Hunderttausende auf der Straße, ganz Deutschland hasst die AfD? Wohl kaum, denn die Partei steht in Umfragen im Osten noch immer bei 30 Prozent. Im thüringischen Jena berichtete ein Gewerkschafter der IG Metall bei der Kundgebung: Viele seiner Kolleginnen und Kollegen seien unzufrieden, tendierten zur AfD. An den Protesten könne sich die IG Metall nur beteiligen, wenn sie zugleich Kritik an der Ampel-Politik übe. Was schwierig wird, wenn die Regierung mitdemonstriert.
Der Gewerkschafter verweist auf eine blockierte Republik, in der es den politischen Eliten nicht gelingt, zwingend nötige Veränderungen durchzusetzen und mit der Aussicht auf ein besseres Leben für alle zu verbinden. Einer großen Mehrheit geht es mit dem Klimaschutz zu langsam voran (84
voran (84 Prozent); auch möchte man der Wirtschaft strengere Klima-Vorgaben machen (75 Prozent). Ebenso viele sind aber auch der Ansicht, der Klimaschutz belaste die Menschen mit geringem Einkommen zu stark. Die Daten unserer Studie signalisieren, an was es fehlt. Denn: Der Souverän arbeitet. Er ist von Löhnen und Gehältern abhängig, bei Geschäftsmodellen und Produkten kann er jedoch nicht mitentscheiden. Die liberale ist deshalb nur eine halbierte Demokratie, wusste der Soziologe Ulrich Beck. In Zeiten tiefgreifender Transformation wirkt sich das verheerend aus.Zumal wichtigste Treiber für klimaschädliche Emissionen die Investitionen sind und nicht der individuelle Konsum. Wer entscheidet über diese Emissionen? Das tut beispielsweise Steve Angel. Als CEO des Industriegaskonzerns Linde strich er mit 18,5 Millionen US-Dollar jährlich das 245-Fache des Durchschnittsgehalts seiner Beschäftigten ein.Dem obszönen Reichtum und der monopolisierten Entscheidungsmacht kapitalistischer Eliten steht eine Rekordzahl abhängig Beschäftigter gegenüber, deren Gewerkschaften trotz heftiger Arbeitskämpfe nicht einmal einen vollen Inflationsausgleich durchsetzen konnten. Dass die latente Unzufriedenheit über so eine Ungerechtigkeit nicht zum „Triggerpunkt“ wird, liegt an einer politischen Blockade. 89 Prozent der von uns Befragten meinen, dass der gesellschaftliche Reichtum gerechter verteilt sein könnte, doch kaum jemand glaubt daran. In der Ampel blockiert die FDP jeden Versuch, die Vermögenden entsprechend ihrem überdimensionalen Klimafußabdruck an den Kosten der sozialökologischen Transformation zu beteiligen. Die Grünen sorgen für die Erhöhung des CO₂-Preises, streichen aber das Klimageld, das für eine Entlastung sorgen sollte.Werden solche Maßnahmen mit dem Gestus eines moralisch überlegenen Oberlehrers begründet, geht der Schuss nach hinten los. Die Union favorisiert mit Schuldenbremse und marktgetriebener Transformation eine rückwärtsgewandte Utopie des Kapitals. Weil auch die von Grabenkämpfen beherrschte Linkspartei als Alternative ausfällt, entsteht ein Vakuum, das die radikale Rechte nutzt.Der Einfluss der AfD lässt sich durchaus begrenzen. Die Auseinandersetzung muss auf der persönlichen Ebene beginnen, auch am Arbeitsplatz, im betrieblichen Alltag. „Magst du mich?“, lautet die Frage, mit der eine Gewerkschafterin ihre Diskussionen mit Beschäftigten im Eisenacher Opel-Werk beginnt. Nach diesem Einstieg macht sie ihre Homosexualität zum Thema, erläutert die AfD-Positionen zu Familie und zur Rolle von Frauen, um dann festzustellen: „Du magst mich nicht, denn sonst wäre eine solche Partei für dich unwählbar!“ Mit dieser Ansprache hat die Vertrauensfrau Erfolg. Nicht Zahlen, Daten, Fakten, sondern Freundschaft wird Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung, die politisch wirkt. Jede und jeder kennt andere, die den Alltagskampf führen können – rasch, ohne großen Aufwand. Zwischenmenschlich.Die fachliche Inkompetenz der AfD lässt sich glaubwürdig nur attackieren, wenn anstelle einer harmonistischen Einheitsfront der Demokraten mit solidarischer Distanz verfahren wird. Beim Thema Marktgläubigkeit sind Ost-CDU, FDP und selbst Teile der Ost-SPD oft nicht weit von der AfD entfernt. Doch bei aller Kritik ist es sinnvoll, den CDU-Kandidaten Christian Herrgott zum Landrat im Saale-Orla-Kreis zu wählen. Exakt das meint solidarische Distanz.So wird eine produktive Polarisierung innerhalb des demokratischen Spektrums hinsichtlich der Zukunft möglich. Wir benötigen einen politischen Neustart – nicht nur, aber gerade auch im Osten. Beim Weichenstellen geht es um nachhaltiges Wirtschaften, um Arbeitsmarkt, Bildung und Migration, um Pflege und Gesundheit, um soziale Sicherheit und vor allem: um Gerechtigkeit in der Transformation.Das Bündnis „Köln stellt sich quer“ hat übrigens einen interessanten Vorschlag. Für den internationalen Tag gegen Rassismus am 21. März ruft es zu einem Streik für das unantastbare Recht auf Menschenwürde auf. Eine Viertelstunde soll die Arbeit in Büros, Fabriken und Verwaltungen, in Kitas und Schulen niedergelegt werden. Dieser Vorschlag eignet sich dafür, denen eine Stimme zu geben, die häufig übersehen werden. Dies kann jedoch nur eine Stimme bei der Gestaltung der umfassenden Transformation sein, in der diese Gesellschaft – und mit ihr: der Souverän – sich befindet.Placeholder authorbio-1