Westliche Experten neigen zu der These, die Schlacht um Aleppo sei in eine entscheidende Phase übergegangen, seit Russland bunkerbrechende Waffen einsetze, um unterirdische Bunker und Kommandozentralen zu zerstören. Dies deute auf ausgesprochen gute Geheimdienstinformationen hin, aus denen hervorgehe, wo sich Stellungen islamistischer Einheiten befänden, meint Justin Bronk, Research Fellow an der Denkfabrik RUSI, einem unabhängigen Forschungsinstitut in London. „Es handelt sich bei Bunkerbrechern um ausgesprochene Präzisionswaffen. Sie sind an der deutlich anderen Form der Krater zu erkennen und explodieren weit unter der Erde, so dass die Einschlagkanäle tiefer gehen, aber nicht so breit sind wie die anderer Bomben.“ Es sei äußerst unwahrscheinlich, so Bronk weiter, dass vom russischen Syrien-Korps derartige Waffen aufs Geratewohl eingesetzt würden. Schon gar nicht, um eine Stadt dem Erdboden gleichzumachen, sondern um gezielte Schläge zu führen. Bunkerbrecher seien sehr teuer und brauchten spezifische Zielkoordinaten, sonst lohne sich ihr Gebrauch nicht. „Wenn sie eine unterirdische Kommandozentrale treffen, ist die Zahl der Toten hoch, aber gemessen am Umfeld des Einschlags sehr viel geringer als bei anderen schweren Bomben.“
Es sei durchaus möglich, dass Russland detaillierte Angaben über die Position des Hauptquartiers des Anti-Assad-Lagers im Osten Aleppos besitze. Man müsse davon ausgehen, dass diese Kräfte angesichts der bisher eher statischen Schlachten um einzelne Viertel über ausgebaute Tunnelsysteme verfügten, um abtauchen zu können, wenn sie in Bedrängnis gerieten. Beweise dafür, dass Russland wirklich lasergesteuerte KAB-500L einsetze, dürften Bronk zufolge schwer zu finden sein, solange keine verifizierbaren Aufnahmen der Krater vorlägen.
Charles Lister, Experte für die bewaffnete syrische Opposition am Washingtoner Middle East Institute, hat zuletzt Bilder gepostet, auf denen eine nicht zur Explosion gelangte bunkerbrechende Waffe zu sehen sein soll. Angeblich eine KAB-500L, bei der es sich um einen raketengetriebenen Waffentyp handle, der eher prädestiniert sei, harte Flächen wie die Start- und Landebahnen für Flugzeuge zu zerreißen, so Lister. Im September 2015 habe russisches Militär diese Systeme erstmals im Kampf gegen Kommando- und Kontrollzentren des Islamischen Staates (IS) im Nordosten Syriens eingesetzt. Dessen Kämpfer seien in mehrgeschossigen, unterirdischen Bunkern aus verstärktem Beton stationiert gewesen.
Alles übertroffen
Auch Augenzeugenberichte aus Aleppo legen inzwischen nahe, dass nicht mehr allein konventionelle Luftminen abgeworfen werden. Ein solch kolossales Dröhnen wie bei der Explosion am 24. September habe er nie zuvor gehört, erzählt der Lehrer Abdulkafi al-Hamdo. Er habe nicht gewusst, woher die Steine kamen, die vor das Haus geschleudert wurden, in dem er mit Frau und Tochter Schutz gesucht hatte. Als er am Nachmittag am Ort der Detonation war, habe er im Bezirk Maschhad einen Krater von mehreren Metern Tiefe gesehen. Al-Hamdos Bericht deckt sich mit dem von Mohammed Abu Rajab, Arzt in einem der letzten medizinischen Zentren im Osten Aleppos: „Was jetzt hier niedergeht, das sind keine normalen Waffen. Sie lassen den Boden unter deinen Füßen schwanken wie bei einem Erdbeben.“ Nicht einmal Fassbomben verbreiteten einen solchen Schrecken.
