Gut und möglicherweise diskussionsanregend ist, dass gerade jetzt der Verlag Klett-Cotta Schriften von Jean Améry unter dem Titel Der neue Antisemitismus herausgegeben hat. Mit Irene Heidelberger-Leonard liefert eine kundige Autorin im Vorwort alles Wissenswerte über den aus Österreich kommenden Schriftsteller, jüdischen Widerstandskämpfer und Lagerkameraden von Primo Levi.
Auch die insgesamt sieben Texte des sich zur Linken rechnenden jüdischen Publizisten bieten einen guten Einblick in Amérys politisches Leiden und seine Kritik an einer ab 1967 sich pro-palästinensisch positionierenden Linken. Er beschreibt in den Texten, die im Zeitraum von 1969 bis 1976 erschienen sind, wie sich eine Linke mit manch antizionistischer Parole von sich selbst, v
von sich selbst, von Aufklärung und humanistischen Grundpositionen entfremdet hat. Er hält fest, dass die überspitzten Anklagen Israels seitens der Linken bei gleichzeitigem Beschweigen der Herrschaft der arabischen Potentaten ein Bruch mit jedem konsistenten Denken, das im Fall der Linken ja Herrschaftsfreiheit anstreben wolle, darstellt.Und keinem entgeht bei der Lektüre die Verzweiflung, die Améry angesichts einer sich in antiisraelischer Ideologie suhlenden und selbstbestätigenden radikalisierten Linken erfasste. Améry benennt, dass einem Teil der Linken, der auf arabische Revolution setzte, der Revolutionsbegriff zum inhaltsleeren „Mythos“ verkommen sei. Er kritisiert die „Vereinfachung“ der Fronten: „hier der israelische Unterdrücker, da der arabische Freiheitskämpfer!“ Bei allem Besatzungsunrecht, das Améry nicht entgeht und das er – wenn auch en passant – benennt, insistiert er darauf, dass der Staat Israel nun mal im historischen Raum Palästina besteht und sich seit Anbeginn an der Nichtakzeptanz durch seine Umwelt erwehren musste.Der Essay verweist positiv auf zustimmende Worte des ehemaligen sowjetischen Außenministers Andrei Gromyko zur Gründung Israels als „Akt der Gerechtigkeit“. Nun, darüber ließe sich debattieren. Schließlich gibt es auch Stimmen, die kritisieren, die Palästinenser hätten etwas auszubaden, was andere, ganz normale Deutsche nämlich, verschuldeten. Insofern könnte die Textsammlung auch heute eine gewisse Aktualität für sich reklamieren. Allerdings in einem anderem Sinne als in Form der hegemonialen Bekundung, dass die Linke, die antiimperialistische zumal, einfach antisemitisch sei.Denn im historischen Abstand stellt sich neben großer Zustimmung zu einigen Passagen der Texte auch ein gewisses Stirnrunzeln ein. Amérys Texte sind belletristische Miniaturen, sie bieten keine wissenschaftliche Analyse. Der Autor arbeitet assoziativ, sein vornehmliches Stilmittel ist die Polemik. Diese kippt ins Haltlose, wenn er in einem Text von 1969 schreibt, dass die Linke unter Zionismus „ungefähr das“ verstehen würde, „was man so vor rund dreißig Jahren in Deutschland das ‚Weltjudentum‘ genannt“ habe. Wenige Zeilen danach unterstellt er dem „marxistisch-dialektischen Denken“, es gäbe sich dafür her, den „Genozid von morgen“ vorzubereiten. Heutzutage kann man genozidale Logiken sowohl auf palästinensischer wie auf israelischer Seite ausmachen. Sie gründen sich allerdings im Islamismus oder in einem national-religiösen Extremismus, der der aktuellen Kriegsführung der israelischen Regierung gegen Gaza eingeschrieben ist.Améry ist immer wieder voller Bewunderung für Jean-Paul Sartre, dessen Text Reflexionen zur Judenfrage ihm auch wichtigste Referenz für das Begreifen von Antisemitismus ist. Sartre war bekanntermaßen in Hinblick auf den Israel-Palästina-Konflikt nicht parteiisch, sondern erklärte, man könne nicht pro-jüdisch sein, ohne auch pro-arabisch zu empfinden und umgekehrt. Der Philosoph war ein linker kritischer Dialektiker jenseits der dichotomen Frontverläufe. Améry dahingegen graviert eindeutig in Richtung Affirmation, wenn er über Israel schreibt.Die in den Texten kritisierte antizionistische Linke besteht für Améry in der BRD aus der Hamburger Zeitschrift konkret, die er als Organ einer „Linken gegen Israel“ benennt. Den französischen Marx-Kenner Maxim Robinson beschimpft er als einen „vom Selbsthass verstümmelten Juden“. Bei „Junglinken“ macht er „Werwolfromantik“ aus. Prominente antizionistische linke Juden wie Ernest Mandel oder Erich Fried werden von Améry als Verräter angesehen. Nicht zuletzt wegen solcher Ausfälle hat sich Améry beim damaligen radikal linken Milieu diskreditiert und großen Beifall von rechts bekommen.Man kann mit Améry ganz einverstanden sein, wenn er zustimmend auf die Position des Germanisten Hans Mayer verweist, der als linker Sozialphilosoph äußerst kritisch gegenüber dem westdeutsch-linken, aber vor allem auch gegenüber dem DDR-„Antizionismus“ war. Man kann sich von der gleichen Reminiszenz ergreifen lassen, wenn er an die produktive Unruhe erinnert, die von kritischen Juden ausging: von der Bewegung des „jungen Deutschland“, wie er schreibt, „bis zu den Arbeiten der Frankfurter Schule; in Frankreich als Volksfrontler, später als Sartrianer, dann als Strukturalisten; in den USA bilden sie den Kern der ‚liberals‘“.Aber man muss ihm auch deutlich widersprechen, wenn er diese Kontinuitätslinie in dem Text von 1976 weitergeführt sehen will zu den „jüdischen Siedlern in Palästina mit ihrem Versuch der Erschaffung einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft“. Die Siedlerbewegung seit 1967 steht vielmehr für eine über jedem Recht stehende Bewegung der Landnahme und Vertreibung von Palästinensern von ihrem Boden. Die linke jüdische Tradition wurde in Israel eher von Matzpen verkörpert – und diese marxistische Gruppe war trotzkistisch-antizionistisch und stand mit jenen in Europa in Kontakt, die Améry heftig attackierte. Für ihn ist der linke Antizionismus „nichts anderes als die Aktualisierung des uralten, offensichtlich unausrottbaren, ganz und gar irrationalen Judenhasses von eh und je“. Linke seien die „zügellosesten Vertreter“ des alten Antisemitismus. Man hört das die Tage wieder gehäuft und öfters. Was jedoch schon damals nicht stimmte, muss heute nicht wahrer sein.Placeholder infobox-1