Klettern ohne den Jungsclub

Feminismus Braucht es Räume nur für Frauen? Werden so Ungleichheiten verstärkt oder beseitigt? Eine Organisatorin erzählt
Ausgabe 32/2020
Der Berg gehört Frauen so sehr wie allen anderen auch
Der Berg gehört Frauen so sehr wie allen anderen auch

Foto [M.]: Fox-Photos/Getty Images

Es war 2013 in London, als ich das erste Mal an einer reinen Frauenveranstaltung teilnahm. Und zwar beim zweiten „Women’s Climbing Symposium“, das von Shauna Coxsey organisiert wurde, die mittlerweile olympiareif ist (Sportklettern sollte dieses Jahr in Tokio sein olympisches Debüt haben). Die Aussicht, über hundert Kletterinnen zu treffen, hat mich einfach umgehauen. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte ich den Sport zum Teil wegen des Machismo in der Community aufgegeben.

Endlich wurden Frauen beim Klettern sichtbarer – und zwar auf eine neue Art und Weise. Kletternde Frauen waren zuvor etwas für die Werbeindustrie. In den 90er-Jahren war eine Anzeige mit einem Eispickel, der sauber auf einem nackten Frauenkörper drapiert war, nichts Schockierendes. Die Jahrhundertwende brachte die Erkenntnis, dass die Objektifizierung der Frau einen Marktsektor abschneidet. Als die Unternehmen auf den Zug aufsprangen, war das Eintreten für die Gleichstellung der Geschlechter plötzlich en vogue.

Versehentlich Gründerin

Während ich mich über die vielen positiven Veränderungen freue, die dies mit sich brachte, erschauderte ich gleichzeitig in dem Wissen, dass Frauen zu einem Alibi für das eine oder andere Unternehmen geworden sind. Slogans wie „She Moves Mountains“ („Sie versetzt Berge“, The North Face) werden und wurden von Marken verwendet, um Frauen in der Kletter-Community zu fördern – aber vor allem, um mehr Produkte zu verkaufen.

Zweifellos werden Kletterwände in der Halle von einer immer vielfältigeren Menge an Menschen besucht, aber die traditionelleren Arten des Freikletterns sind nach wie vor stark von Männern dominiert. 2017 ging ich in den Wald von Fontainebleau in Frankreich, der für sein Schloss und als Geburtsort des Boulderns weltberühmt ist. Wie viele Kletterer vor mir war ich von diesem Ort überwältigt und beschloss, ihn nie mehr zu verlassen. Als ich den Wald für mich entdeckte, wurde mir immer bewusster, dass diejenigen, die die Sandsteinfelsen erklommen, zumeist Männer waren. Frauen waren rar gesät, vor allem unter den tüchtigeren Athleten. Das Geschlechtergefälle war so krass, dass in meinem Kopf die Idee aufkam, ein internationales, nur für Frauen bestimmtes Treffen zu schaffen.

Vor dem Hintergrund des Erfolgs ähnlicher Veranstaltungen in den USA war ich überrascht, dass es in Fontainebleau keine solchen gab. Auch wenn die Resonanz in der lokalen Klettergemeinde überschaubar blieb, wurde ich so versehentlich zur Gründerin des ersten Frauenkletterfestivals in Fontainebleau. Im Jahr 2018 nahmen fast achtzig Kletterinnen aus der ganzen Welt an unserer Eröffnungsveranstaltung teil. Ein Jahr später waren wir über hundert.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, nicht zwiegespalten gewesen zu sein. Wir leben in einer Zeit, in der das binäre Geschlechterverhältnis seinen erdrückenden Einfluss auf die Gesellschaft immer mehr verliert. Um nicht hinter die Entwicklungen zurückzufallen, dachte ich darüber nach, die Veranstaltung ein „Festival für sich als Frauen identifizierende Kletterer“ zu nennen. Dann stieß ich auf einen Artikel, in dem das Offensichtliche unverhohlen festgestellt wurde: Transsexuelle Frauen sind Frauen. Sicherlich wäre es unangemessen, die Weiblichkeit von jemandem infrage zu stellen, indem man das Wort „identifizierend“ hinzufügt. Trotz all dieser (und mehr) Überlegungen musste ich zugeben, dass „Das Kletterfestival für Cis- und nicht geschlechtsspezifische Frauen sowie als weiblich gelesene Individuen“ viel weniger eingängig klang als „Das Kletterfestival für Frauen“. Ich entschied mich für Letzteres. Im Nachhinein war es eine bessere Wahl, als ich zunächst vermutete.

Obwohl der größte Teil des Frauenklettersymposiums 2013 in meiner Erinnerung verblasst ist, erinnere ich mich lebhaft an einen Vortrag von Eva Lopez. Die international anerkannte Kletter-Trainerin wies darauf hin, dass Frauen in gemischtgeschlechtlichen Umgebungen eher ihre vorgeschriebene Geschlechterrolle ausleben würden. Lopez hatte bemerkt, dass sie sich in Begleitung eines Mannes eher schwach und passiv verhielt, ihren Ängsten nachgab und dem Mann die Führung überließ; vor allem dann, wenn er zufällig auch ihr Lebenspartner war. Sicherlich in keinem Kontext eine nützliche Dynamik, besonders nicht beim Klettern.

