Ukraine-Krieg: Besuch in einem Frontlazarett, wo sich entscheidet, ob Verletzte überleben
Ukraine-Krieg In einem Feldlazarett an vorderster Front im Osten der Ukraine werden schwer verletzte Soldaten versorgt. Nur wenn das gelingt, haben sie eine Überlebenschance
Jewgenija Kolesnichenko (2. v. r.) wurde freiwillige Helferin, nachdem ihr Mann vergangenes Jahr bei Bachmut gestorben war.
Foto: Phil Caller/Guardian/eyevine
Auch wenn sie unter Beschuss geraten, arbeiten die Ärzte weiter. Sie tun es unter provisorischen Bedingungen und versuchen, Verwundete zu stabilisieren, bevor sie in Krankenhäuser gebracht werden können. Zunächst ist an diesem Tag in einem Feldlazarett der ukrainischen Armee im Osten alles ruhig, dann aber wird ein schwer verletzter Soldat gebracht. Eine Artilleriegranate hat in seiner Nähe eingeschlagen und Schrapnell-Wunden hinterlassen. Um Genaueres herauszufinden, beugt sich ein Team von Medizinern über den Patienten. Ihr Operationssaal liegt in einer weitläufigen Wohnung, die derzeit als Klinik dient. Kinderzeichnungen mit patriotischen Botschaften – Ehre sei der Ukraine! – hängen an der Wand.
Der bewusstlose Soldat liegt bald auf dem
ld auf dem Operationstisch und wirkt eher tot als lebendig. Die Ärzte nehmen zunächst Bluttransfusionen vor, während ein Sanitäter die Uniform aufschneidet. Ein anderer bandagiert das linke Bein, ein dritter spritzt Fentanyl, ein starkes Schmerzmittel. Draußen sind regelmäßig die Geräusche von Abschüssen ukrainischer Artilleriegeschütze zu hören. Die Frontlinie liegt nur fünf Kilometer entfernt.Nach etwa 20 Minuten stabilisiert sich der Zustand des Verwundeten. Er beginnt zu stöhnen: ein gutes Zeichen. Die Sanitäter legen ihn wieder auf die Trage, auf der er herkam, und hüllen ihn in eine goldfarbene Foliendecke. Nun folgt der Transport von dem provisorischen Feldlazarett in ein Krankenhaus. Eine riskante Tour, russische Truppen beschießen die schlammige Route, die an herbstlichen Sonnenblumenfeldern vorbei- und durch halb verlassene Dörfer führt.Im Schutz der Dunkelheit„Er hatte sehr viel Blut verloren. Nach 30 Minuten ohne Behandlung wäre er tot gewesen“, sagt Dr. Denys Sholom, der Leiter des Lazarett-Teams. „Jetzt wird er wahrscheinlich überleben.“ Mit einer ersten Versorgung an diesem „Stabilisierungspunkt“ stelle man sicher, dass Soldaten mit schweren Kampfverletzungen überleben und danach weiterbehandelt werden können. Sholom fügt hinzu: „Wir retten 98 Prozent unserer Fälle.“Dieser Krieg ist mittlerweile auf beiden Seiten durch einen unerbittlichen und schrecklichen Artilleriebeschuss geprägt. Menschen werden von großen und kleinen Splittern durchsiebt. „Die meisten Verwundungen – 80 bis 85 Prozent – werden durch Granaten verursacht“, so Dr. Sholom. Der gerade behandelte Soldat sei am Bein, am Bauch und am Kopf getroffen worden. Häufig kämen Schwerverletzte in den frühen Morgenstunden hierher. Sie würden im Schutz der Dunkelheit aus den Schützengräben geholt. Die Gefallenen bringe man um die gleiche Zeit direkt in eine Leichenhalle.Sholom ist ausgebildeter Kinderanästhesist und 37 Jahre alt. Zusammen mit dem Chirurgen des Teams arbeite er weiter, wenn Bomben fallen, während andere Kollegen im Keller Schutz suchten. „Manchmal müssen wir amputieren. Sobald auch nur die geringste Chance besteht, einen Arm oder ein Bein zu retten, schicken wir den Patienten zur Behandlung woandershin.“Der Standort dieses Frontlazaretts kann aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Nur so viel: Es liegt in der Nähe von Bachmut. Im Mai nahmen russische Streitkräfte die Stadt im Donbass nach einer monatelangen, zermürbenden Belagerung ein. Gegenwärtig versuchen sie an der über 700 Kilometer langen Front im Osten und Süden Boden zu gewinnen. Im Großraum Charkiw nähern sich Verbände Kupjansk und dem Fluss Oskil. Südöstlich der weiter umkämpften Stadt Awdijiwka sind russische Truppen in ein Industrierevier eingerückt, nachdem sie mit Panzern über die Jassynuwata-Allee vorstießen.Kein Ende des Ukraine-Krieges in SichtVieles deutet darauf hin, dass es sich um die größten und ehrgeizigsten Operationen seit Monaten handelt. Mindestens drei Brigaden stehen nach einem überraschenden Angriff vor Awdijiwka, einer von der Ukraine gehaltenen Frontstadt in der Nähe von Donezk. Verbände aus Panzern und gepanzerten Fahrzeugen, unterstützt durch Infanterie, machten Fortschritte, schafften es jedoch bisher nicht, Awdijiwka völlig einzukreisen.Die ukrainische Armee