Die schwindende Demokratie in Europa

EU-Wahl Die EU wählt 2024 ihr neues Parlament. Neben einem Demokratiedefizit und fehlender Rechenschaft gegenüber ihren Bürger*innen trüben auch andere Entwicklungen den Glauben an die EU als Kraft für das Gute innerhalb und außerhalb Europas
Yanis Varoufakis sorgt sich um die schwindende Demokratie in Europa
Yanis Varoufakis sorgt sich um die schwindende Demokratie in Europa

Foto: Alexandros Avramidis / picture alliance / Reuters

Die ruhigen Tage im August sind eine gute Zeit, um über das kommende Jahr nachzudenken. Wenn ich auf meinen Kalender für 2024 schaue, steht vor allem die Wahl zum Europäischen Parlament an – leider inspiriert sie mich nicht mehr so wie vor fünf Jahren. 2019 kandidierte ich in Deutschland für das EU-Parlament, während ein deutscher Kollege dies in Griechenland tat. Mit DiEM25, unserer paneuropäischen Bewegung, wollten wir darauf hinweisen, dass die europäische Demokratie ein Schwindel bleiben wird, wenn sie nicht zu vollständiger Transnationalität übergeht. Im Jahr 2024 haben solche Gesten nicht einmal mehr symbolische Bedeutung. Meine Müdigkeit im Hinblick auf die Europawahl im Juni 2024 liegt nicht daran, dass ich das Interesse an der europäischen Politik verloren oder in letzter Zeit politische Niederlagen erlitten hätte, von denen ich nicht wenige erlebte. Was mich erschöpft, ist die Schwierigkeit mir vorzustellen, dass die Saat der Demokratie noch zu meinen Lebzeiten in der Europäischen Union aufgehen könnte.

Die Europa-Loyalist*innen werden mich für diese Aussage schelten. Wie kann ich es wagen, die EU als eine demokratiefreie Zone zu bezeichnen, wo sie doch von einem Rat geleitet wird, der sich aus gewählten Premierminister*innen und Präsident*innen zusammensetzt, einer Kommission, die von den gewählten nationalen Regierungen ernannt wird, und einem Parlament, direkt gewählt von den europäischen Völkern und mit der Macht ausgestattet, die ernannte Kommission zu entlassen?

Das Markenzeichen jeder Demokratie in zutiefst ungleichen Gesellschaften sind Institutionen, die verhindern sollen, dass die Summe aller menschlichen Interaktionen auf Machtbeziehungen reduziert wird. Um den Despotismus in Schach zu halten, muss der Ermessensspielraum der Exekutive durch ein souveränes Gemeinwesen, ausgestattet mit den entsprechenden Mitteln, minimiert werden. Die Mitgliedstaaten der EU stellen ihren Gemeinwesen diese Mittel zur Verfügung. Wie begrenzt die Wahlmöglichkeiten auch immer sein mögen, die Bürger*innen eines Landes behalten die Befugnis, die gewählten Organe für ihre Entscheidungen zur Rechenschaft zu ziehen (im Rahmen der exogenen Beschränkungen des Landes).

Die Ratsmitglieder verabschieden unbeliebte Entscheidungen widerstandslos

Leider ist dies auf EU-Ebene nicht möglich. Wenn unsere Staats- und Regierungschef*innen nach einer EU-Ratssitzung nach Hause zurückkehren, weisen sie die Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen sofort von sich und geben stattdessen ihren Ratskolleg*innen die Schuld: „Es war das Beste, was ich aushandeln konnte“, sagen sie achselzuckend. EU-Funktionär*innen, Berater*innen, Lobbyist*innen und Beamt*innen der Europäischen Zentralbank wissen das. Sie haben gelernt, von den Vertreter*innen der Mitgliedstaaten zu erwarten, dass diese sich an jene Linie halten und ihren nationalen Parlamenten sagen, dass sie zwar mit den Entscheidungen des Rates nicht einverstanden, aber zu „verantwortungsbewusst“ und der europäischen „Solidarität“ verpflichtet seien, um sich zu widersetzen.

Und genau darin liegt das Demokratiedefizit der EU. Entscheidende politische Maßnahmen, die eine Mehrheit der Ratsmitglieder ablehnt, werden oft widerstandslos verabschiedet, und es gibt kein Gemeinwesen, das den Rat selbst beurteilen, ihn zur Rechenschaft ziehen und schließlich als Gremium entlassen könnte. Wenn der Rat eine halbwegs vernünftige Einigung erzielt (wie die zwischen dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez und seinem niederländischen Kollegen Mark Rutte über die Reform des EU-Fiskalpakts), können nationale Wahlen, die sich nie auf Entscheidungen auf EU-Ebene konzentrieren, dazu führen, dass sich diese in Luft auflösen. Darüber hinaus ist die formale Befugnis des Europäischen Parlaments (dem noch immer die Möglichkeit zur Gesetzesinitiative fehlt), die Kommission in ihrer Gesamtheit zu entlassen, in etwa so nützlich, wie die Ausrüstung der griechischen Marine mit einer Atombombe, um den Drohungen der Türkei zu begegnen, eine Insel vor ihrer Küste zu besetzen.

