Ukraine: Die unsichtbaren Schäden der Kriegsveteranen
Rehabilitation Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren, leiden unter Angstzuständen. Andere müssen sich an das Leben mit Prothese gewöhnen. Nicht wenige von ihnen sind suizidgefährdet. Sie alle brauchen Geduld und müssen den Mut finden, weiterzuleben
Frontnahe Reha-Kur: Ukrainische Soldaten erholen sich in Charkiw
Foto: Nicole Tung/NYT/Laif
Serhij Dowbysch verteidigte sein Zuhause in der Großstadt Tschernihiw, als etwas in ihm zerbrach. Russische Truppen waren nur ein paar Kilometer entfernt, es fielen Bomben, junge Soldaten unter seinem Kommando starben im Kampf. Dowbysch, Major und Vizekommandeur einer Armee-Einheit, fühlte sich dafür verantwortlich. „Alles in meinem Kopf und meiner Seele zerbrach. Man lebte noch, hatte aber nicht mehr das Gefühl, lebendig zu sein“, erzählt er. „Rund zehn Prozent der Männer in meinem Bataillon sind gefallen.“ Ein weiteres Drittel sei verletzt worden. „Man war ständig mit den Leuten zusammen, wie in einer großen Familie. Wenn sie sterben, fühlst du eine Wunde in deinem Herzen.“ Der Krieg habe psychische Probleme
eme verschlimmert, die ihm bereits früher zugesetzt hätten. „Ich wollte mutig und stark sein, um mein Land und meine Stadt zu beschützen, aber es war schwer, das durchzuhalten, wenn man wusste, dass die Russen jeden Moment angreifen konnten.“Dowbysch litt unter Depressionen und ist heute nicht mehr bei der Armee. Stattdessen arbeitet er mit Kriegsveteranen, die schwere körperliche Schäden erlitten haben oder unter Angstzuständen leiden. Andere müssen lernen, sich an das Leben mit einer Prothese zu gewöhnen. „Für diese Männer ist es eine Frage der Geduld. Sie müssen einen Grund finden, weiterzuleben. Einige wollen sich umbringen.“ Er wisse, dass sich mancher das Leben nimmt.Kickboxen und SchwimmenUkrainische Soldaten stehen seit dem Frühjahr 2014 im Kampf, als Russland die Krim-Halbinsel annektierte und die Donbass-Region im Osten abtrünnig wurde. Nach dem russischen Einmarsch vor knapp zwei Jahren meldeten sich viele Ukrainerinnen und Ukrainer freiwillig zum Militär. Derzeit gibt es eine Million aktive und einstige Armeeangehörige. Dowbysch meint, die Veteranen stellten eine enorme Herausforderung dar. Seine eigene psychische Konstitution habe er durch Wettkampfsport in den Griff bekommen.Er war 2023 bei den Invictus Games, einem internationalen Sportmeeting für ehemalige Soldaten, die körperlich versehrt oder psychisch beeinträchtigt sind. Dowbysch sagt, er wisse von Demobilisierten, die an Camps eines Reha-Zentrums in Kiew teilnähmen, bei dem Kickboxen, Schwimmen, Tischtennis und Massagen zum Therapieprogramm gehörten. Wie der Militärarzt Mykhailo Parfonow erklärt, seien besonders jene Veteranen schwer gezeichnet, die bei der Detonation von Minen oder Artilleriegranaten zu Schaden kamen. Es gebe Albträume und Panikattacken.Natürlich habe man die Absicht, die Soldaten so weit wiederherzustellen, dass sie an die Front zurückkehren können. Etwa vier Fünftel der Reha-Patienten seien irgendwann wieder einsatzfähig. Wer in russische Gefangenschaft geriet und ausgetauscht wurde, so Parfonow, kehre häufig in einem schlechten Zustand heim. „Die Betroffenen sind sehr reserviert. Man hat sie teils hungern lassen, oder sie wurden gedemütigt.“ Diese Veteranen suchten nur zögerlich psychologische Hilfe. „Sie haben Angst, als Versager verurteilt zu werden.“Im Vorjahr initiierte First Lady Olena Selenska eine Kampagne, mit der die Bevölkerung ermutigt werden sollte, sich um ihre seelische Verfassung zu kümmern. Eingeführt wurde die Online-Plattform „Ti Yak?“ (Wie geht es dir?). „Der Kampf gegen Schmerzen und gegen traumatische Erfahrungen – das ist eine unsichtbare Front, an der wir ebenfalls gewinnen müssen“, so die Präsidentengattin. 