Migration, Finanzen, Klima, Krieg, Gesundheit: Zu welchem Krisen-Lager gehören Sie?
Polykrise Was ist für Sie die wichtigste Krise: Migration oder Klima? Deindustrialisierung oder Krieg? Die daraus folgenden politischen Trennlinien werden wohl die Europawahlen im Juni entscheiden. Und zu überraschenden Konstellationen führen
Wird die extreme Rechte bei den im Juni anstehenden Europawahlen einen Erdrutschsieg landen können? Und wenn ja, was würde das für die Zukunft der EU bedeuten? Wer ist die extreme Rechte überhaupt? Vor fünf Jahren warnten viele regierende Politiker zu Recht, dass die Europäer eine Art kollektiven Schwindelanfall erlitten. Um es mit Milan Kundera zu sagen: Vertigo ist nicht das Gleiche wie die Angst vor dem Absturz – es ist vielmehr der Wunsch zu fallen, gegen den wir uns in unserer Angst wehren. Damals liebäugelten die Wähler mit vielen Rechtspopulisten und flirteten mit einem Kollaps der EU nach. Doch am Ende wählte die Mehrheit dann doch die Parteien des Mainstreams.
Es scheint unwahrscheinlich, dass sich dieses Szenario dieses Mal wieder
Mal wiederholt. Heute haben die meisten rechtsextremen Parteien die Forderung nach einem Austritt ihrer Länder aus der EU oder dem Euro aufgegeben, viele haben Kreide gefressen. Statt aus der EU auszutreten, wollen sie sie umgestalten und nach ihren Vorstellungen regieren. Nach den jüngsten Wahlen in den Niederlanden und der Slowakei sowie den Regionalwahlen in Österreich und in manchen Landkreisen in Deutschland zeichnet sich ein Konsens darüber ab, dass die bevorstehenden Europawahlen im Juni im Desaster enden könnten und dass das Migrationsthema das einzige sein wird, das den Wahlkampf bestimmen wird. Es könnte allerdings sein, dass dieses Bild in die Irre führt.Es stimmt, dass in Europa gerade die Krisenstimmung grassiert. Aber das Thema Migration macht nur eine von fünf Krisen aus, die den Kontinent in den letzten 15 Jahren erschüttert haben. Sie folgt auf eine globale Finanzkrise, die viele Europäer daran zweifeln ließ, ob ihre Kinder einen höheren Lebensstandard als sie selbst haben würden, und auf eine Klimakrise, die sie zwang, ihren Planeten und ihre Umwelt als fundamental gefährdet zu betrachten. In der Zwischenzeit führte Covid-19 die Anfälligkeit unserer Gesundheitssysteme vor Augen und weckte Ängste vor einem neuen digitalen Autoritarismus. Und schließlich hat der Krieg in der Ukraine die Illusion begraben, dass es auf dem europäischen Kontinent nie wieder einen größeren Krieg geben würde.Wir sind nicht alle im gleichen Maße von denselben Krisen betroffenDiese fünf Krisen haben mehrere Dinge gemeinsam: Sie betrafen ganz Europa, sie wurden von vielen Europäern als existenzielle Bedrohung empfunden, sie hatten dramatische Auswirkungen auf die Regierungspolitik und sie sind noch lange nicht vorbei. Aber diese fünf Krisen sind nicht gleich: Sie haben unterschiedliche Ängste und Empfindungen ausgelöst und haben Europa gleichzeitig auseinandergerissen, aber – paradoxerweise – auch zusammengehalten.Eine Studie, die wir vor kurzem durchgeführt haben, führt zu dem Ergebnis, dass verschiedene Gruppen unterschiedlich von den verschiedenen Krisen betroffen sind: Und dass es deshalb in Europa fünf verschiedene „Lager“oder „Horden“ gibt, deren politische Identitäten sich als Reaktion auf diese Krisen herausgebildet haben. Diese Lagerbildung führt zu Spaltungen zwischen und innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU.Oft wird der Begriff „Polykrise“ verwendet, um damit auszudrücken, dass derzeit mehrere Krisen mehr oder weniger gleichzeitig stattfinden und dass der Schock ihrer kumulativen Interaktion schwerer wiegt als die Summe der einzelnen Auswirkungen. Ein wenig beachtetes Merkmal der Polykrise ist jedoch, dass für verschiedene Gesellschaften, soziale Gruppen und Generationen in der Regel eine Krise eine dominante Rolle gegenüber anderen spielt. Emmanuel Macron hat dies gut auf den Punkt gebracht, als er diejenigen, die sich um das Ende des Monats (Wirtschaftskrise) sorgen, denen gegenüberstellte, die sich um das Ende der Welt (Klimakrise) sorgen. Das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen, dass jeder seine eigene Krise haben will. Die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine, Covid-19, Migration und die globalen wirtschaftlichen Turbulenzen – jedes dieser fünf