Nichts davon ist neu, trotzdem, bin ich heute noch müder. Drei Entwicklungen haben die Idee, dass die EU eine wirksame Kraft für das Gute innerhalb und außerhalb Europas sein könnte, nahezu zerstört.

Zunächst einmal haben wir die Hoffnung verloren, dass gemeinsame Schulden der Hamilton'sche Kitt sein könnten, der unsere europäische Konföderation in etwas verwandeln würde, das einer zusammenhängenden demokratischen Föderation näher käme. Ja, die Pandemie brachte Deutschland schließlich dazu, die Aufnahme gemeinsamer europäischer Schulden zu akzeptieren. Aber wie ich damals warnte, waren die politischen Bedingungen, unter denen die Mittel flossen, der wahr gewordene Traum eines Euroskeptikers. Das Ergebnis? Statt eines ersten Schritts in Richtung der notwendigen Fiskalunion, schloss NextGenerationEU (Europas Pandemic Recovery Fund) eine Hamilton'sche Umwandlung aus.

Die EU hat Mauern gebaut, auf die Donald Trump neidisch sein muss

Zweitens hat der Krieg in der Ukraine die europäischen Bestrebungen nach strategischer Autonomie von den Vereinigten Staaten zunichtegemacht. Trotz der offiziellen Nettigkeiten nach Donald Trumps Niederlage 2020, betrachten die USA die EU weiterhin als einen Gegner, den es in Schach zu halten gilt. Was auch immer ein Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland enthalten muss, unbestritten bleibt die Irrelevanz der EU während des diplomatischen Prozesses eines Friedensschlusses.

Drittens kann die EU nicht länger so tun, als sei sie eine Verfechterin eines prinzipienfesten Kosmopolitismus. Die Europäer verachteten Trumps „Build the Wall“-Kundgebungen, aber die EU hat sich als geschickter im Bau von Mauern erwiesen, als Trump es je war. An Griechenlands Grenze zur Türkei, in Spaniens marokkanischer Enklave, an den östlichen Grenzen Ungarns und Rumäniens, in der libyschen Wüste und jetzt in Tunesien hat die EU die Errichtung von Abscheulichkeiten finanziert, um die sie Trump nur beneiden kann. Und kein Wort wird über das rechtswidrige Verhalten unserer Küstenwache verloren, die unter dem Deckmantel Frontex (der EU-Grenzschutzagentur) operiert, und unbestreitbar zu Tausenden von Toten im Mittelmeer beigetragen hat.

Nach den Europawahlen 2019 drückte die liberale Presse ihre Erleichterung darüber aus, dass die Ultrarechten in Europa nicht so gut abgeschnitten haben wie befürchtet. Aber sie vergaßen, dass die neuen Ultrarechten, im Gegensatz zu den Faschisten der Zwischenkriegszeit, keine Wahlen gewinnen müssen. Ihre große Stärke besteht darin, dass sie die Macht dadurch erlangen, unabhängig ob sie gewinnen oder verlieren, dass die konventionellen Parteien übereinander herfallen und sich erst der Fremdenfeindlichkeit, dann dem Autoritarismus und schließlich dem Totalitarismus verschreiben. Anders ausgedrückt: Autokratische europäische Führer wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán müssen keinen Finger rühren, um ihr chauvinistisches Credo in der EU und in Brüssel zu verbreiten.

Dies sind nicht die Überlegungen eines Euroskeptikers, der glaubt, dass die europäische Demokratie unmöglich ist, weil ein europäischer Demos das ebenso ist. Es ist die Klage eines Europäers, der glaubt, dass ein europäischer Demos durchaus möglich ist, dass sich die EU aber in die entgegengesetzte Richtung bewegt hat. Wir haben beobachtet, wie sich der rapide wirtschaftliche Niedergang Europas und seine demokratischen (und ethischen) Defizite parallel dazu entwickelt haben. Trotz meiner Bedenken fällt mir die Entscheidung leicht, bei den Europawahlen erneut zu kandidieren - diesmal in Griechenland mit MeRA25 – gerade weil ich meine Bedenken im Wahlkampf äußern muss. Das Paradoxe daran ist, dass ich mich zuerst selbst davon überzeugen muss, dass die EU-Wahlpolitik die Mühe wert ist, bevor ich das bei anderen kann.

Dieser Text erschien erstmals in englischer Sprache auf diem25.org.

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Übersetzung: Lorenz Füsselberger

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