Aus Kreuzberg in die AfD: Der Rechtsruck von Erik, die Mitte und ich
Spurensuche Sie waren mal beste Freunde, lebten und arbeiteten im progressiven Kulturbetrieb Berlins. Sie waren sich ganz nah – doch dann driftete der eine zur AfD ab – und war beim Treffen bei Potsdam dabei. Die Geschichte eines Verlusts
Die Liebe zu politischen Themen, Film, Kunst und Kultur, zum gesprochenen und geschriebenen Wort verband Erik und unsere Kreuzberger Kanaken-Kartoffel-Boheme.
Foto: Glebstock/Adobe
Nur wenige Momente nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche bekam ich von zwei Freunden fast zeitgleich einen Screenshot zugeschickt. Es war die Teilnehmerliste der Runde im Landhaus Adlon. Beide hatten den Namen derselben Person unterstrichen: Nennen wir sie Erik. Es gab eine Zeit, da standen Erik und wir uns sehr nahe. Wir, das sind drei in Deutschland aufgewachsene Jungs aus muslimischen Familien. Nach all den Jahren können mich Nachrichten wie diese nicht mehr wirklich überraschen, kaltlassen sie mich trotzdem nicht.
Erik war nicht immer so, sein richtiger Name ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Hier geht es um die Inhalte und Wahrnehmungen, die ihn dahin brachten, wo er heute steht. Um die Themen, entlang derer er sich an den äußerst rechten Ran
te und Wahrnehmungen, die ihn dahin brachten, wo er heute steht. Um die Themen, entlang derer er sich an den äußerst rechten Rand der Gesellschaft hangelte. An einen Rand, der seit Jahren wächst und die Mitte erodieren lässt – der ohne diese Mitte aber auch nicht denkbar wäre. Erik mag ein extremes Beispiel sein, dennoch oder gerade deshalb lässt sich an ihm das Abdriften großer Teile unserer Gesellschaft nach rechtsaußen illustrieren.Von zentraler Bedeutung ist der November 2015 für mich, exakt acht Jahre vor dem Treffen bei Potsdam. Bis dahin waren Erik und ich ziemlich beste Freunde. „Bromance“ hätte es Barney Stinson aus How I Met Your Mother genannt; eine Serienfigur, die Erik mochte. In Bars und Kneipen in Berlin-Kreuzberg tranken und rauchten wir uns die Nächte um die Ohren, führten tiefgründige Gespräche. Oft lagen wir uns lachend in den Armen, in Gesellschaft weiterer guter Freunde, viele mit Migrationsgeschichte.Die Liebe zu politischen Themen, Film, Kunst und Kultur, zum gesprochenen und geschriebenen Wort verband Erik und uns. Und dann gab es da noch Mercimek und Kelle Paça. Türkische Suppen, die wir besonders gern nach einer durchzechten Nacht, scharf angemacht und mit Zitrone angereichert, frühmorgens in einem Lokal am Kottbusser Tor löffelten. Wir waren die reinste Kreuzberger Kanaken-Kartoffel-Boheme und Erik mittendrin.Cuba Libre und türkischer ÇayWenn wir zu zweit unterwegs waren und der Abend lang genug ging, flossen neben Cuba Libre und türkischem Çay auch mal Tränen. Es ging um Trennungsschmerz, den Tod unserer Väter und einige diskrete Themen mehr. Wir vertrauten uns. Hatten Respekt und Empathie füreinander.Ich bewunderte Erik für seine vielen Talente. Er ist ein wandelndes Geschichtslexikon, ein halbes Dutzend Sprachen beherrscht er fließend. Als wir eines Abends kurz Halt bei ihm machten, legte er Beat it von Michael Jackson auf, nahm eine seiner E-Gitarren in die Hand und spielte das berühmte Solo am Ende des Songs originalgetreu mit. Kenner wissen, was für ein kleines Kunstwerk dieses Solo ist. Dafür muss man mit der Gitarre eins werden. Erik wurde es – aus dem Stegreif.Eine Zeit lang hatten wir auch eine Art von beruflichem Verhältnis. Erik schrieb Texte für zwei Autorenportale, die ich redaktionell betreute. Es waren fundierte und gut recherchierte