Sanitäterinnen und Ärzte über ihre Arbeit an der Front: „Vielleicht bin ich verrückt“
Ukraine Militärärzte und Rettungssanitäter im Osten des Landes erzählen von ihren Erfahrungen bei der Evakuierung und Behandlung von Verwundeten an der ukrainischen Front des Krieges mit Russland
Die Schrift auf einem seiner Aufnäher lautet „Ukraine oder Tod“: Sanitäter Illya Sakhno nahe der Stadt Swjatohirsk
Foto: Alessio Mamo/Guardian/Eyevine/Laif
Als Russland Ende Februar 2022 seine Invasion startete, gab Roman Vozniak sein altes Leben auf. Als Zivilarzt trat er der paramilitärischen ukrainischen Nationalgarde bei. „Ich habe meiner Frau damals gesagt, dass ich in zwei Monaten wieder zu Hause sein würde“, erinnert er sich. Zwei Jahre später steht Vozniak noch immer an vorderster Front und versorgt Verwundete. „Es ist ganz einfach: Man muss schnell handeln, wenn jemand es womöglich nicht schafft.“ Vozniak kümmert sich um seine Patienten vorzugsweise in Swjatohirsk, einer malerischen Stadt in der Region Donezk tief im Osten. Einst besuchten Touristen das Kloster der Gegend mit seiner türkisfarbenen Kuppel aus dem 16. Jahrhundert, das am Fuße eines steilen Kreidehügels erb
erbaut wurde. Man entspannte sich in den Cafés am von Weiden gesäumten Fluss Siwerskyj Donez. Im Mai 2022 zogen in Swjatohirsk für vier Monate russische Truppen ein. Als sie nach einer Schlacht wieder abziehen mussten, waren viele Häuser und das Sanatorium zerstört. Vor den Resten parken grün gestrichene Krankenwagen und ein Humvee.„Es gab einen wunderschönen Kiefernwald, in dem man Pilze sammeln konnte. Jetzt ist diese Gegend eine Todeszone“, erzählt Vozniak und meint verminte Wege oder Lichtungen. In der Nähe, im Serebryansky-Wald, würden die Kämpfe immer wieder aufbranden. Nach feindlichen Angriffen sind weite Teile des Forstes verbrannt. Statt Grün sieht man geschwärzte Stämme, zerstörte ukrainische Stellungen und intakte Schützengräben, die den sandigen Boden durchziehen. Doktor Vozniak und seine Sanitäter evakuieren die Verwundeten in maßgeschneiderten Fahrzeugen. Sie werden in an Buggys erinnernden Gefährten transportiert, die im Wald wendig genug sind, oder in gepanzerten Krankenwagen, gespendet von der ukrainisch-amerikanischen Wohltätigkeitsorganisation „Razom for Ukraine“. „In den ersten Kriegsmonaten herrschte Chaos, danach wurde es ruhiger“, sagt der Sanitäter Illya Sakhno, während entfernt Granaten einschlagen. Auf einem Aufnäher seiner Uniform steht: „Je lauter du weinst, desto schneller sind wir bei dir“. Ein anderer lautet: „Ukraine oder Tod“.Horrorfilme lenken abDie 29-jährige Krankenschwester Inna Mahomedova berichtet, sie habe ihren Beruf als Näherin in einer Fabrik aufgegeben, um verwundeten Soldaten zu helfen, sich zunächst jedoch umschulen lassen. „Natürlich ist es manchmal schrecklich, was du erlebst. Deine Seele tut weh, aber ich möchte nützlich sein.“ In den Gefechtspausen entspanne sie sich beim Anschauen von Horrorfilmen. „Es mag seltsam klingen, doch sie schalten mich aus. Ich weiß, dass sie erfunden sind und nichts von dem real ist, was ich sehe, aber es hilft.“Vor zwei Jahren wurden zwei Mönche beim Beschuss des Klosters getötet. Zivilisten verließen die Kampfzone, darunter der damalige Bürgermeister von Swjatohirsk, der sich auf die Seite Russlands stellte. Andere blieben wie die 84-jährige Rima, die Baumrinde zum Heizen in einem Eimer sammelt. „Ich schlafe in meiner Küche. Eine Rakete hat den Rest meiner Hütte getroffen. Die Küche ist der einzige Raum, der geblieben ist. Ich habe hier meinen Mann und meinen Sohn begraben. Es hat keinen Sinn mehr, irgendwo anders hinzugehen. Es ist Zeit für mich, bald zu sterben.“Während einer Pressekonferenz anlässlich des zweiten Jahrestags der russischen Invasion gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten mit 31.000 an. Wie viele Verwundete es bis dahin gegeben hatte, wollte er nicht sagen. Am zweiten Märzwochenende dann würdigte er per Videobotschaft die „Menschlichkeit und Selbstlosigkeit“ der medizinischen Helfer, von denen manche schon seit 2014 im Einsatz seien. Militärärzte, die mit versehrten Soldaten zu tun haben, halten die Zahl der Gefallenen für merklich höher. „Wenn keine Leiche gefunden wird, gilt der Tod als nicht bestätigt“, erklärt Svitlana Druzenko, medizinische Leiterin der Nichtregierungsorganisation „Pirogov First Volunteer Mobile Hospital“, die mit Freiwilligen verletzte Soldaten an der Front bergen hilft. Sie berichtet, dass russisches Militär häufig auf