„Jetzt verstehen sie“

USA Angela Davis ist eine Veteranin der Bürgerrechtsbewegung. Sie hat schon als Kind an eine veränderbare Welt geglaubt
Ausgabe 25/2020
1972 saß Angela Davis im Gefängnis (Mitte), in Dortmund forderten Demonstranten ihre Freilassung (rechts unten). 2019 solidarisierte sich Davis mit der von Trump angegriffenen linken Politikerin Ilhan Omar (links). Gegen rassistische Polizeigewalt gingen Menschen im September 2016 auf die Straße (rechts oben), nachdem die Polizei in Charlotte, North Carolina, Keith Lamont Scott erschossen hatte
1972 saß Angela Davis im Gefängnis (Mitte), in Dortmund forderten Demonstranten ihre Freilassung (rechts unten). 2019 solidarisierte sich Davis mit der von Trump angegriffenen linken Politikerin Ilhan Omar (links). Gegen rassistische Polizeigewalt gingen Menschen im September 2016 auf die Straße (rechts oben), nachdem die Polizei in Charlotte, North Carolina, Keith Lamont Scott erschossen hatte

Screenshot: The Black Power Mixtape/Youtube, Fotos: Mike Theiler/dpa (links), Sean Rayford/Getty Images (oben), Klaus Rose/Imago Images (unten)

Wir schreiben das Jahr 1972, und Angela Davis wurde gerade gefragt, ob sie denn die Gewaltanwendung der Black Panthers gutheiße. Sie sitzt vor den himmelblau gestrichenen Wänden einer Zelle in einem kalifornischen Gefängnis, trägt einen roten Rollkragenpullover, ihren charakteristischen Afro, hält eine Zigarette zwischen den Fingern und blickt den schwedischen Journalisten vor ihr eindringlich an. Als würde sie durch ihn hindurchsehen, während sie antwortet: „Sie fragen mich, ob ich Gewalt billige? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Ob ich Waffen gutheiße? Ich bin in Birmingham, Alabama, aufgewachsen. Einige sehr, sehr gute Freunde von mir wurden durch Bomben getötet, die Rassisten gelegt hatten. Bereits aus meiner frühen Kindheit habe ich Erinnerungen daran, wie es sich anhörte, wenn auf der anderen Straßenseite ein Sprengsatz detonierte und das eigene Haus vor Erschütterung bebte. Deshalb finde ich es unglaublich, wenn mich jemand danach fragt, wie ich zu Gewalt stehe. Es zeigt, dass er oder sie keine Ahnung davon hat, was Schwarze in diesem Land mitmachen und welchen Erfahrungen sie ausgesetzt sind, seitdem der erste schwarze Sklave von den Küsten Afrikas hierher entführt wurde.“

Wenn man sich den kurzen Clip mit dieser Aussage im Internet ansieht, versteht man sofort, warum Davis zu einer Ikone wurde. In der Geschichtsdokumentation The Black Power Mixtape von 2011 wurde ihr ein Denkmal gesetzt. Seitdem der Mord an George Floyd durch einen Polizisten in Minneapolis weltweite Proteste gegen Polizeigewalt ausgelöst hat, machen Ausschnitte aus jenem Interview die Runde in den sozialen Medien. Davis’ 1981 erschienenes Buch Women, Race and Class gilt neben James Baldwins The Fire Next Time und der Autobiografie von Frederick Douglass bis heute als unverzichtbare Lektüre für alle, die etwas über aktiven Antirassismus erfahren möchten.