Meinungsbeiträge zu Themen wie Freiheit und Liberalismus, dem Euro oder dem rechtsextremen Anschlag auf das Oktoberfest 1980.Wir hatten Thilo Sarrazins Buch beide gelesenÜberhaupt empörten wir uns oft über rechtsextreme Aktivitäten. Erik war erschüttert von den Enthüllungen zum NSU, den Schredderwettbewerben in den Ämtern des Verfassungsschutzes und von den oft rassistisch geführten Ermittlungen der Sicherheitsbehörden. Ein für uns wichtiges Thema war das Buch Deutschland schafft sich ab aus dem Spätsommer 2010, geschrieben von Berlins ehemaligem Finanzsenator Thilo Sarrazin.Erik und ich hatten uns Anfang 2011 kennengelernt, also erst nach dem Peak der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Buch. Wir waren uns einig, dass dieses Buch, die Art seiner Vermarktung und Rezeption einen Wendepunkt für Menschen mit Einwanderungsgeschichte bedeutete. Leitmedien veröffentlichten vorab Auszüge der muslimkritischen Passagen, Sarrazin tourte durch Talkshows und beschwerte sich derweil über den Verlust seiner Meinungsfreiheit.Er verkaufte 1,5 Millionen Exemplare, es war eines der erfolgreichsten Sachbücher in der Geschichte der Bundesrepublik. Beide hatten wir das Buch gelesen, sahen darin vor allem ein gefährlich biologistisch aufgeladenes Lamento. „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“, stand damals hoch im Kurs. Schon vorher fehlte es nicht an kritischer Auseinandersetzung mit Problemen der Einwanderungsgesellschaft, selbst wenn bis heute das Gegenteil behauptet wird. Auch Erik wirkte nicht immer überzeugt von seiner Kritik an Sarrazins Thesen. Aus heutiger Sicht bin ich mir sicher, dass dessen Gedanken mehr Spuren bei Erik hinterließen, als er es damals zuzugeben bereit war.„Der Islam“ als VehikelAb 2013 nahm sein Gesinnungswandel Fahrt auf. Er besuchte regelmäßig verschiedene arabischsprachige Länder, vor allem in Nordafrika. Seine damalige Partnerin stammte aus der Region, eine selbstbewusste und eloquente Frau, auf mehreren Kontinenten zu Hause – mehrsprachig wie er.Kaum zurück, war ich regelmäßig seine erste Anlaufstelle. Noch am Abend seiner Rückkehr trafen wir uns und er berichtete. In einem schier unendlichen Schwall polterte es aus ihm heraus. Dieser ganze Hass, der ihm „in der arabischen Welt“ entgegenschlage. Was sich seine Frau alles anhören müsse, weil sie mit einem Mann „aus dem Westen“ zusammen sei.Die Leute hätten Großmachtträume und „der Islam“ sei das Vehikel. Nachdem er im Zuge seiner Reisen ein Vertrauensverhältnis zu den Leuten aufgebaut habe, hätten sie zugegeben, dass sie „den Westen erobern“ wollten. Ich widersprach wütend: Es gebe genügend mir bekannte Personen, augenscheinliche Westeuropäer wie auch Leute mit meinem Aussehen, die vor Ort andere Eindrücke sammeln, mindestens aber andere Schlüsse aus gleichen Erfahrungen ziehen würden. Das sei naiv und feiges Appeasement, antwortete er wirsch.„Ihr seid doch nicht gemeint, Bobby!“Herbst 2014. Mit Pegida entstand in Dresden eine Bewegung, über die Erik und ich uns in alten Zeiten gemeinsam die Mäuler zerrissen hätten. Ausgerechnet in einer Region mit einem minimal geringen muslimischen Anteil waren die Menschen maximal voller Angst und der unbedingten Meinung, das Abendland vor den „Moslems“ retten zu müssen. Erntezeit für Sarrazin und seine Apologeten. Erik war nur noch am Senden, meine wachsende Sorge über einen zunehmend rassistisch geführten Diskurs auf Kosten migrantischer Personen, besonders muslimisch Gelesener, hatte kaum noch Platz in unseren Gesprächen.Das größte Problem war Eriks kompromisslose Sicht, sein Blick wurde apodiktisch. Früher war auch ihm klar, so schien es jedenfalls, dass sowohl die in vielen islamischen wie auch in westlichen Ländern sich vollziehende Radikalisierung von Teilen der (eingewanderten) Bevölkerung politische und soziale Gründe habe. Und dass diese Faktoren veränderbar seien. „Erinnerst du dich selbst nicht mehr an deine eigenen Texte, die du für unsere Blogs geschrieben hast, an unsere vielen Gespräche?