Ukraine: Wer eine Frau mit Behinderung heiratet, muss nicht an die Front
Desertion In der Ukraine versuchen Männer, der Armee zu entkommen. Manche erkaufen sich das Sorgerecht für ihre Kinder, andere die Ehe mit Pflegebedürftigen
Blond, groß gewachsen, schlank. Diese ebenso klischeehaften wie sexistischen Vorstellungen bei der Suche nach der perfekten Ehefrau sind in der Ukraine längst nicht mehr so weit verbreitet, wie sie es vielleicht mal waren, in den Zeiten vor dem Krieg. Der Heiratsmarkt funktioniert inzwischen eher nach dem Motto: „Je behinderter auf dem Papier, desto besser.“
Wie diskriminierend und billig dieser Satz auch klingen mag: Er funktioniert. Denn wenn ukrainische Frauen mit einer bescheinigten körperlichen Einschränkung in die Ehe einwilligen, dann rettet das vielen jungen Männern in der Ukraine das Leben. Wer seine Ehefrau pflegen und ins Ausland begleiten muss, kann sich dem Kriegsdienst entziehen und damit der Gefahr, an der Front getötet zu werden. Abe
erden. Aber diese Möglichkeit hat auch Konsequenzen – für die Frauen, und für die Männer. Angebot und Nachfrage nach einer solchen Scheinehe werden inzwischen natürlich massiv über die sozialen Medien befeuert, in der Ukraine hat sich eine regelrechte Heiratsindustrie zwischen Wehrpflichtigen und Frauen mit Einschränkungen entwickelt. Und das ist nicht die einzige Lücke, die von Männern genutzt wird, um ihr Leben zu schützen: Auch das alleinige Sorgerecht für Kinder wird seit Kriegsausbruch von Vätern erstritten.An der Grenze zu Polen wurden im Januar Grenzschutzbeamte auf eine 57-jährige Bewohnerin der Region Tscherkassy aufmerksam, die versuchte, ihrem „kriegsfähigen“ Ehemann bei der illegalen Ausreise zu helfen. Während der Grenzkontrolle präsentierten sie eine Heiratsurkunde und einen Behindertenausweis der Gruppe II, um die Reise ins Ausland zu legitimieren. Bei der Befragung stellten die Beamten aus Lwiw fest, dass das frisch vermählte Paar die Ehe nur deshalb eingegangen war, damit der Ehemann als Begleitperson einer Person mit Einschränkung ins Ausland reisen konnte. Später gestand das Paar, dass die Ehe gegen Bezahlung geschlossen worden war. Nun müssen sie vor Gericht.Obwohl die Einberufung zum Militär seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 ein großes Thema ist, wurden die innenpolitischen Diskussionen darum am 19. Dezember 2023 noch einmal angeheizt. An diesem Tag gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekannt, dass das Militär die Mobilisierung von zusätzlichen 450.000 bis 500.000 Wehrpflichtigen beantragt habe.24.000 FluchtversucheDer Entwurf der Regierung sieht unter anderem vor, dass alle Männer mit 25 statt bisher 27 Jahren eingezogen werden. Da es bislang kein festgelegtes Ende des Militärdienstes für die eingezogenen Ukrainer gab, wurden in jüngster Zeit auch Forderungen nach einer zeitlichen Begrenzung des Kriegseinsatzes der Soldaten lauter. Am 7. März hat der Präsident ein Gesetz über die Entlassung von Wehrpflichtigen in die Reserve unterzeichnet. Das bedeutet, dass Wehrpflichtige, deren Dienstzeit bereits abgelaufen ist, in naher Zukunft demobilisiert werden – für zwölf Monate. Doch nach dem Gesetzestext gibt es keine spezifischen Fristen, nach denen ein Wehrpflichtiger demobilisiert werden kann, sodass dies vom Staatschef entschieden wird.Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nach wie vor das Land nur unter bestimmten, sehr eng gefassten Voraussetzungen verlassen. Seit Beginn der russischen Invasion hat der staatliche Grenzschutz mehr als 24.000 Männer festgenommen, die versuchten, die Grenze illegal zu überschreiten. Und die Zahl der Männer, denen dies gelungen ist, könnte mehr als 20.000 betragen, wie die britische BBC herausgefunden haben will. Laut BBC sei dies durch die Abfrage von Daten über illegale Grenzübertritte aus den Nachbarländern Rumänien, Moldau, Polen, Ungarn und der Slowakei festgestellt worden.Die mehr als 40.000 Männer, die geflohen sind oder zu fliehen versuchten, könnten einen erheblichen Teil der Männer ausmachen, die die Ukraine benötigt, um ihre Armee aufzufüllen. Im August 2023 schätzten US-Beamte diese Zahl auf bis zu 70.000 – die ukrainische Regierung selbst allerdings will keine Zahl nennen.Das Land gibt auch keine offiziellen Zahlen über die Größe seiner Armee bekannt. Der neue Verteidigungsminister Rustem Umjerow erklärte jedoch im September auf dem Europäischen Strategieforum in Jalta, dass die ukrainischen Streitkräfte mehr als 800.000 Mann umfassten.Nach Angaben des ukrainischen Grenzschutzes wurden immer wieder Männer beim Versuch des illegalen Grenzübertritts festgenommen und vor Gericht gestellt. An der ungarisch-rumänischen Grenze versuchten Männer, die Grenze mit Schlauchbooten zu überqueren, wofür sie ihren „Helfern“ 2.000 Euro gezahlt haben sollen.Einige Fluchtversuche verliefen durchaus dramatisch oder auch tödlich. Ein Video zeigt beispielsweise einen Mann, der durch den Dnjestr in Richtung Moldau schwimmt, bis moldauische Grenzsoldaten ihn in Empfang nehmen. Ein anderes Video zeigt Leichen von Männern, die im Grenzfluß Theis zwischen der Ukraine und Rumänien treiben. Es gibt natürlich auch weniger gefährliche Versuche, dem Militärdienst zu entgehen. So fälschen Männer Dokumente, die sie für dienstuntauglich, behindert oder zum Vater von drei oder mehr Kindern erklären. Und zu den verbreiteten Strategien gehört das Schließen von Scheinehen mit behinderten Personen (um unter dem Vorwand ihrer Begleitung ins Ausland reisen zu können). Solche „Dienstleistungen“ kosten in der Ukraine derzeit mehrere Tausend Euro.Die Zahl der Männer, die vom Gericht das alleinigen Sorgerecht eines Kindes zugesprochen bekommen und damit vom Kriegsdienst befreit werden, hat sich inzwischen drastisch erhöht – fast verzehnfacht. Das Medienunternehmen NGL Media machte Anfang 2024 diese Form der Korruption publik. Im Juli des Vorjahres hatte sich der Anwalt einer Militäreinheit an das Medienunternehmen gewandt. Aus dieser Einheit hatten innerhalb kurzer Zeit ein Dutzend Soldaten ihren Austritt aus der Armee beantragt. Die Begründung: Sie seien nach ihrer Scheidung alleinige Vormunde ihrer minderjährigen Kinder. Mehr als 30.000 Sorgerechtsstreitigkeiten der letzten zwei Jahre untersuchte das investigative Team von NGL Media. Vor dem Krieg hätten sich die Familien oft untereinander geeinigt – oder die Frauen seien vor Gericht gezogen. Im Jahr 2019 seien nur 133 Entscheidungen zugunsten der Väter gefallen, 2022 waren es bereits 859 und im vergangenen Jahr 2.708.Auffällig sei laut NGL Media, dass 30 Prozent dieser Sorgerechtsentscheidungen von einem Gericht in einer Kleinstadt rund 80 Kilometer von Odessa entfernt getroffen wurden. Und genau dort gingen Klagen aus dem ganzen Land ein. Auch die Antikorruptionsbehörden sind auf diese Fälle aufmerksam