Eine neue Intensität

Die inzwischen 76-Jährige ist über Zoom aus ihrem Büro in Kalifornien zugeschaltet. Hat sie das Gefühl, dass heute, nach so vielen Jahren, endlich ein bedeutsamer Wandel möglich ist? „Natürlich könnte es diesmal dazu kommen“, so Davis. „Doch gibt es dafür keine Garantie.“ Ihre Vorsicht ist verständlich, schließlich hat sie vom Vietnamkrieg bis zu den Ferguson-Unruhen nach dem Tod des 18-jährigen afroamerikanischen Schülers Michael Brown bis zu George Bushs Irak-Invasion alles gesehen. „Es gab viele dramatische Augenblicke; in deren Folge eingeleitete Reformen haben jedoch verhindert, dass ein radikales Potenzial wirksam wurde.“ Dennoch fühlt sie sich durch die Proteste nach Floyds Tod ermutigt und bestärkt. „Wir haben noch keine derart lange andauernden Demonstrationen von dieser Intensität erlebt, die gleichzeitig so divers waren“, sagt Davis. „Ich denke, dies gibt den Menschen sehr viel Hoffnung. Früher haben viele auf den Slogan ‚Black Lives Matter‘ mit der Frage reagiert: Sollten wir nicht sagen: Das Leben aller zählt? Jetzt verstehen sie endlich, dass niemand sicher ist, solange rassistische Gewalt bleibt, was sie ist.“

Wenn jemand dafür prädestiniert ist, die jetzige Situation zu beurteilen, dann Davis. Fünf Jahrzehnte lang hat sie sich für die Gleichberechtigung der Schwarzen eingesetzt. Die von ihr verfolgten Ziele – eine Gefängnisreform, eine teilweise Umverteilung des Budgets der Polizei zugunsten sozialer Arbeit in den Gemeinden, ein verändertes Kautionssystem – galten dem politischen Mainstream bis vor Kurzem als zu radikal. Man hatte das Gefühl, Davis sei in den 1960ern und bei der Marke des „radical chic“ stehengeblieben, deren Vorstellungen längst nicht mehr zeitgemäß seien. In einem Porträt über Davis von 2016 fragte der Autor des Wall Street Journal seine Kollegen, ob sie wüssten, wer Angela Davis sei. Keiner unter 35 konnte die Frage beantworten.

50 Jahre nachdem sie berühmt wurde, ist Davis vielleicht zu einem Pin-up für soziale Gerechtigkeit geworden. Sie habe viel von der neuen Generation des Protests profitiert. „Ich merke, dass ich viel von Leuten lerne, die so viel jünger sind als ich – sehr aufregend. Dennoch muss man darauf hinweisen, dass die jetzigen Kämpfe nicht neu sind, auch wenn die Reaktionen darauf noch nie so unermesslich waren.“ Davis möchte verhindern, dass der Einfluss von Community-Organizing, Bildungswerken und Lebensmitteltafeln – eben die Graswurzelarbeit, wie sie von den Black Panthers in den 1960ern angestoßen wurde – heute ignoriert wird. „Die Kämpfe entfalten sich seit Langem. Was wir sehen, zeugt von einer Arbeit, die noch nie so zwangsläufig wie im Moment die Aufmerksamkeit der Medien erregt hat.“

Davis verweist auf die Militarisierung der amerikanischen Polizei nach Vietnam, und die Möglichkeit für eine Polizeireform, wie sie sich nach dem Aufstand im Attica-Gefängnis 1971 bot. Doch sei es bestenfalls in Ansätzen dazu gekommen. Die Zahl der Gefängnisinsassen in den USA explodierte von etwa 200.000 in der Zeit von Attica auf über eine Million Mitte der 1990er. „Als wir auf diese Periode zurückblickten, wurde uns klar, dass die Reformen in Wirklichkeit halfen, die Institution auf Dauer zu festigen. Und diese Gefahr besteht augenblicklich erneut.“

Welchen Rat würde sie der „Black Lives Matter“-Bewegung geben? „Von meinem Standpunkt aus sollte man dem Ausdruck verleihen, was als Nächstes zu tun ist.“ Nur was? Eine große Frage, die in der Hitze sich auf der ganzen Welt entfaltender Proteste schwer zu beantworten ist. Davis ist sich darüber im Klaren, dass die endgültige Antwort nicht in einer angezündeten Polizeiwache in Minneapolis oder der geschleiften Statue des einstigen Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol bestehen kann. „Unabhängig davon, was die Leute darüber denken, wird es nichts verändern“, sagt sie über den Sturz des Denkmals. „Es ist Organisation, es ist Arbeit. Wenn die Leute damit fortfahren, sich weiter gegen Rassismus organisieren und neue Vorstellungen darüber entwickeln, wie wir unsere Gesellschaft umgestalten, wird das den Unterschied machen.“

