Die Entdeckung dieses revolutionären Medikaments, damals als medizinische Sensation gefeiert, beruhte eher auf einem Zufall. Die Forschungsabteilung des US-Pharmakonzerns Pfizer suchte Mitte der 1990er Jahre ein wirksameres Mittel gegen Bluthochdruck. Bald aber erwiesen sich die bei den Testreihen auftretenden Nebenwirkungen des Inhaltsstoffes Sildenafil als erheblich interessanter – nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive, sondern vor allem in ökonomischer Hinsicht. Am 27. März 1998 ließ die Food and Drug Administration, die US-amerikanische Arzneimittelbehörde, das Präparat Viagra zu. Von Ende September an, also ein halbes Jahr später, war die euphorisch als „blauer Diamant“ gefeierte Pille auch in deutschen Apotheken erhältlich.
Kurz nach der Markteinführung kostete eine einzige Potenztablette stolze 15 Euro. Pfizer verbuchte mit dem neuen Produkt in den Folgejahren Umsätze in Milliardenhöhe, das Unternehmen machte weltweit riesige Gewinne. Der brasilianische Fußballstar Pelé, Playboy-Gründer Hugh Hefner und der einstige US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Bob Dole warben vor einem Vierteljahrhundert für das neue Medikament.
Viagra wurde schnell fast genauso bekannt wie Coca-Cola. Die Substanz, die gegen die im Medizinjargon als „erektile Dysfunktion“ bezeichnete Störung helfen sollte, entwickelte sich zu einer global verbreiteten Marke. Produkt und Produktname waren zeitweise identisch.
Männer setzten schon immer auf Aphrodisiaka
Doch 2013 lief der Patentschutz in Europa aus, bald darauf auch in Asien und den Vereinigten Staaten. Mittlerweile sind deutlich billigere Medikamente erhältlich, sogenannte Generika mit teilweise anderer Zusammensetzung, aber ähnlicher Wirkung. Besonders preisgünstig sind Potenzmittel im Internet, vor allem auf Pornoseiten werden sie intensiv beworben.
Medizinische wie pharmakologische Fachleute warnen allerdings vor Onlinebestellungen: Die im Netz angebotenen Tabletten seien teilweise nicht ausreichend getestet, manchmal auch zu hoch dosiert oder gar verunreinigt. Hierzulande war Viagra von Beginn an verschreibungspflichtig, also nur nach ärztlicher Beratung und auf Rezept zu haben. Diese Regelung abzuschaffen und den Vertrieb wie etwa in Großbritannien komplett freizugeben, lehnte der deutsche Sachverständigenausschuss für Arzneimittel und Medizinprodukte im Januar 2022 ab – aus triftigen Gründen. Denn ganz ungefährlich ist die Einnahme nicht unbedingt, manche Nutzer klagen über Nebenwirkungen: Der Blutdruck sinkt, das Herz pumpt mehr. „Ich habe rote Bäckchen bekommen, die Nase hat sich dick angefühlt, ich konnte schlechter atmen“, berichtet ein Viagra-Konsument, der nicht namentlich genannt werden möchte.
Trotz solcher Komplikationen genossen vor allem ältere Männer die verbesserte Erektion ihres Penis. Die Angst vor dem Verlust der Fähigkeit zur Penetration wich einem neuen Selbstbewusstsein – zusätzlich befördert durch den vom Marketing verbreiteten Mythos einer nie erlahmenden sexuellen Kraft. Historisch betrachtet sind Potenzmittel und die ihnen zugeschriebenen Wunderwirkungen allerdings nichts Neues. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte haben Männer auf Aphrodisiaka gesetzt, um den Sexualtrieb anzuregen. Ihre Versuche zum Beispiel mit Moschus, Alraune, Ginseng oder gar mit Nashornpulver waren jedoch selten von Erfolg gekrönt. Mit Viagra, so die Hoffnung vor 25 Jahren, schien sich das erstmals grundlegend zu ändern.
Unbeherrschbar und fragil
Fun Fact: Der Name „Viagra“ ist ein Kunstbegriff, angeblich setzt er sich zusammen aus Vigor, lateinisch für Kraft, und Niagara, den mächtigen nordamerikanischen Wasserfällen. Nach einer anderen Lesart leitet sich der Name vom indischen Wort für Tiger ab.