geworden und haben Hausdurchsuchungen durchgeführt.Anwälte, Vermittler und vier Richter werden nun verdächtigt, von dem Verfahren profitiert zu haben. Die ukrainischen Männer sollen 3.500 Euro pro Sorgerechtsfall gezahlt haben. Diese wurden als Teil der Anwaltshonorars deklariert. Die Anwälte wiederum sollen die Bestechungsgelder an die Richter weitergeleitet haben. An das kleine örtliche Gericht seien durch dieses System allein im vergangenen Jahr rund drei Millionen Euro geflossen.Die Söhne der AbgeordnetenDas Dilemma all dieser Fälle und der aktuellen Debatte über den Kriegsdienst in der Ukraine liegt natürlich auf der Hand. Wenn man(n) nicht in den Krieg zieht, muss es ein anderer tun. Mit anderen Worten: Entweder man opfert sich selbst, oder man rettet sich und fordert das Opfer eines anderen. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist hier Gerechtigkeit gefragt.„Warum willst du nicht in der ukrainischen Armee dienen?“ Diese Umfrage hat die unabhängige ukrainische Medienplattform Hromadske auf ihrem Telegram-Kanal gestartet. Natürlich nannten die meisten der Antwortenden die Angst vor dem Tod. Doch viele Leser:innen empörten sich über die herrschende Ungerechtigkeit und Korruption im Land und die schlechten Strukturen in der Armee. „Entweder sind alle gleich oder sie verpissen sich mit ihrem Militärdienst“, heißt in vielen Kommentaren, oder: „Warum werden die Söhne und Angehörigen der Abgeordneten, Richter, Beamten und Sicherheitskräfte nicht eingezogen?“Die russische Propaganda spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der weitverbreiteten Abneigung, in den Krieg zu ziehen. Davon ist der ehemalige Bataillonskommandeur Jewgenij Dikij fest überzeugt. Unter den Ukrainer:innen würden in den sozialen Medien russische Propagandathesen verbreitet wie „Ukrainer werden als Kanonenfutter an die Front geworfen“ oder „Es gibt kein ukrainisches Land, für das es sich zu kämpfen lohnt“. Der Exkommandeur hat da eine klare Meinung: „Diese Argumentationen sind fehlerhaft und falsch, aber Tatsache ist, dass sie ein Jahr lang verbreitet wurden. Und wir selbst haben das zugelassen“, sagt Dikij auf Hromadske.Die Frage nach der gerechten Lastenverteilung beim Militärdienst in der Ukraine wird weiter Diskussionen auslösen. „Das Mobilisierungsgesetz wird noch für Empörung sorgen. Aber unabhängig davon werden Männer immer Mittel und Wege finden, die Mobilisierung zu umgehen“, sagt ein ukrainischer Journalist, der für europäische Medien berichtet und deshalb ausreisen darf, gegenüber dem Freitag. Er will anonym bleiben. Sein Argument: Auch wenn Versammlungen in Kriegszeiten verboten seien, könnten Demonstrationen die Unzufriedenheit verringern, wenn die Zeit des Militärdienstes befristet werde und die Männer nach Ablauf dieser Frist zu ihren Familien zurückkehren könnten. Die Demonstrationen von Soldatenfrauen haben etwas bewirkt. Die Korruption werde trotz der harten Strafen weiter blühen, meint der Journalist. Nur der Preis für den Freikauf vom Militärdienst werde steigen. Heute brauche man schon bis zu 9.000 Euro, um die Grenze überqueren.In der Rekrutierungsfrage sieht der Militärexperte Dikij derweil aber noch einen ganz anderen Spielraum. „Zwangsmobilisierungen sind keine Besonderheit der Weltgeschichte. Schließlich wurde noch nie ein großer Krieg allein durch Freiwillige gewonnen.“
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