Themen hat seine eigene große „Anhängerschaft“ von Menschen, für die es „Die Krise“ ist.Nur in Deutschland ist „Migration“ das Top-ThemaInteressanterweise ist Deutschland das einzige Land, in dem das Thema Migration klar an erster Stelle steht, wenn man die Menschen fragt, welche Krise sie am meisten beunruhigt, wenn sie an die Zukunft denken. Die Esten und Polen konzentrieren sich auf den Krieg in der Ukraine. Italien und Portugal sehen die Wirtschaftskrise als ihre größte Bedrohung an. Spanien, Großbritannien und Rumänien sind die Länder, in denen Covid-19 als das größte Trauma angesehen wird. Und in Frankreich und Dänemark wird die Klimakrise als die wichtigste Krise angesehen.Die derzeitige Beschäftigung mit dem Thema Migration rührt nicht daher, dass die meisten Menschen in den meisten Ländern davon besessen sind, und auch nicht daher, dass es das Thema ist, das die Gesellschaften am meisten spaltet.In Wirklichkeit beobachten wir die Entstehung einer Art Migrationskonsens in ganz Europa: Die Unterstützung für eine Verstärkung der Außengrenzen ist unter den politischen Parteien alltäglich geworden. Aber was das „Migrationslager“ – diejenigen, für die die Migration die Krise definiert – auszeichnet, ist Intensität. Sie sind am wütendsten über EU-Politik, und ihre Wut treibt sie nach rechts. Diejenigen, die Flucht und Migration als die größte Krise ansehen, werden sehr wahrscheinlich Mitte-Rechts- oder Rechtsaußen-Parteien wählen: in Deutschland die AfD, in Frankreich Marine Le Pens Rassemblement National oder Éric Zemmours Reconquête.Das Klima ist die andere Krise, die ihre „Anhänger“ in eine klare politische Richtung führt. Das Klimalager ist das Spiegelbild der Migrationslager, ihre Mitglieder sympathisieren zumeist mit grünen oder Mitte-Links-Parteien. Der Kampf zwischen diesen beiden Gruppen wird die kommenden Europawahlen bestimmen.Nach Melonis Wahlsieg haben sich die italienischen Rechten entspanntInteressanterweise zeigen diese beiden Lager sehr unterschiedliche Haltungen, sobald ihre bevorzugten Parteien an der Macht sind. Wenn die Migrationsbefürworter sehen, dass rechte Parteien an der Macht sind, neigen ihre Anhänger dazu, das Thema entspannter anzugehen. In Italien rangiert die Einwanderung unter den Sorgen vieler Wähler erstaunlich weit unten: Nur 10 Prozent der Bevölkerung des Landes und nur 17 Prozent der Anhänger der „Fratelli d'Italia“ (FdI) bezeichnen sie als die Krise, die sie am meisten umtreibt, und dies ungeachtet der Tatsache, dass die Partei FdI gerade deshalb gewählt wurde, weil sie sich klar als Anti-Einwanderungspartei positioniert hat und der Zustrom illegaler Einwanderer im letzten Jahr zugenommen hat.Das Klimalager verhält sich genau umgekehrt. Unsere Umfragen in Deutschland zeigen, dass sich die Menschen weiterhin Sorgen über die Klimakrise machen, selbst wenn die Grünen an der aktuellen Regierung beteiligt sind. Obwohl es Deutschland im vergangenen Jahr gelungen ist, die Kohlendioxidemissionen um beeindruckende 20 Prozent zu senken, sieht das Klima-Lager das Problem nicht als gelöst an. Kurz gesagt, die Wähler mögen glauben, dass die Wahl einer rechtsextremen Regierung die Antwort auf die Einwanderungsängste ist – auch wenn sich in der Realität wenig ändert –, aber sie halten den Klimanotstand nach der Wahl der Grünen nicht für überwunden.Diese Asymmetrie – dass das Migrationslager durch Rhetorik mobilisiert wird, während das Klimalager selbst dann leidet, wenn es Ergebnisse liefert – erklärt in gewisser Weise den tatsächlichen Vorteil der Rechten bei den kommenden Wahlen.Jede der fünf Krisen in Europa wird auf verschiedenen Arten und Weisen weiterexistieren, aber die Wahl wird insofern wichtig, als sie herausstellt, welche Krise gerade Konjunktur hat und welche in den Hintergrund rückt. Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Wahlen nicht nur ein Wettstreit zwischen Linken und Rechten – oder Pro-Europäern und Euroskeptikern – sein werden, sondern auch ein Kampf um die Vorherrschaft zwischen den verschiedenen Krisenlagern in Europa. Nicht Polarisierung, sondern Fragmentierung prägt die europäische Politik. Viele Wähler werden sich danach entscheiden, wie ihre eigene Krise abgewendet werden könnte. Sich allein auf das Migrationsthema zu konzentrieren, wäre der falsche Weg.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.