Südafrikas Klage in Den Haag: Es steht nicht nur Israel vor Gericht
Völkermord Südafrika stellt mit seiner Klage den Anspruch des Westens auf moralische Überlegenheit auf die Probe. Den Palästinensern wurde immer wieder bedeutet, dass ihre Situation eine Randposition sei. Aber dieser Fall verleiht ihnen Legitimität
O.R. Tambo International Airport in Johannesburg bei der Rückkehr des Juristen Tembeka Ngcukaitobi aus Den Haag am 14. Januar 2024. Ngcukaitobi ist einer der Vertreter Südafrikas bei der Anklage Israels vor dem Internationalen Gerichtshof.
Foto: Ihsaan Haffejee/picture alliance/Anadolu
Es waren zwar nur etwas mehr als sechs Stunden juristischer Auseinandersetzung, aber der von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel angestrengte Völkermordfall hat eine jahrzehntelange Geschichte hinter sich. Vorrangig geht es um Israels Angriff auf Gaza, im Kern allerdings um etwas Größeres. Es soll die Kluft geschlossen werden zwischen der palästinensischen Realität und der Art und Weise, wie sie von den dominierenden politischen Kräften weltweit beschrieben wird.
Seit Wochen breiten sich Empörung und Wut über die Ereignisse in Gaza auf den Straßen Europas aus. Doch dieser Zorn wird von den Regierungen entschieden ignoriert, abgetan, verboten oder verunglimpft. Die öffentliche Unterstützung für einen Waff
einen Waffenstillstand, der in Großbritannien mittlerweile eine Zustimmung von über 70 Prozent genießt, spiegelt sich weder in den Positionen von Regierungen noch der Opposition wider.Forderungen nach Waffenruhe wurden blockiertTatsächlich müsste doch der Verurteilung der Gewalt, wie sie von Menschenrechtsorganisationen, den Vereinten Nationen und dem Papst ausgeht, durch sinnvolle Maßnahmen der politischen Führer entsprochen werden. Eine UN-Resolution, die eine Waffenruhe forderte, wurde von den USA blockiert. Sogar die Sprache des Protests wurde forensisch analysiert, um sie problematisch erscheinen zu lassen oder zu ignorieren. Demonstranten wurde vorgeworfen, den Konflikt in eine „modische akademische Theorie“ zu verwandeln. Dies sei eine nachsichtige moderne Beschäftigung mit dem Thema, wie sie von „Linken und Akademikern“ betrieben werde.Der britische Außenminister David Cameron meint, wir sollten den Vorwurf des Völkermords nicht „verbreiten“. Dies spiegelt wider, was den Unterstützern Palästinas seit Jahren gesagt wird. Was sie denken, das reiche nur für eine Randposition. Diese Auffassung basiert nicht auf Beweisen oder Moral, sondern auf Vorurteilen, Radikalität und in jüngerer Zeit auf „Wachheit“. Mit anderen Worten: Der Israel-Palästina-Konflikt ist kompliziert und sollte am besten den Erwachsenen überlassen bleiben.Den Haag entscheidet über die Entrechtung der Menschen in GazaDiese Position ging immer davon aus, dass die Unterstützung für Palästina zwar populär, aber nicht wirksam sei. Selten gelangte sie von der Straße in die Hallen der Macht, und wenn doch, konnte diese Stimmung immer blockiert oder zerstreut werden. Nun aber hat Irland Israel verurteilt, eine ehemalige Kolonie, eine der wenigen Nationen, die sich in der EU so verhält. Erwartungsgemäß wurde die Regierung in Dublin als Ausreißer und schwaches Glied in einer Konsenskette dargestellt. Dies sei ein Beispiel für einen Staat, der nicht eine Verantwortung tragen müsse, die mit großer Macht einhergeht.Die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, einem Gremium der Vereinten Nationen, stellt diese Darstellung sowohl dem äußeren Anschein als auch dem Inhalt nach in Frage. Umso mehr ist es wichtig, Dinge, die nicht ernst genug genommen wurden, mit dem Nachdruck auszusprechen, der ihrer Ernsthaftigkeit entspricht. Es ist wichtig, dass die von Medien untersuchten, von Menschenrechtsorganisationen und Palästinensern vor Ort berichteten Vorgänge gesammelt und in Verbindung mit der Klage aufgelistet werden: Es wurden 6.000 Bomben pro Woche in den ersten drei Wochen des Konflikts abgeworfen. Tausend-Kilo-Bomben wurden mindestens zweihundertmal eingesetzt. 85 Prozent der Gaza-Bewohner wurden vertrieben; 93 Prozent der Bevölkerung befinden sich in einer akuten Krisenlage und sind von Hunger betroffen.Es ist wichtig, dass diese Zustände mit den Genfer Konventionen und dem Gebot der Menschlichkeit in Verbindung gebracht werden. Und es ist wichtig, dass dies innerhalb eines rechtlichen Rahmens geschieht, von Anwälten geäußert und von Richtern angehört wird. Schon das nüchterne Ritual und die Choreografie des Ablaufs vor dem Haager Tribunal waren ein Segen. Es geht um die Entrechtung der Menschen in Gaza.In diesem Sinne kommt es weniger darauf an, wie die endgültige Entscheidung lautet, als vielmehr darauf, dass der Fall Gazakrieg überhaupt behandelt wird. Ob man sich darüber einig wird oder nicht, ob die rechtlichen Bedingungen für einen Völkermord erfüllt sind oder nicht (was das Gericht beschließt, werden Israel und seine Verbündeten sowieso missachten), entscheidend ist, dass mit dem Antrag Südafrikas die Ernsthaftigkeit der Ereignisse anerkannt wird. Und dass die Frage im Raum steht, dass diese Ereignisse einem Völkermord gleichkommen könnten. Darauf ist die internationale Reaktion bislang erschreckend dürftig ausgefallen.Westliche Logik verliert vor Gerichtsverfahren an KraftDies ist nicht die einzige Herausforderung für eine internationale Ordnung, die es so schwierig macht, palästinensische Ansprüche zu bestätigen. Die Verhandlungen vor dem Internationalen Gerichtshofs zeigen, wie die westliche Logik in einer multipolaren Welt an Kraft verliert und ihre Überzeugungskraft schwindet. Dass die Klage von einem Land wie Südafrika ausgeht – ein Symbol für die Verwüstungen des Kolonialismus und der Apartheid –, darf niemandem entgehen. Die Figur eines Nelson Mandela war stets ein eindrucksvolles Beispiel moralischer Klarheit, die durch Verfolgung nicht getrübt wurde. Es ist keine Überraschung, dass die Unterstützung für Südafrika ausschließlich aus Ländern des globalen Südens kommt.Man könnte dazu neigen, die ganze Sache als Show abzutun. Aber was genau ist erfolgreiches politisches Storytelling, wenn nicht das Einfangen von Fantasie und das Schüren von Frustration? Es ist eine Erfahrung, die in die Grenzen, die Erinnerungen und die gegenwärtige Politik dieser Länder eingewoben ist: koloniale Besatzungen und postkoloniale Ungleichgewichte, die Palästina zu einem totemistischen Anliegen machen, die sich mit Ressentiments gegen hegemoniale westliche Interessen verbindet. Interessen, die einigen wenigen dienen und erwarten, dass der Rest sich fügt. Namibia lehnte die Unterstützung Israels durch Deutschland vor dem IGH ab und verwies darauf, dass Deutschland in Namibia den „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ begangen und für den es „noch nicht vollständig gesühnt“ habe.Diese Erfahrungen sind bereits an anderen Stellen zum Ausdruck gekommen. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, haben die afrikanischen Länder diese Aggression nicht allgemein verurteilt. Nach mehreren Putschen in ehemaligen französischen Kolonien, ist die antieuropäische Rhetorik auf dem Kontinent wieder aufgeflammt. Dies ist keine „trendige Theorie“ – es ist ein tatsächlicher Trend. Das Gerichtsverfahren steht für eine umfassendere Konfrontation, bei der sich dieselben Institutionen, die sie geschaffen haben, zu fragen scheinen, ob diese Menschenrechtsinfrastruktur real ist oder nur ein Theater, das im Dienste eines internationalen Kastensystems einberufen wird.Die eigenen Werte untergrabenDer Fall wird natürlich abgewiesen werden, wie es bereits geschehen ist, und zwar mit Nachdruck von den USA, dem Vereinigten Königreich, Kanada, Deutschland und anderen. Aber die Ablehnung von Prozessen, die die Legitimität des Anspruchs dieser Länder auf moralische Autorität untermauern, hat ihren Preis. Diese moralische Autorität ist der Grund dafür, dass sie sich selbst zu den soliden Hütern einer globalen Außenpolitik ernennen, in der die Schwachen geschützt und die Aggressiven in Schach gehalten werden. Der Konflikt hat diese Verbündeten in die Lage versetzt, ihre eigenen Systeme zu untergraben oder zu ignorieren und damit ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen.Wenn man auf der falschen Seite des UN-Generalsekretärs und zahlreicher Menschenrechtsorganisationen steht und sich gegen eine Vorlage vor einem internationalen Gericht wendet, dessen Unterzeichner man selbst ist (und im Falle der USA und des Vereinigten Königreichs ein Gericht, das man selbst eingerichtet hat), dann baut man sein Haus mit den Werkzeugen ab, mit denen es gebaut wurde. Ich bin zusammengezuckt, als ich hörte, wie Rishi Sunak die Luftangriffe auf die Houthis im Jemen mit „Verstößen gegen das Völkerrecht“ rechtfertigte und dafür sorgen wolle, dass die Beteiligten „nicht ungestraft davon kommen“ – die Art von Sprache, die an Normen appelliert, die im Gazastreifen unter Beschuss genommen werden. Nie klang es hohler.„Der Ruf des internationalen Rechts steht auf dem Spiel“, sagte der Vertreter Südafrikas in einer Eröffnungserklärung in Den Haag. Aber es sind Israel und seine Verbündeten, die diesen Ruf in Gefahr bringen. Damit haben sie die wechselnden geopolitischen Winde herausgekitzelt, die es immer schwieriger machen, die Zustimmung zu westlichen politischen Agenden durch Gewalt, Drohungen oder Unterlassung zu sichern. Durch die Schaffung eines solchen Konzentrationspunkt auf diese Verschiebungen für diese Verschiebung hat der von Südafrika angestrengte Fall gezeigt, dass vielleicht diejenigen, die die Versuche zur Beendigung der schweren Notlage in Gaza behindern, die Randposition einnehmen.
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