Angela Yvonne Davis wurde 1944 in Birmingham, Alabama, geboren, als der berüchtigte Rassist Bull Connor Polizeichef ihrer Geburtsstadt war. Freundinnen von ihr starben 1963 beim Bombenattentat auf die Baptistenkirche in der 16. Straße – ein Terroranschlag des Ku-Klux-Klan, durch den vier Mädchen getötet wurden und zu dem es bis 1977 zu keinen Ermittlungen kam. „Uns war klar, dass die Polizei die Aufgabe hatte, die Vorherrschaft der Weißen zu schützen“, sagt Davis.

Ihr gerettetes Leben

Mit 15 zog sie nach New York, um dort eine private High School zu besuchen. Danach ging Davis nach Westdeutschland, um bei Herbert Marcuse Philosophie und Marxismus zu studieren. Ende der 1960er kehrte sie in die USA zurück, engagierte sich bei den Black Panthers und für die Kommunistische Partei. Letzteres führte dazu, dass der spätere Präsident Ronald Reagan, seinerzeit Gouverneur von Kalifornien, dafür sorgte, sie als Assistenzprofessorin für Philosophie an der University of California, Los Angeles (UCLA), rauszuwerfen.

1970 kam ein Gewehr, das Davis legal erworben hatte, beim Fluchtversuch aus einem Gerichtsgebäude zum Einsatz. Dabei starben ein Richter, der als Geisel genommen worden war, der Student Jonathan Jackson, der den Ausbruchsversuch unternommen hatte, und zwei weitere Angeklagte. Angela Davis wurde wegen „mehrfacher Geiselnahme und Mord ersten Grades“ angeklagt, weil sie die Waffe gekauft hatte. Sie tauchte unter, wurde aber in New York verhaftet. Die Soulsängerin Aretha Franklin half, ihren Fall öffentlich zu machen, indem sie anbot, ihre Kaution zu bezahlen. Die Rolling Stones und John Lennon schrieben Songs über sie. Es gab weltweit Solidaritätsaktionen, und nach 18 Monaten im Gefängnis wurde die Anklage gegen Davis fallengelassen. Der Fall machte aus der radikalen Akademikerin und Community-Leaderin ein internationales Vorbild für politischen Aktivismus. „Ich bin wirklich dankbar dafür, dass ich noch am Leben bin“, sagt Davis heute. „Es kommt mir so vor, als würde ich das stellvertretend für all jene bezeugen, die es nicht geschafft haben.“

Angela Davis weiß, wie leicht auch sie hätte sterben können. 1972 wegen Mordes angeklagt, hätte sie zum Tode verurteilt und hingerichtet werden können. Viele ihrer Genossen bei den Black Panthers starben durch staatliche Gewalt: Fred Hampton kam bei einer Polizeirazzia in Chicago ums Leben; Bobby Hutton wurde in Oakland erschossen, nachdem er sich ergeben hatte (Marlon Brando hielt die Trauerrede). Andere sitzen noch immer im Gefängnis wie Mumia Abu-Jamal oder sind im Exil wie Assata Shakur. „Ich weiß, dass ich eine von ihnen sein könnte“, meint Davis. „Ich hätte dazu verurteilt werden können, den Rest meines Lebens hinter Gittern zu verbringen. Nur weil sich Menschen auf der ganzen Welt für mich einsetzten, wurde mein Leben gerettet. Ich setzte meine Arbeit in dem Bewusstsein fort, nicht mehr da zu sein, hätten nicht genügend Menschen dieselbe Arbeit für mich getan. Und ich werde damit bis zu dem Tag fortfahren, an dem ich sterbe.“

