antisemitischen Dokumenten der Welt gehören. „Ich bin Geschichtslehrer, also fragte ich: ‚Haben Sie sie jemals gelesen? Sie haben nicht geantwortet.“Bleibt die Sache mit dem Hochverrat; es kann bis zu fünf Jahre dauern, bis die Polizei ihre Ermittlungen abschließt und Anklage erhebt. „Wir erleben in Israel derzeit eine Zeit der Hexenjagd“, sagt er. „Ich wurde zum ,Hamas-Unterstützer‘, nur weil ich mich dagegen aussprach, unschuldige Zivilisten anzugreifen.“An Händen und Füßen gefesseltEr habe Hunderte private Nachrichten von Lehrern und Schülern erhalten, die ihm ihre Unterstützung versicherten, aber zu viel Angst hätten, um das öffentlich zu äußern. „Ich dachte neulich: Wenn ich einmal in Rente gehe, kann es sein, dass das die wichtigste Unterrichtseinheit in Sachen Staatsbürgerkunde war, die ich je gegeben habe.“ Baruchin glaubt, dass er als einziger jüdischer Israeli dafür verhaftet wurde, dass er Kritik wegen der zivilen Opfer in Gaza übte; für palästinensische Israelis hingegen ist das nicht ungewöhnlich.Er wurde zunächst auf die Polizeiwache vorgeladen, dann an Händen und Füßen gefesselt, worauf man ihm einen Durchsuchungsbefehl zeigte. Fünf Beamte begleiteten ihn zu seiner Wohnung, stellten sie auf den Kopf und konfiszierten schließlich zwei Laptops und sechs Festplatten.Baruchins letzter Beitrag vor dem Interview für diesen Artikel war ein Bild eines improvisierten Grabsteins, der wie ein Teil eines kaputten Möbelstücks aussah. „Unbekannter Gefallener, grüne Jacke und Turnschuhe“, stand als Inschrift darauf. „Die ganze Geschichte in einem Bild“, schrieb Baruchin darunter. „Die israelischen Mainstream-Medien bringen dieses Bild nicht. Sie verstehen dieses Bild nicht und sie wollen es auch nicht verstehen.“
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