Für die Regierung in Kiew ist die Bilanz der seit Juni andauernden militärischen Vorstöße mehr als ernüchternd. Nach fünf Monaten schwerster Offensivkämpfe und horrender Verluste an Menschen wie Technik waren ihre Verbände am erfolgreichsten, als sie bei Robotyne zwölf Kilometer an Tiefe gewannen. An anderen Frontabschnitten blieben Fortschritte gering oder ganz aus.
Der Plan, durch abrupte Schläge die russischen Linien an der Saporischschja-Front zu durchbrechen und bis ans Asowsche Meer vorzurücken, scheiterten an weiträumigen Minenfeldern, gut gestaffelter Verteidigung und massivem Einsatz von Kamikaze-Drohnen durch den Gegner. Weder deutsche Leoparden noch britische Challenger 2 konnten zum Durchbruch verhelfen. Sie lagen genau
Weder deutsche Leoparden noch britische Challenger 2 konnten zum Durchbruch verhelfen. Sie lagen genauso brennend in der ukrainischen Steppe wie sowjetische T-Modelle. Bezeichnend ist, dass die US-Abrams gar nicht erst eingesetzt wurden. Ukrainische wie russische Militärbeobachter vermuten, das geschah auf Bitten aus Washington, wo man Bilder von lodernden Abrams aus Prestigegründen vermeiden wollte.Letzter Trumpf F-16-JetsDen symbolischen Schlusspunkt der Offensive setzten die ballistischen Raketen ATACMS aus US-Beständen. Seit Monaten war die Lieferung dieser Systeme umstritten und sorgte für hitzige Debatten. Die Befürworter argumentierten, dass die Raketen ein „Game Changer“ seien und russische Linien kollabieren ließen. Gegner dieses Transfers befürchteten eine unkontrollierbare Eskalation, falls ATACMS gegen russisches Territorium zum Einsatz kämen.Die mediale Aufmerksamkeit wurde so groß, dass im Weißen Haus nach langem Hinauszögern entschieden wurde, Kiew mit einer sehr begrenzten Zahl an Raketen auszustatten, was erst im Nachhinein eingeräumt wurde. Zur Begründung hieß es, dass man so den Transport vor möglichen russischen Angriffen schützen und einen Überraschungseffekt beim Ersteinsatz erzielen wollte. Als ukrainische Truppen dann Mitte Oktober die Raketen abfeuerten, blieb die Bewertung zwiespältig. Ob Game Changer oder Eskalationsgrund – am Ende trat nichts davon ein. Eher reihten sich die ATACMS schnell in die Routine des Krieges ein, wie zuvor die ebenfalls als Game Changer gepriesenen HIMARS, Storm Shadows oder SCALP-Marschflugkörper.Erster ATACMS-AngriffEin erster ATACMS-Angriff galt einem russischen Militärflughafen bei Berdjansk am Asowschen Meer und verursachte Verluste bei Personal wie Flugtechnik. Weitere ATACMS-Raketen sollen seither abgeschossen worden sein, aber trotz einiger Verluste führte das bisher weder zum Kollaps russischer Logistik noch der Luftwaffe im Kriegsgebiet. Angesichts des geringen Quantums an übergebenen Raketen – in US-Medien ist von bis zu 20 Stück die Rede – dürften solche Angriffe rar bleiben. Die ATACMS wurden zum letzten verfügbaren Mittel, das der ukrainischen Offensive einen ultimativen Impuls geben sollte, dies aber nicht tat. Der Westen hat nun so ziemlich alle Waffensysteme geliefert, um die Kiew gebeten hat. Letzter Trumpf wären F-16-Jets, die freilich erst im Sommer 2024 einsetzbar wären.Obgleich die Sommeroffensive an der Saporischschja-Front Geschichte ist, verheißt das keine Kampfpause. Bevor der Winter kommt, wollen beide Seiten zu neuen Operationen ausholen oder haben damit schon begonnen. Nach dem gescheiterten Durchbruch in Saporischschja schwenkt der ukrainische Generalstab Richtung Dnjepr um. Seit Wochen überqueren Kleintrupps auf Schnellbooten den Strom, um Brückenköpfe auf dem russischen kontrollierten Ostufer zu errichten.Zwangsevakuierung für Zivilisten am DnjeprEine zweite Phase dieser Herbstoffensive könnte auf eine größere Landungsoperation hinauslaufen, um aus einzelnen Brückenköpfen eine neue Front zu bilden. Dazu wurde eine Zwangsevakuierung für Zivilisten am Westufer des Dnjepr auf einer Länge von 200 Kilometern verfügt. Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Gebiet als Sperrzone gebraucht wird, um groß angelegte Kampfhandlungen ungestört auslösen zu können. Zwei Aspekte sind für die ukrainischen Truppen dabei von Vorteil. Zum einen ist das Westufer deutlich höher als das Ostufer. Die ukrainische Artillerie hat so einen natürlichen Höhenvorteil und kann das Ostufer effektiv unter Beschuss nehmen. Zum anderen hat sich das Dnjepr-Flussbett nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Anfang Juni deutlich verkleinert. Ein Überqueren des verengten Stroms ist mittlerweile an deutlich mehr Stellen möglich als noch letzten Sommer. Ein ausbaufähiger Brückenkopf auf dem Ostufer könnte für Kiew zum wichtigsten Ziel der nächsten Wochen werden – militärisch wie politisch. Die Regierung Selenskyj muss zumindest die „Herbstkampagne“ mit einem klaren Erfolg abschließen, um mit einem Sieg in die näher rückende Winterperiode zu gehen.Die russische Führung wiederum sieht sich derzeit in einem günstigen Moment, um die Initiative bei Offensivhandlungen an sich zu reißen. Die Logik dahinter ist klar. Zahlreiche ukrainische Brigaden wurden wegen hoher Verluste ins Hinterland geführt, um sich zu regenerieren. Zudem scheint sich sowohl unter westlichen wie ukrainischen Politikern Verunsicherung über das weitere Vorgehen auszubreiten, weil die mit großen Erwartungen befrachtete Sommeroffensive nicht den versprochenen Erfolg brachte. Das russische Oberkommando, dazu nicht wenige Kriegsreporter erkennen jetzt einen militärisch wie psychologisch günstigen Moment, selbst in die Offensive zu gehen.Schon seit Wochen versuchen Stoßtruppen bei Kupjansk im Norden Geländegewinne zu erzielen. Den schwersten Ansturm erlebt derzeit der Industriestandort Awdijiwka im Donbass. Seit nunmehr drei Wochen sind russische Verbände an diesem Frontabschnitt zum Angriff übergegangen und versuchen, den Ort einzukesseln. US-Medien beschreiben diese Operation als „einen der größten Vorstöße Russlands seit dem Frühjahr“. Die schweren Kämpfe zwangen den ukrainischen Generalstab bereits, Reserven heranzuziehen, was wiederum die eigenen Kontingente an anderen Fronten ausdünnt.Sich aufreiben in Awdijiwka und SaporischschjaOb die Einnahme Awdijiwkas gelingt, ist allerdings alles andere als sicher. Der Ort ist seit 2014 umkämpft und verwandelte sich seitdem in eine einzige Festung, die zudem von den alten sowjetischen Industriewerken und Industriehalden als Defensivstellungen profitiert. Russische Stoßtrupps erleiden große Verluste und erfahren derzeit die gleichen Probleme wie die Ukrainer zuvor bei Robotyne, Werbowe und anderswo: Minenfelder und präzise Panzerabwehrwaffen sind eine Bastion. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich russische Verbände bei Awdijiwka genauso aufreiben, wie das ukrainische im Sommer im Raum Saporischschja getan haben.Der Ukrainekrieg scheint eine Phase erreicht zu haben, in der Offensivhandlungen dadurch stark beeinflusst werden, dass beide Seiten über viel Verteidigungstiefe und eine hohe Feuerdichte an der Front verfügen, dass Durchbrüche entweder gar nicht möglich sind oder mit einem horrenden Blutzoll bezahlt werden müssen, der in keiner Relation zum gewonnenen Terrain steht. Die Verhältnisse erinnern an den Stellungskrieg und die Materialschlachten zwischen 1914 und 1918 an der Westfront. Mit dem einsetzenden Herbstregen und der in Osteuropa unter dem Begriff „Rasputiza“ bekannten Schlammperiode dürfte der so statische wie blutige Grabenkampf noch zunehmen. Bilder und Zustände scheinen Verdun im Jahr 1916 zu zitieren.