vermeldet ihrerseits taktische Erfolge, etwa bei den Ortschaften Klischtschijiwka und Andrijiwka. Gekämpft wird entlang einer Eisenbahnstrecke, die beide Siedlungen verbindet. Zusehends wird dieser Konflikt zu einer Schlacht der Schützengräben und Feldgeschütze, was auf unheimliche Weise an den Ersten Weltkrieg erinnerte, wären da nicht eine moderne elektronische Kommunikation und der Einsatz von Killer-Drohnen.Unter diesen Umständen sterben weiterhin ukrainische Soldaten, die ihr Heimatland verteidigen, ohne dass ein Ende des Krieges in Sicht wäre. Dr. Sholom meint, er sei an das tägliche Gemetzel gewöhnt. Gerade versammelt er sein Personal in einem verrauchten Treppenhaus, das durch Betonwände geschützt ist. Ringsherum gebe es weder Wasser noch Strom. Ein Generator sorge für Licht und den Betrieb der medizinischen Ausrüstung. Wie kommt er mit der ständigen Todesgefahr zurecht? „Der Teufel weiß es, aber es ist in Ordnung.“Ivan, ein 30-jähriger Arzt, glaubt, dass man im Moment kaum mit einer Waffenruhe rechnen könne. „Ich möchte es, aber ich glaube nicht, dass es passiert.“ Er sagt, die Ukrainer wüssten, warum sie kämpfen. „Es gibt einen Unterschied zwischen der Ukraine und Russland. Sie sind Sklaven und wir nicht. Sklaven gehen dorthin, wo es ihnen gesagt wird.“ Bisher seien eine Handvoll seiner Patienten verwundete russische Soldaten gewesen. „Wir haben sie wie jeden anderen behandelt.“Nicht alle im Team sind professionelle Mediziner. Jewgenija Kolesnichenko etwa unterrichtete früher Religion. Sie sei freiwillige Helferin und Krankenschwester geworden, nachdem ihr Mann letztes Jahr bei Bachmut gestorben sei. „Er wurde schwer verletzt und blieb zunächst ohne medizinische Hilfe. Jetzt versuche ich, hier Menschen zu retten.“ Sie kam vor zwei Wochen ins Lazarett. Voller Angst? „Nicht im Geringsten. Ich konzentriere mich auf die Arbeit und interessiere mich nicht für die Welt.“In einem Korridor hängen Bilder von Ukrainern aus verblichenen Zeiten, mittelalterliche Recken in Rüstung wechseln sich ab mit Kosaken-Kriegern. Auf einem blau-gelben Banner liest man: „Fünfte Separate Angriffsbrigade, Sanitätsabteilung, an der Spitze eines Speers, der Leben rettet“.„Mein Herz schmerzt. Aber das hält uns nicht auf“Die Moral unter den Soldaten scheint gut zu sein. In einer Kampfpause in der Nähe von Bachmut meint Sergej Kraynjak, der zur Fünften Brigade gehört, dass keine Seite dem Sieg nahe sei. „Wir machen weiter, aber nicht in dem Tempo, das wir uns wünschen.“ Die Russen hätten überall ihre Stellungen ausgebaut, was ein Vorankommen erschwere. „Die Ukraine hat eine starke Armee, aber es gibt Momente, in denen das nicht reicht.“ Es fehle an Nachschub, vor allem bei Granaten. Artilleriegeschütze und F-16-Jets würden ebenso gebraucht.Laut Kraynjak sind „70 Prozent der russischen Soldaten Idioten und 30 Prozent Profis“. Die Dummen würden zu anfliegenden Drohnen hinaufstarren, statt sofort in Deckung zu gehen. Er zeigt Videos, die von seiner Einheit aufgenommen wurden. Man filmte im Mai tote russische Soldaten auf einem Gelände westlich von Klischtschijiwka und Straßenkämpfe in Bachmut, bevor die Ukraine aufgab. Es lag noch Schnee, als das der Fall war. Man sieht ein Maschinengewehr, das ununterbrochen feuert. Später machen Soldaten Rast in einem baumbestandenen Hain und trinken Tee.Genaue Zahlen zu den Kriegsopfern seit Februar 2022 sind nicht verfügbar. Nach US-Schätzungen soll eine halbe Million Kombattanten auf beiden Seiten getötet oder verwundet worden sein. Dmytro Bezverbnyi, ein Schauspieler aus der Westukraine und ebenfalls Teil der Fünften Brigade, meint, es sei hart gewesen, als seine Freunde getötet wurden. „Mein Herz schmerzt. Aber das hält uns nicht auf. Wir wissen, dass sie für die Ukraine gestorben sind.“ Bezverbnyi hat regelmäßig Kontakt mit seiner Frau, die sich Sorgen mache. Man neige dazu, nicht über den Krieg zu sprechen, sondern über das „normale“ Leben. „Ich sage ihr immer, dass alles in Ordnung ist.“ Trifft das zu? „Nicht ganz.“Im Frontlazarett entspannen sich die Ärzte und Helfer bei einer Pause. Manche scrollen auf ihren Smartphones, andere dösen vor sich hin oder bereiten das medizinische Equipment für den nächsten Einsatz vor. Eine Katze läuft über den Parkettboden, während die Detonationsgeräusche draußen nicht abreißen – ein regelmäßiges, immer wieder gleiches Dröhnen. „Wir brauchen mehr Panzer“, sagt Dr. Sholom zum Abschied.
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