Montage: der Freitag, Fotos: Javier Díez/Stocksy, GBlakely/iStock
Als in Russland zum Angriffskrieg gegen die Ukraine mobilgemacht wurde, machten nicht alle mit: Viele Männer flohen ins Ausland. Auch aus der Ukraine fliehen Männer vor dem Kriegsdienst. In Deutschland werden Deserteure kritisch gesehen. Stehen wir vor einem „Boom militärischer Heroismen“, wie der Kultursoziologe Ulrich Bröckling befürchtet?
der Freitag: Herr Bröckling, laut Pro Asyl bietet sich Deutschland russischen Flüchtlingen nicht gerade als Zuflucht an. Warum ist das so?
Ulrich Bröckling: Ich denke, das hat mit der hohen Zahl russischer Militärdienstflüchtlinge zu tun. Schätzungen zufolge haben sich seit Februar 2022 mehr als 250.000 russische Männer im dienstpflichtigen Alter ins Ausland abgesetzt. Deutschland un
russische Männer im dienstpflichtigen Alter ins Ausland abgesetzt. Deutschland und die anderen Staaten des Schengen-Raums sind nicht die Hauptzielländer, das sind Kasachstan, Georgien, Armenien, Türkei, Serbien und Israel. In einigen dieser Länder ist die Situation für die Geflüchteten äußerst prekär.Und in Deutschland?Asyl in der Bundesrepublik beantragten bis Ende August 2023 etwa 3.500 russische Männer zwischen 18 und 45 Jahren. Positiv beschieden wurden davon weniger als hundert Anträge. Es ist davon auszugehen, dass die restriktive Praxis andere Militärdienstflüchtlinge davon abhalten soll, hierherzukommen. Das ist wohl der wichtigste Grund. Es gibt aber noch einen eher symbolischen.Welchen?Wer sich dem Kriegsdienst entzieht, stellt das eigene Leben höher als die Staatsräson. Souveräne Staatlichkeit – und in diesem Punkt unterscheiden sich demokratische Staaten nicht grundsätzlich von autoritären Regimen – kommt nicht aus ohne den Anspruch, über Leben und Tod der Bürger:innen zu verfügen, sie etwa als Soldat:innen einzuberufen. Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Militärdienstflüchtlinge stellen diesen Anspruch infrage. Der Eigensinn der russischen Männer, die nicht im Krieg kämpfen wollen, ist insofern eine Provokation, zumal in Zeiten, in denen auch Deutschland wieder kriegstauglich gemacht werden soll.Sie sagen: Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Militärdienstflüchtlinge. Können Sie kurz erklären, worin sich diese drei Gruppen unterscheiden?Militärdienstflüchtlinge sind Zivilisten, die sich ihrer Einberufung entziehen, indem sie untertauchen oder ins Ausland gehen. Im Unterschied dazu handelt es sich bei Deserteuren um Soldaten, die aus dem Militär flüchten. Die Kriegsdienstverweigerer weigern sich aus religiösen oder politischen Gründen grundsätzlich, bei einem Krieg mitzumachen, und erklären das gegenüber den Behörden ausdrücklich. Diese drei Gruppen werden in rechtlicher Hinsicht unterschiedlich behandelt.Beispielsweise bei der Frage des Asyls in Deutschland, oder?Russische Deserteure haben relativ gute Chancen auf Asyl in Deutschland. Das ist aber nur eine sehr kleine Gruppe. Sich während eines Kriegseinsatzes von der Truppe abzusetzen, ist ja ungleich schwerer, als vor einer drohenden Einberufung das Land zu verlassen. Militärdienstflüchtlinge genießen dagegen in Deutschland keinen besonderen Schutz. Sie müssen nachweisen, dass ihnen in Russland politische Verfolgung oder harte Bestrafung drohen. Die Einberufung in einen völkerrechtswidrigen Krieg stellt keinen ausreichenden Schutzgrund dar.Inzwischen wird in Deutschland auch Stimmung gegen Ukrainer gemacht, die sich dem Militärdienst entzogen haben. Weshalb ist der Ton so rau geworden?Angesichts der Dauer und des Verlaufs des Krieges hat das ukrainische Militär Schwierigkeiten bei der Mobilisierung. Die Truppen, die zum Teil schon zwei Jahre an der Front kämpfen, sind erschöpft, häufig traumatisiert. Es gibt im Land eine Diskussion über Wehrgerechtigkeit, über Korruption bei den Einberufungsbehörden und Anfeindungen gegen diejenigen, die das Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60 umgangen haben und geflohen sind. Connection e. V., ein Verein, der seit den 1980er Jahren Verweigerer in Deutschland unterstützt, spricht von etwa 325.000 militärdienstpflichtigen Ukrainern in der EU, davon 100.000 in der Bundesrepublik. Hierzulande will