Rettungsfahrzeuge gefeuert habe. Da es aber unmöglich sei, Helikopter einzusetzen, weil die ein Ziel für den Feind seien, müssten Verwundete mit Krankenwagen abtransportiert werden.Svitlana Druzenko und ihr Team haben ihren Sitz in Lyman, einer Stadt an der Frontlinie nicht weit von Swjatohirsk entfernt. Svitlana findet, dass der jetzige Krieg mit Russland „grundlegend anders als der Zweite Weltkrieg“ sei. Er werde „ohne irgendwelche Regeln“ mit Kamikaze-Drohnen und lasergelenkten Bomben geführt. Russlands jüngste Vorstöße im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen am 17. März solle man nicht überbewerten. Doch ließen sich die jüngsten Rückschläge für die Ukraine nicht leugnen, darunter der Verlust der Stadt Awdijiwka. Wie steht es da um die Moral? „Alle sind müde. Unsere westlichen Partner sind müde. Ich würde mich selbst als Pessimistin bezeichnen“, meint Druzenko. „Nein, Realistin, das beschreibt es vielleicht besser.“ Ihrer Ansicht nach seien Menschenleben „wichtiger“, als die Krim oder andere besetzte Gebiete zurückzugewinnen. „Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels.“Der Chirurg Alex, der in einem mobilen Fronthospital arbeitet, erzählt, dass er häufig an medizinischen Evakuierungen teilgenommen habe, trotz des Risikos, bombardiert zu werden. „Vielleicht bin ich verrückt, aber es ist meine Berufung, das zu tun.“ Man habe kein Recht, sich demoralisiert zu fühlen. „Wir glauben an den Sieg und an ein ukrainisches Wunder“, versichert die 29-jährige Krankenschwester Mascha Zybulska. „Die verletzten Männer haben keine Angst und sind mutig. Also müssen auch wir weitermachen und auf den Durchbruch hoffen.“Wer an der Front verletzt geborgen wird, kommt zunächst auf eine Stabilisierungsstation und wird von dort in Militärkrankenhäuser im Hinterland gebracht. Nach Auskunft von Oleksandr, einem Arzt, der auf den Rufnamen „Großvater“ hört, leiden 95 Prozent der dort eingelieferten Soldaten an Schrapnell-Wunden. Oleksandr trägt ebenfalls einen Aufnäher am Arm. Auf seinem wird behauptet: „Ich heile, indem ich viel fluche“. Und an anderer Stelle ist zu lesen: „Kein Schritt zurück. Hinter uns liegt die Leichenhalle“. Das Fluchen helfe gegen Stresssymptome und bei der Heilung von Patienten, ist Oleksandr überzeugt.In einem Hospital in der Oblast Donezk wird ein Soldat namens Andrij wegen einer Gehirnerschütterung behandelt. Es handelt sich um einen 50-jährigen Militärfahrer aus der südukrainischen Stadt Cherson, die im Spätsommer 2022 zurückerobert wurde und seither fast täglich unter russischem Beschuss liegt. Andrij schildert, wie eine russische Drohne über seinem Schützenloch – einer metertief in die Erde gegrabenen Grube – schwebte und eine Bombe ausgeklinkt habe. „Natürlich ist es schlimm da draußen in einer solche Situation. Allein schon deshalb, weil sie mehr Drohnen haben als wir.“Auf die Frage, ob alle Soldaten, die sich in seiner Nähe befanden, überlebt hätten, schüttelt er traurig den Kopf. Der Arzt Vitalij Harnik, der gerade Dienst hat, ist zuversichtlich, dass Andrij sich in gut einer Woche wieder erholt haben wird. „Am Anfang leiden Patienten mit einer Kopfverletzung an einer Reihe von Symptomen. Ihnen ist schwindelig, und sie müssen sich häufig übergeben. Wir geben ihnen Medikamente. Was sie absolut nicht vertragen, ist Aufregung. Sie brauchen Ruhe.“ Harnik greift zur Behandlung auf eine Reihe von Routinetests zurück. Er fordert Andrij auf, die eigene Nase zu berühren, und kontrolliert die Atmung sowie den Puls, während ringsherum andere Verwundete auf ihren Handys surfen oder in ihren Feldbetten vor sich hin dösen.Laut Oleksandr kehren genesene Soldaten normalerweise zu ihren Einheiten zurück, sobald sie wieder fronttauglich sind. Bei der Armee habe man es mit einer Art Bruderschaft zu tun. „Die Soldaten wissen, warum sie kämpfen.“ Zurück in der Stadt Swjatohirsk, ist vom Frontarzt Vozniak zu hören, er habe seit Beginn des Krieges alles in allem nur zwei Wochen Urlaub genommen. Die Kameradschaft, die wachsende Erfahrung und der Humor würden ihm und seinen Kollegen helfen, mit herausfordernden Situationen an der Front umzugehen. Sein Rufname sei „Caspar“, der freundliche Geist aus einer alten Serie von Zeichentrickfilmen. Wann der Krieg zu Ende sein werde? Da habe er keine Ahnung. „Meine Frau ist auch Ärztin. Sie versteht, was ich tue. Sicher, mein Job mag schwierig sein, aber er ist allemal besser als das Ausheben von Schützengräben.“
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