Doch wie wichtig ist eine Erektion für den Mann? Über die Funktion und ihre Auswirkungen auf das Männlichkeitsbild schrieben bekannte Männerforscher Folgendes:
„Das entscheidende Problem besteht darin, dass ein Mann lediglich seinen BMW und seinen Dobermann, nicht aber seinen Phallus beherrschen kann. Insofern symbolisiert der Phallus nicht Herrschaft, sondern deren genaues Gegenteil. Er steht für das Unbeherrschbare.“
aus: Die Prinzenrolle. Über die männliche Sexualität Dieter Schnack, Rainer Neutzling Rowohlt Verlag 1993
„Anders als gerne behauptet, ist Potenz fragil, eine zerbrechliche Angelegenheit. Streng genommen nicht zerbrechlich, sondern weich. Warum ist Potenz für Männer so kostbar? Weil sie nicht selbstverständlich ist. Wäre ein steifer Schwanz so leicht zu zeigen wie der berühmte steife Finger, dann wäre Potenz keine so tolle Sache.“
aus: Mensch, Mann! Was ist los in Männerseelen? Josef Aldenhoff Herder Verlag 2021
Nach traditionellen Geschlechterstereotypen sollen Männer immer stark sein, sie müssen funktionieren. Sexuelle Schwierigkeiten passen nicht in dieses Identitätskonzept. Nicht wenige betrachten ihren Körper als Maschine, die nur dann gewartet werden muss, wenn sie überhaupt nicht mehr läuft. Viele Männer vernachlässigen ihre Gesundheit, missachten selbst massive Warnsignale. Sie vermeiden Vorsorgeuntersuchungen, allerdings gibt es in der Prävention auch erschwerte Zugänge. Frauen werden zum Beispiel Mammografien gegen Brustkrebs von den Krankenkassen aktiv angeboten und von diesen auch finanziert.
Wenn sich dagegen Männer vor Prostatakrebs schützen wollen, müssen sie die entsprechenden Tests in der Regel aus eigener Tasche bezahlen. Und selbstverständlich übernimmt auch keine Versicherung die Kosten für Potenzmittel wie Viagra. Erektionsprobleme sind nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu. Den betroffenen Männern sind ihre Schwierigkeiten oft peinlich, sie reden darüber nicht mal mit engen Freunden. Stattdessen kaufen und schlucken sie heimlich potenzfördernde Mittel, oft ohne jede medizinische Beratung. Dieser rein pharmakologische Zugang zu dem Thema Impotenz war wissenschaftlich stets umstritten. Wichtiger als die Einnahme von Medikamenten sei die psychische Auseinandersetzung mit den eigenen Schwierigkeiten, kritisieren vor allem Sexualtherapeuten.
Frank Sommer hingegen, Medizinprofessor an der Universität Hamburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit, führt Potenzprobleme vorwiegend auf körperliche Symptome zurück. Neunzig Prozent der Fälle seien „primär organisch bedingt“; Gefäße, Nerven oder Hormone nennt er als mögliche Ursachen für Veränderungen in der Struktur des Penis: „Das ruft eine Erektionsstörung hervor, was dann wiederum dazu führt, dass der Mann sich nicht gut fühlt und sich eine mentale Komponente obendrauf setzt.“
Ein Instrument zur Selbstoptimierung
Sommer möchte dennoch nicht missverstanden werden: Neben körperlichen spielen für ihn psychische Aspekte durchaus eine Rolle, es gehe um die Wechselwirkung. Hinter der Kontroverse steckt auch die Konkurrenz der heilenden Professionen. Während die Medizin auf physiologische Störungen wie verengte Blutgefäße verweist, betont die Psychologie die vorrangige Rolle der Seele: Kein Mann könne die körperlichen Anzeichen sexueller Erregung willkürlich hervorrufen. „Viagra hat eine gut benennbare Wirkung, dass die Erektion zustande kommt und gehalten werden kann“, sagt der Kölner Therapeut Gerd Kräling: „Sie kriegen aber keine Erektion, wenn Sie nicht irgendeine Erregung haben.“
Sildenafil, der Hauptinhaltsstoff der Potenztablette, ist eine gefäßerweiternde Substanz, sie lässt den Schwellkörper des männlichen Sexualorgans besser durchbluten. Doch stimulierende Tabletten können Lustgefühle, Anziehung und Nähe zum erotischen Gegenüber nicht ersetzen – und erst recht nicht die dahintersteckenden, oft unbewussten inneren Konflikte lösen.
Viagra und ähnlich wirkende Medikamente führen zu stärkeren Erektionen, die Erholungszeiten nach dem Orgasmus sind kürzer. In der Partyszene entstand deswegen zeitweise ein Hype um die Substanz. Viagra galt als ein zusätzliches Instrument zur Selbstoptimierung: Die modische Lifestyle-Droge konsumierten auch und gerade junge Männer, die eigentlich gar keine Probleme beim Sex hatten.
Kommentarfunktion deaktiviert
Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.