die Mehrheit zwar, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, ihn zumindest nicht verliert, dafür werden ja auch zunehmend größere Waffensysteme geliefert. Was das Personal angeht, sollen die Ukrainer:innen das jedoch bitte selbst erledigen. In dieser Diskurslage sind die ukrainischen Militärdienstflüchtlinge ein Störfaktor. Die Bundesregierung hat allerdings erklärt, dass Abschiebungen ukrainischer Militärdienstflüchtlinge nicht infrage kommen. Bis jetzt erhalten sie wie alle Flüchtlinge aus der Ukraine vorläufigen Aufenthaltsschutz.Bis März 2025.Ob die Aussage der Bundesregierung auch danach noch gilt, wird man sehen.Sie arbeiten auch historisch zu Widerständen gegen militärische Rekrutierung. Was ist daraus für heute zu lernen?Historisch gesehen bestand militärische Mobilmachung schon immer zu einem erheblichen Teil darin, Widerständigkeit etwas entgegenzusetzen, durch rigide Strafen oder durch legale Möglichkeiten der Kriegsdienstverweigerung, die verhindern, dass unzuverlässiges Personal in die Kasernen einrückt. In der jüngeren Vergangenheit wurde dann angezweifelt, ob westliche Demokratien überhaupt noch in der Lage sind, Massenheere zu rekrutieren und ihre Truppen in länger dauernde Bodenkriege zu schicken. Unter dem Stichwort des Postheroischen gab es eine Diskussion über mangelnde Kriegsführungsfähigkeit. Postheroische Gesellschaften seien nicht bereit, so das Argument, hohe Gefallenenzahlen in Kauf zu nehmen. Deshalb setze man verstärkt auf ferngesteuerte Waffensysteme wie beispielsweise Drohnen, bei denen die Truppen kaum um Leib und Leben fürchten müssen. Die Kriegsführung wurde an eine kleine Gruppe professioneller Hightech-Soldaten ausgelagert, der Rest der Gesellschaft hatte damit wenig zu schaffen.In der Ukraine sieht das anders aus …Der Krieg in der Ukraine ist zwar ein Reallabor zur Erprobung neuester Waffentechnologien, doch rufen die Schützengräben und monatelangen Stellungskämpfe mit enormen Gefallenenzahlen auf beiden Seiten auch Erinnerungen an die „Blutmühlen“ des Ersten Weltkriegs hervor. Alte und neue Kriegsformen überlagern sich. Und mit der militärischen Konfrontation von Massenheeren in einem Abnutzungskrieg wird auch die Frage der Rekrutierung wieder dringlicher.Wann gelten Deserteure als Helden, wann als Feiglinge?Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert galten Deserteure als Feiglinge und Vaterlandsverräter. Während des Zweiten Weltkriegs wurden 30.000 Deserteure und sogenannte Wehrkraftzersetzer zum Tode verurteilt, 20.000 von ihnen hingerichtet. Obwohl es keine Frage war, dass die Armee, aus der sie desertiert waren, einen verbrecherischen Krieg geführt hatte, wurden die Urteile erst Anfang der 2000er Jahre für nichtig erklärt. In der Friedensbewegung gab es Versuche, Deserteure zu pazifistischen Helden umzudeuten, was mich nie so richtig überzeugt hat.Warum nicht?Es gibt allen Grund, diesen Männern größten Respekt zu zollen. Und selbstverständlich war es überfällig, für ihre Rehabilitation zu kämpfen. Dafür brauchte es allerdings keine Heldengeschichten. Heroisierungen sind eng an die Logik des Militärischen gekoppelt: Wer Helden und Heldinnen ausruft, will meist Opfer einfordern.Was macht der Krieg mit unserer Vorstellung von Heldentum?Jeder Krieg geht mit einem Boom militärischer Heroismen einher, auch der Ukraine-Krieg: Die Propaganda, die Totenfeiern, da trieft es nur so von patriotischem Heldenkult, stärker auf russischer, aber durchaus auch auf ukrainischer Seite. Auch in Deutschland hat sich in der jüngsten Vergangenheit die Tonlage geändert: Mit Verkündung der Zeitenwende wurde das postheroische Zeitalter abgewickelt. Verteidigungsminister Boris Pistorius will die Bundesrepublik in fünf Jahren „kriegstauglich“ machen. Die Stimmen für eine Wiedereinführung der ausgesetzten Wehrpflicht werden lauter. Ob die heroischen Appelle verfangen, steht noch dahin. Olaf Scholz, Robert Habeck, der Sänger Campino und andere Promis haben schon zu Protokoll gegeben, sie würden heute nicht mehr den Kriegsdienst verweigern. Ich hoffe mal, dass in der Generation, die gegebenenfalls einberufen würde, viele das anders sehen.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.