Es hat lange gedauert, bis mir klar wurde, dass Weiblichkeit keine Schwäche und Männlichkeit keine Stärke implizieren muss. Dennoch wurde ich so sozialisiert. Ich kann mich dem nicht entziehen. Das Zusammenspiel von Weiblichem und Männlichem ist für mich nichts anderes als eine Ausdrucksform, über die ich instinktiv im Alltag entscheide. Für andere mag ihr Geschlecht viel stabiler sein oder sich einer Kategorisierung ganz und gar widersetzen.

Dieses Festival gehört uns

Dies ist eine Variabilität, die Professor Jack Halberstam mit dem Begriff trans* umschreibt, wobei das Sternchen für eine unbestimmte Anzahl von möglichen Geschlechtsidentifikationen steht. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass eine Veranstaltung, die eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gemeinschaft zusammenbringt – in diesem Fall Bergsteigerinnen –, im wörtlichen Sinne exklusiv wird. Zwar besteht nach wie vor eine wachsende Nachfrage nach reinen Frauenveranstaltungen und -räumen, doch sollten sie meiner Meinung nach nicht die einzige Option sein, die als Alternative zu der allgemein verstandenen Dominanz heteronormativer Männlichkeit zur Verfügung steht.

Sichere Räume, „safe spaces“, schützen uns nicht vor Männern, sondern vor toxischer Männlichkeit, Mikroaggressionen und erstickenden Geschlechternormen. Wie die britische Unternehmerin Belinda Parmar sagte: „Es ist für mich Zeitverschwendung, für die Hälfte der Menschen, mit denen ich sprechen muss, unsichtbar zu sein. Ich möchte nicht von ihrer Agenda verschwinden. Die Wirtschaft kann sich manchmal wie ein Jungs-Club anfühlen, aber die Antwort ist nicht die Gründung einer rivalisierenden Mädchengang, sondern die Öffnung der Mitgliedschaft für alle.“ In diesem Fall würde ich sagen, dass Klettern sich nicht so sehr vom Geschäft unterscheidet. Mit dieser Überlegung gelangt man an einen Punkt, an dem die Flucht vor gesellschaftlichen Normen, wie Eva Lopez sie sich vorstellt, scheinbar unmöglich wird. Die koreanisch-amerikanische Aktivistin Shelma Jun, eine Begründerin der amerikanischen Bergsteigerinnenbewegung, äußerte in einem Interview, das ich 2018 mit ihr geführt habe, ähnliche Sorgen. „Es gibt Gespräche, die wir vielleicht nur mit anderen Frauen in unserer Umgebung führen können. (...) Wenn man Teil einer Randgruppe ist, können diese Räume sehr wichtig sein. (...) Der Rest, der nicht Teil dieser Räume ist, sollte sich dadurch nicht beleidigt fühlen.“

Bevor ich das Frauenkletterfestival organisierte, hatte ich eine Menge Frauenveranstaltungen besucht. Um ehrlich zu sein, war es sehr ermutigend, etwas männerfreie Zeit zu verbringen – aber ich glaube immer noch, dass es so nicht sein sollte. Mit Mitte dreißig sehe ich die jüngere Generation ohne die Stereotypen und Zwänge aufwachsen, die mich geprägt haben. Ich fürchte, dass exklusive Veranstaltungen und exklusive Räume sie zu verstärken drohen. Gleichzeitig brauchen wir sie vielleicht noch, damit diejenigen, die Ermutigung brauchen, diese auch finden.

Weil ich kaum Erfahrung im Organisieren von Veranstaltungen hatte, geriet ich während unseres ersten Festivals im Jahr 2018 in Panik. Weil ich dafür sorgte, dass alles reibungslos lief, war ich die Letzte, die sich den Teilnehmerinnen am Felsen anschloss. Als ich die sandige Lichtung von l’Éléphant betrat, einen der symbolträchtigsten Orte in Fontainebleau, schossen mir die Tränen in die Augen. Abseits meiner eigenen Theorien: 80 Frauen zu sehen, die kletterten, lachten, sich gegenseitig unterstützten und gemeinsam ihre Grenzen ausreizten, war einfach etwas Besonderes. Dieser Raum gehört uns genauso wie allen anderen. Wir haben ihn beansprucht und wir gehörten dorthin, auch wenn „wir“ hier ein sehr instabiler Begriff ist.

Zofia Reych ist polnische Kletterin, Autorin und Organisatorin des Women’s Bouldering Festival im französischen Fontainebleau, das im September zum dritten Mal stattfinden wird

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Übersetzung: Konstantin Nowotny
Geschrieben von

Zofia Reych | The Guardian

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