90 Prozent der Ukrainer hätten zumindest Symptome einer Angststörung, aber nur wenige suchten Hilfe.Es gibt zu wenige psychologische Fachkräfte in der UkraineDer in Kiew lebende irische Autor Paul Niland gründete 2019 den digitalen Dienst Lifeline Ukraine für Suizidprävention und seelischen Beistand. Seit Kriegsbeginn hat sich die Zahl derer vervierfacht, die dort Hilfe suchen, berichtet der Initiator. Die Selbstmordrate im Land gehe zwar zurück, bleibe aber hoch und liege über dem EU-Durchschnitt. 2020 nahmen sich in der Ukraine 31 von 100.000 Menschen das Leben, während der globale Durchschnitt bei 10,4 von 100.000 liegt. Ursprünglich zielte Lifeline Ukraine auf Veteranen und deren Familien, heute machen sehr viel mehr Menschen davon Gebrauch. Niland meint, dass sich seine Klienten zumeist große Sorgen machen, weil geliebte Menschen getötet werden könnten. Sie hätten außerdem damit zu kämpfen, ständig Bildern der Zerstörung ausgesetzt zu sein, in Städten wie Mariupol oder in jüngster Zeit im Awdijiwka, das weitgehend zerstört ist. Leider würden im Land psychische Probleme zuweilen stigmatisiert, was für ihn, so Niland, ein Erbe der Sowjetzeit sei. Hinzu komme ein Mangel an ausgebildeten Fachkräften, von denen es in der Ukraine deutlich weniger gebe als in Deutschland oder in den USA.Der evangelische Priester Vitaliy Paraskun stammt aus einer Industriestadt in der Region Luhansk nahe der russischen Grenze. 2015 beschuldigten ihn prorussische Separatisten, mit der Ukraine zu sympathisieren. Sechs Monate lang hielten sie ihn in einer verlassenen Mine fest. „Als ich wieder herauskam, war ich nervlich angeschlagen“, erzählt er. Paraskun wich in den Großraum Kiew aus. Dort erlebte er im Dorf Dymer den russischen Vormarsch vom März 2022 in Richtung der ukrainischen Hauptstadt. „Ständig überflogen Hubschrauber den Ort, die daran beteiligt waren, den Flughafen Hostomel einzunehmen. Das Auto meiner Tochter geriet unter Beschuss. Er war reines Glück, dass sie überlebte. Damals kam in mir das alte Trauma wieder hoch, und das schlimmer als zuvor.“ Paraskun flüchtete in den Kiewer Vorort Wyschhorod und begann in Schutzräumen Gottesdienste abzuhalten. Später wuchs seine Gemeinde, weil ihm nun viele zuhörten, die aus besetzten Gebieten geflohen waren. „In schwierigen Zeiten beten die Menschen inbrünstiger, um Trost bei Gott zu finden.“ Im Dezember habe er 40 Menschen zu einem unterirdischen Gottesdienst begrüßt, die gemeinsam der ukrainischen Soldaten gedenken wollten, die getötet wurden.Die Songwriterin Aina Vilberh und ihre prorussische MutterLängst verschärft der Krieg auch familiäre Spannungen, wenn derzeit mehr als vier Millionen Ukrainer im Ausland leben und etwa sechs Millionen Binnenvertriebene Halt finden müssen. „Männer, die das Land nicht verlassen dürfen, machen sich Sorgen, dass ihre Frauen nie mehr zurückkehren könnten. Es kommt zu Scheidungen, und daraus folgt Einsamkeit“, resümiert Paul Niland. Zudem gebe es Kinder, die Probleme mit ihren Vätern hätten, wenn die verändert von der Front kämen.Die Songwriterin Aina Vilberh schildert, wie das Verhältnis zu ihrer prorussisch eingestellten Mutter gelitten hat. „Sie lebt auf der Krim, es war zuvor schon schwierig.“ Sie selbst habe mit negativen Stimmungen zu kämpfen und trinke mehr Alkohol. Es würden Einnahmen versiegen, die sie früher bei ihren Konzerten erzielte. „Tut mir leid, ich sehe keine Zukunft für die Ukraine.“ Drei ihrer Freundinnen im europäischen Exil seien ebenfalls unglücklich. „Hier ist es schlecht, und dort ist es schlecht“, findet Vilberh. Serhij Dowbysch ist nicht so pessimistisch, seit er für sich eine neue Aufgabe gefunden hat. Er hilft früheren Soldaten, mit dem erlebten Grauen des Krieges umzugehen. Gerade war er zu einer Konferenz im westukrainischen Lwiw, die dem Thema Rehabilitation gewidmet war, und fand Kontakt zu Militärpsychologen aus Kanada wie Israel.
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