“Ob er denn nicht erkenne, wie die Auseinandersetzung mit nicht von der Hand zu weisenden Problemen zunehmend kulturalistisch und rassistisch stattfände, fragte ich. Wohin das denn führen solle, wenn nicht zu physischer Konfrontation und „wohltemperierten Grausamkeiten“, wie Björn Höcke es Jahre später in seinem Buch aufgeschrieben hat. Keine Chance. „Ihr seid doch nicht gemeint, Bobby! Ihr seid Neudeutsche und gehört dazu, ist doch klar, komm raus aus deiner Opferrolle“, war seine Standardantwort.Meine Ambivalenz ist größer denn jeDann kam der Spätsommer 2015 und mit ihm nicht nur mehr als eine Million Flüchtlinge, sondern auch die angebliche Bestätigung von Eriks Untergangsszenarien. In seiner kruden Gedankenwelt schloss sich nun die Front. Neue Muslime trafen auf alteingesessene: ein einziger monolithischer Block von Gefährdern, alle mit dem gleichen Ziel – den Westen erobern.Zwei Monate später beendete ich die Freundschaft. Er würde vielleicht behaupten, seine Gesprächsbereitschaft habe ungebrochen angehalten, sogar bis heute. Ich wusste nicht mehr, worüber wir noch sprechen sollten, wenn Schlagwörter wie „Geburtendschihad“ und „Invasion“ seine Äußerungen bestimmten.Ich blieb nicht der Einzige, etliche seiner Freunde wendeten sich ab. Seit vielen Jahren ist Erik inzwischen Mitglied der AfD. Seine Kanäle in den sozialen Medien flutet er mit apokalyptisch anmutenden Bildern und Berichten aus der neurechten, explizit muslimfeindlichen Bubble, die keinerlei Differenzierung zulässt. Es erinnert an Propagandakanäle von Dschihadisten. Die einen zeigen „den Westen beim Abschlachten der Muslime“, die anderen „Moslems, wie sie in Europa die Weißen abschlachten“. Eine halbe Stunde auf seinem Profil, und man will die halbe Welt abschieben. In dieser Wahrnehmung gibt es nur noch zwei buchstäbliche Lager: schwarz und weiß, keinerlei Differenz. Die Rettung: White Supremacy, was sonst?Und nun? Zwei Wochen nach der Correctiv-Recherche und Hunderte Demos später ist meine Ambivalenz größer denn je.Seit Jahrzehnten dauert der Rechtsruck anInteressanterweise geht es vielen Migranten und ihren Nachfahren ähnlich. Die Massenproteste machen mir Mut und berühren mich. Sie sind wichtig zum kollektiven Empowern, für das Aufladen der persönlichen Akkus und um der mitverantwortlichen Politik auf die Füße zu treten. Für viele deutsch-deutsche Teilnehmende aber bieten diese Veranstaltungen, leider sind das Erfahrungswerte, oft lediglich Gelegenheit zu einer Art von innerem Ablasshandel – für die Schnarchnasigkeit vergangener Jahre. Meine Befürchtung ist, dass die meisten glauben, damit sei es getan.Der Rechtsruck dauert seit Jahrzehnten an, er hat Lichterketten, Aufstände der Anständigen und vieles mehr überdauert.Ich glaube, auf den derzeitigen Demos laufen viele mit, die Sarrazins Thesen damals guthießen und sich ihrer eigenen Verantwortung bislang nicht wirklich bewusst sind. Gleichzeitig müssen wir trotzdem noch mit einem Teil derjenigen reden, die die AfD wählen könnten. Wie sonst sollte deren Zuspruch sinken? In Eriks Fall habe ich allerdings vor acht Jahren aufgegeben.Placeholder authorbio-1
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