Kate Jackson ist nicht zu beneiden. Nur wenige Tage bevor sie ihr Kind zur Welt bringt, hat sie ihren Geliebten verloren. Zwar war Grady ohnehin nicht der Vater des Kindes, aber seine unverstellte Liebe hätte für zwei gereicht. Für Trost ist aber keine Zeit, denn das neue Leben verlangt Aufmerksamkeit. Zudem sitzt Kates bester Freund Corinthian im Knast, weil er in einen Vorfall verwickelt war, bei dem eine junge Frau auf unvorstellbare Weise ihrer Schönheit beraubt wurde.
Die Ereignisse überschlagen sich in dem verschlafenen Städtchen an der Golfküste, wo Kate „die schreckliche Zumutung, mich erinnern zu müssen“, loswerden will. Sie will die frühen Verluste hinter sich lassen, die sie zu der gemacht haben, die sie ist. Kate wuchs auf
wuchs auf einer kleinen Insel in New England als Halbwaise bei ihrem Vater auf, nachdem ihre kleine Schwester bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war und sich die Mutter daraufhin das Leben genommen hatte. Mr. Jackson ist Prediger, er tröstet sein Kind mit religiösen Weisheiten. „Finde Gnade in der Wüste“, diese Mahnung von Kirchenvater Paulus an Philomenon, wird für Kate zum (Über-)Lebensprinzip.Momente der Gnade tragen durch Kates Geschichte, die die amerikanische Kultautorin Joy Williams in ihrem Debütroman erzählt. In den USA erschien der Erstling bereits vor gut 50 Jahren, seit ein paar Wochen liegt State of Grace erstmals auf Deutsch vor. Das ist auch auf den Erfolg der 13 dunkel schimmernden Erzählungen zurückzuführen, mit denen man die Amerikanerin im vergangenen Jahr hierzulande entdecken konnte. Darin erzählt sie von Menschen, „die praktisch gegen das Leben selbst allergisch sind“. Etwa von Müttern, deren Kinder wegen Mordes im Knast sitzen. In Miniaturen umkreist Williams deren Hadern mit dem Schicksal und vermisst die Abgründe in ihren gebrochenen, aber immer noch liebenden Herzen.Kate Jackson ist gegen das Leben nicht wirklich allergisch, aber jedes Quäntchen Neugier, das sie für das Leben aufbringt, führt sie nur tiefer in die Wüste der menschlichen Existenz. Die christliche Prägung durch den Vater versucht sie mit einem Sprachstudium zu überschreiben. Sex ist für sie ein Instrument der Selbstbeobachtung. In Corinthian und Grady findet sie Seelenverwandte, doch die Idylle an ihrer Seite ist trügerisch.Joy Williams, selbst Kind eines Predigers, setzt ihre Figur aus den Scherben ihres Lebens zusammen. Das innere Chaos der tragischen Heldin wird in diesem Roman zum stilbildenden Mittel. Wühlt die allwissende Erzählinstanz in einem Absatz noch in der erschütternden Vergangenheit, sieht sie im nächsten zu, wie sich Kate in einer Bar von einem Durchreisenden abschleppen lässt. Dabei entpuppt sich deren Geschichte nicht als tränenrühriges Drama, sondern als aufwühlendes Porträt einer jungen Frau, die vor der Grausamkeit und Tristesse der Welt nicht in die Knie geht. In der Gnade ist perfekt für all jene, die die Welt für unrettbar verloren halten. Autor:innen wie David Foster Wallace, Bret Easton Ellis und Dennis Cooper stehen ebenso Pate wie Mark Twain und Emily Dickinson. Dieser radikale Roman ist die Axt für das gefrorene Meer in uns, die Kafka für gute Literatur immer einforderte.Wir sollten nichts wollenIn ihrer Heimat zählt die inzwischen 80-jährige Williams schon lange zu den literarischen Größen. Das von Julia Wolf hervorragend übersetzte Debüt war 1974 für den National Book Award nominiert, vor drei Jahren wurde sie – nach Autor:innen wie Toni Morrison, Philip Roth, Louise Erdrich, Marilynne Robinson oder Colson Whitehead – mit dem renommierten Literaturpreis der Library of Congress ausgezeichnet.Die uneingeschränkte Bewunderung von Truman Capote oder Don DeLillo ist vor allem auf ihre Erzählungen zurückzuführen. Eine Auswahl ihrer besten liegt in der genialen Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz vor. In ihren nebelverhangenen Stories leuchtet Williams in lakonisch-nüchternem Ton die existenziellen Abgründe der handelnden Figuren aus. In der Erzählung Liebe geht es um den „vom Glauben ausgemergelten“ Prediger Jones, der sich um seine todkranke Frau und seine neugeborene Enkelin kümmert, während seine Tochter sich selbst sucht. Aus der Verpflichtung erwächst eine Zärtlichkeit und Liebe, die Berge versetzt. Williams setzt in dieser Erzählung Leben und Tod auf parallele Gleise, die zwar beide in eine Richtung, aber in ein unterschiedliches Morgen führen. Die Erzählung ist zeitgleich zu In der Gnade entstanden und liest sich wie die komprimierte B-Seite des Debütromans. Das Spiel mit den Ebenen, das Verschieben von Bedeutung, Sinn und Existenz, ist Markenzeichen von Williams’ furchtloser Prosa. Wen dieser Fatalismus abschreckt, der wollte die Zeichen der Zeit noch nicht verstehen. Hier schaffen Williams’ Figuren Abhilfe. Etwa die zwei Teenager, die unter dem Dach einer Weltuntergangssekte als „Letzte Generation“ zusammenfinden. „Wir sollten nichts wissen und nichts wollen und nichts sein, aber gleichzeitig sollten wir alles wollen und alles wissen und alles sein.“ Das Dilemma der Gen Z, aufgeschrieben vor 35 Jahren, von einer hellwachen Autorin, die man nun endlich entdecken kann.Placeholder infobox-1