Als der Lehrer al-Hamdo sah, welche Auswirkungen die Bombe im Viertel Maschhad hatte, wurde er von Verzweiflung ergriffen. Das Personal von Schulen und Hospitälern, das in unterirdische Schutzräume gezogen sei, müsse fortan das Gefühl haben, selbst unter der Erde nicht mehr sicher zu sein.„Als ich das begriff, dachte ich: Mein Gott, ist es möglich, dass es hier eine solche Verwüstung gibt und niemand uns helfen will? Und ich war mir im Klaren darüber, dass wir zu Märtyrern geworden sind, die irgendwann einmal betrauert werden.“
Al-Hamdo weiß noch von zwei anderen Bunkerbrechern, die an diesem Tag gefallen seien – einer in Sheikh Khodor, der andere in Tariq al-Bab, von der Dschabhat Fatah asch-Scham (früher Al-Nusra-Front) gehaltene Vororte von Aleppo. Ihm sei ein Bild aus Tariq al-Bab gepostet worden, so al-Hamdo, auf dem ein Mann mitten in einem Krater stehe, dessen Größe die Gestalt winzig erscheinen lasse. Offenkundig übertrifft das Grauen der Schlacht um die zweitgrößte Stadt Syriens alles, was in den nunmehr fünfeinhalb Jahren des Bürgerkrieges ein Land aus den Angeln hob.
Schutzräume ohne Schutz
Seit Mitte 2012 werden Teile der Metropole von diversen Rebellenformationen gehalten, wobei stets die einstige Al-Nusra-Front den Ton angab und es verstand, die Zeit für den Ausbau eines gut gesicherten und flexiblen Verteidigungssystems zu nutzen, während sich die Truppen der Regierung nur in einigen Bezirken im Westteil halten konnten. Das Blatt begann sich vor einem Jahr zu wenden, als die russische Luftwaffe zugunsten der Assad-Einheiten eingriff und den Erhalt eines syrischen Staates unterstützte, zu dem neben Damaskus, Hama und Homs auch Aleppo gehört. Schon vor dem September 2015 waren östliche Quartiere der Stadt wiederholt mit Fass- und Phosphorbomben angegriffen worden. Oft trafen sie nur noch Ruinen oder Zivilisten, selten hingegen einen gut verschanzten Gegner, der sich nicht zur Aufgabe zwingen ließ.
Die Bewohner aller östlichen Bezirke von Aleppo mussten sich schon viel einfallen lassen, um Angriffe auf angenommene Stellungen der Rebellen zu überstehen. Unter der Erde Schutz zu suchen, galt lange als Überlebenschance, um nicht auf der Straße unter Beschuss zu geraten. „Es gab nie sehr viele Schutzräume. Man musste ohnehin befürchten, in ihnen verloren zu sein, falls das Gebäude darüber einstürzt“, meint al-Hamdo.
Für den Beobachter steht außer Frage, dass der Einsatz von Bunkerbrechern das Ziel verfolgt, bewaffneten Widerstand soweit zu brechen, dass nur die Kapitulation bleibt. In den vergangenen Monaten ist es der Regierung immer wieder gelungen, Rebellengruppen durch eine lange andauernde Belagerung zum Abzug zu zwingen – etwa in Al-Waer, einem von Aufständischen gehaltenen Viertel von Homs, oder in Daraja am Rand von Damaskus, wo die Rebellen im August nach vierjähriger Blockade die Waffen gestreckt haben.
Da in Aleppo offenbar die gleiche Strategie verfolgt wird, ist Zivilisten, die dem fürchterlichen Gemetzel entfliehen wollen, mehrfach angeboten worden, über ausgewiesene Korridore in von Regierungstruppen gehaltene Bezirke zu fliehen. Die Leute sollten sich absetzen, bevor Straßenkämpfe beginnen – oder alles ganz schnell geht, weil die Luftoffensive seit dem Ende der jüngsten Feuerpause, die nur eine Woche hielt, Wirkung hinterlassen hat. Sollte es der Regierung gelingen, den Osten Aleppos vollends zurückzuerobern, würde sie wieder alle urbanen Zentren im Land kontrollieren und den Gegner weiter in den dünn besiedelten Osten Syriens abdrängen. Ob dies für das Baath-Regime ausreicht, sich an der Macht zu behaupten, scheint immer weniger eine offene Frage zu sein.
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