Erst ein halbes Jahrhundert nach der Verabschiedung der „Konvention über die Bestrafung und Verhütung des Völkermords“ durch die UNO wurde erstmals ein Urteil (gegen Jean-Paul Akayesu) auf diese gestützt, und zwar am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda am 2. September 1998. Fast auf den Tag genau ein Jahr später, verurteilte dann auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien einen Täter (Radislav Krstic) wegen Völkermordes.
Die beiden Gerichtshöfe waren eingerichtet worden, als der für Verbrechen in aller Welt offene Internationale Strafgerichtshof (IStG) noch nicht existiert hatte, und wurden, bis 2003 sogar mit identischen Chefankläger_Innen, parallel geführt. Die unter dem gleich
dem gleichen Wort jeweils zusammengenommenen Verbrechen waren allerdings sehr verschiedene, und dies nicht nur hinsichtlich der Zahlen der Ermordeten (wobei das Verhältnis ungefähr 100:1 beträgt).Srebrenica: Der PräzedenzfallIm Falle Ruandas handelte es sich um einen staatlich organisierten Massenmord, der sich 1994 über hundert Tage und das gesamte Land erstreckte und nach nahezu einhelliger Beurteilung in der vergleichenden Genozidforschung den bis heute eindeutigsten Fall eines Völkermords seit Existenz seiner Definition bildet. Im Falle Jugoslawiens wurde ausschließlich das Massaker in der Umgebung des bosnischen Srebrenica als Genozid klassifiziert, das im Rahmen eines Bürgerkriegs während einer guten Woche im Juli 1995 stattfand, und damit ein Verbrechen eines Typs und einer Größenordnung, deren viele weitere davor und danach stattfanden – wenngleich wohl nicht in Europa –, ohne dass jemals deren Untersuchung vor einem internationalen Gericht eingeleitet worden wäre.Man leugnet nicht die extreme Brutalität des Massakers in Bosnien, wenn man konstatiert, dass mit seiner Anerkennung als Genozid ein Präzedenzfall geschaffen wurde, der als juristische Legitimation für den seither zu beobachtenden inflationären Einsatz des Wortes ge- oder missbraucht werden kann.Israels unbrauchbare VerteidigungsstrategieBesonders häufig verwendet wird dieses Wort derzeit mit Bezug auf zwei Kriegssituationen, in denen jeweils beiden Parteien der entsprechende Vorwurf gemacht wird: Russland vs. Ukraine und Israel vs. Palästina. Unter diesen vier Vorwürfen erscheint der russische, wonach die Ukraine einen Genozid gegen die dortige russischsprachige Bevölkerung verübe, als besonders haltlos.Das Echo-Verfahren, mit dem das Wort von B gegen A zurückgegeben wird, sobald A es gegen B geäußert hat, stößt jedoch auch in der jüngsten Eskalation des Nahost-Konflikts auf. Im Bereich politischer Kommentare argumentiert sogar ein juristisch so versierter und hinreichend kritischer Beobachter des israelischen Vorgehens in Gaza wie Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung nach diesem Modell, wenn er der plausiblen Entkräftung des Vorwurfs, Israel begehe einen Genozid in Gaza, im letzten Absatz die Behauptung folgen lässt, einen solchen betreibe vielmehr die Hamas in Israel.Entsprechend wenig überraschte es, dass auch mehrere israelische Vertreter inklusive Benjamin Nethanjau im aktuellen Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) den Vorwurf Südafrikas, Israel begehe in Gaza einen Völkermord, nicht nur zurückwiesen, sondern nachgerade reflexartig umkehrten. Als Verteidigungsstrategie ist dies unbrauchbar, weil genozidäre Handlungen, wenn es denn solche sein sollten, nicht damit zu rechtfertigen sind, dass man sich mit ihnen gegen ebensolche verteidigt.Genozidäre Akte sind nochmal etwas anderesVielmehr verorten sich solche Gesten in der unmittelbar politischen Schicht dieses Prozesses, mit dessen Einleitung Südafrika auf eine konkrete Intervention in die gegenwärtige Situation zielt. Denn dabei geht es – wie zuerst Dominic Johnson in der taz vom 6. Januar prägnant erläutert hat – zwar zunächst einmal darum festzustellen, ob Akte möglicherweise genozidären Charakters stattgefunden haben oder stattfinden („capable of falling within the provisions of the Genocide Convention“, lautet der dafür aus einem früheren Urteil des IGH zitierte Ausdruck).Auf dieser Grundlage werden allerdings vorläufige Maßnahmen gefordert, unter denen die kürzest formulierte die sofortige Einstellung militärischer Operationen des Staates Israel in und gegen Gaza darstellt. Wogegen Israels Vertreter Christopher Stalker vor Gericht plausibel einwendete, dies gehe über das Ziel, einen Genozid zu vermeiden, hinaus.Bei diesem Prozess wird an der Genozid-Konvention und der Möglichkeit ihrer Anwendung noch während eines gewaltsamen Geschehens immerhin ernsthaft gearbeitet. Für den Alltag der politischen Stellungnahmen hingegen wünschte ich mir, einerseits, weniger Vertrauen in die Subsumtionskraft dieses einen Wortes – ‚großangelegter terroristischer Angriff‘ oder ‚Kriegsverbrechen‘ etwa wären, auch als Wörter, ‚schlimm genug‘.Der Verdacht ist aber nicht antisemitischAndererseits wäre es gut, wenn die, sei es auch letztlich haltlose, Verwendung des Wortes nicht in einigen Fällen auf zusätzliche Motivationen zurückgeführt würde, in anderen nicht: Zurecht gilt die Anwendung des G-Wortes auf die Handlungen einer palästinensischen Terrorgruppe im Jahr 2023 nicht automatisch als ‚antimuslimisch‘ – die Anwendung desselben Wortes auf das Vorgehen einer Regierung und Armee des Staates Israel in den Jahren 2023/24 ist daher ebenso wenig automatisch ‚antisemitisch‘.Noch weniger gilt dies für die Beschreibung der strukturellen Machtverteilung in Israel/Palästina mit einem Wort aus einer in Südafrika gesprochenen Sprache – auch wenn ein deutscher Antisemitismus-Beauftragter dies besser zu wissen glaubt: Apartheid. Aber das wäre ein anderer Beitrag.