Einer der wichtigsten Grundsätze in Davis’ Leben nach der Zeit im Gefängnis bestand darin, stets den Beitrag zu würdigen, den Frauen im Kampf um die Bürgerrechte geleistet haben. Besonders dann, wenn Frauen Opfer von Polizeigewalt wurden wie Breonna Taylor, die in Louisville, Kentucky, von der Polizei erschossen wurde, nachdem die mit einem Rammbock in ihre Wohnung eingedrungen war. Davis: „Dass Geschichte immer wieder vermännlicht wird, reicht viele Jahrzehnte und Jahrhunderte zurück. Debatten über das Lynchen kranken häufig nicht nur daran, dass die vielen schwarzen Frauen ignoriert werden, die Lynchmorden zum Opfer fielen. Verschwiegen werden auch schwarze Frauen, wie etwa Ida Wells, die gegen die Lynchjustiz gekämpft haben. Ich denke, es ist wichtig, zu verstehen, warum es eine solche Tendenz hin zu einer männlichen Repräsentation der Kämpfe gibt und kaum anerkannt wird, dass Frauen schon immer im Zentrum dieser Kämpfe standen – als Opfer oder als Organisatorinnen.“

Jahrzehntelang hat sich Davis dafür eingesetzt, dass feministische Ideen verbreitet werden, die gegen einen männlichen Führungsanspruch opponieren. Ihrer Auffassung nach haben Bewegungen wie Occupy und Black Lives Matter neues Terrain betreten, indem sie ihre Führungsgruppen nicht besonders betont oder oft überhaupt keine gebildet haben.

„In diesem Land fragen manche: ,Wo ist der Martin Luther King von heute?‘, ,Wo ist der neue Malcolm X?‘. Und wie selbstverständlich denken sie dabei an charismatische schwarze Führungspersönlichkeiten. Doch die radikalen Organisationsformen der jüngsten Vergangenheit waren ihrer Art nach feministisch und haben die kollektive Führung betont“, meint Davis. Das wirft die Frage auf, ob ihr Ideal der Kollektivität nicht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihrem eigenen Status steht. „Ich kann mich selbst nicht zu ernst nehmen“, sagt sie. „Ich sage das immer wieder. Nichts von alldem wäre passiert, wenn es nur auf mich ankäme.“

Davis hat häufig versucht, die linke Bewegung in die Mitte der Gesellschaft zu ziehen. 1980 kandidierte sie für die KP für den Posten der Vizepräsidentin. 2006 hielt sie einen verzweifelten Vortrag über die Regierung von George W. Bush, heute bringt sie es nicht einmal über sich, Trumps Namen auszusprechen, und spricht stattdessen vom „gegenwärtigen Bewohner des Weißen Hauses“. Glaubt sie, dass es in der amerikanischen Demokratie derzeit Platz für radikale Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung gibt? „Ich halte das nicht für möglich. Nicht mit den Führern der gegenwärtigen politischen Formationen – nicht mit den Demokraten und mit Sicherheit nicht mit den Republikanern.“

Und was ist mit den Demokraten, die aus Mitgefühl und Protest auf die Knie fallen? Nancy Pelosi und andere prominente Demokratinnen trugen ghanaische Kleider, die der Black Caucus des Kongresses ihnen überreicht hatte, um Solidarität mit den Afroamerikanern zu zeigen, einer wichtigen Gruppe von Wählern, bei denen Joe Biden als ihr Präsidentschaftskandidat Schwierigkeiten hat, eine Verbindung herzustellen. „Das haben sie getan, weil sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen wollten“, glaubt Davis. „Nicht notwendigerweise, weil sie auch das Richtige tun werden.“

In ihren Vorlesungen erzählt sie manchmal die Geschichte, wie sie als kleines Mädchen in Birmingham einmal ihre Mutter fragte, warum sie nicht auf den für Schwarze verbotenen Rummel oder in die Bibliotheken gehen könne. Ihre Mutter, die schon vor ihr Aktivistin war, erklärte ihr, wie die Segregation funktionierte, beließ es aber nicht dabei. „Sie sagte uns immer wieder, dass die Dinge sich ändern würden und wir Teil dieses Wandels sein könnten. So lernte ich als Kind, unter der Segregation und zugleich mit der Vorstellung von einer neuen Welt zu leben, und begriff, dass die Dinge nicht für immer so bleiben würden, wie sie waren. Meine Mutter sagte häufig zu uns: ‚So sollten die Dinge sein, so sollte die Welt nicht sein.‘“

Lanre Bakare schreibt für den Guardian über Kunst und Kultur

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Lanre Bakare | The Guardian

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