Was kann ein Schriftsteller gegen Antisemitismus tun? An das Vergessen erinnern
Appell In Zukunft wird es noch mehr unsere Aufgabe sein, gegen Judenhass und Propaganda anzuschreiben, sagt der Autor Karsten Krampitz. Denn die „Gedächtnislücken“ werden immer größer
Das Kuriose vorweg: Ein Bekannter von mir wohnt im selben Haus, in dem sich früher der Messias aufgehalten hat. Ehrlich! In welcher Wohnung genau, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, ist, dass die Almstadtstraße 48, nördlich des Alexanderplatzes, früher einmal die Grenadierstraße 43 war. Ausgerechnet hier in einem „Stiebel“ soll der Rabbiner Menachem Mendel Schneerson gebetet haben, der weltweit berühmteste Rebbe! Bis zu seinem Tod in einem New Yorker Spital im Jahr 1994 galt Schneerson als der geistige Führer der chassidischen Bewegung Chabad Lubawitsch. Rabbi Teichtal vom Jüdischen Campus in Berlin will ihn als Kind noch erlebt haben. Und vielleicht ist nie wieder ein Mensch so geliebt worden.
Jeden Sonntag hat der Rebbe Tausende Mens
sende Menschen empfangen, und jeder Besucher bekam von ihm Rat und Segen erteilt und außerdem einen 1-Dollar-Schein in die Hand gedrückt, mit der Bitte, diesen für einen wohltätigen Zweck zu spenden. Anhänger auf der ganzen Welt verehren Schneerson bis heute. Und nicht wenige haben in ihm den Messias gesehen, also den rechtmäßigen König der Juden. Leider aber war es auch ihm nicht vergönnt, sein Volk zusammenzubringen und ein Reich der Freiheit und Gerechtigkeit herbeizuführen. – Wir überlegen nun, das Bezirksamt anzuschreiben, ob man nicht eine Gedenktafel anbringen sollte, mit der Aufschrift: „In diesem Haus wirkte in den Jahren 1928 bis 1933 der junge Menachem Mendel Schneerson, im 20. Jahrhundert eine der wichtigsten Persönlichkeiten des orthodoxen Judentums. Nach Hitlers Machtübernahme gelang es ihm nach Amerika auszuwandern …“Selbstredend müsste diese Tafel an das orthodox-jüdische Leben erinnern, das hier im Scheunenviertel in den 1920er Jahren eine Blüte erlebte und von den Nazis für immer zerstört wurde. Allein in dieser Straße gab es mindestens 19 Betschulen und Stibbeleks. Der unvergessene Eike Geisel schrieb einmal, dass es auch in den Straßen der Umgebung solche kleinen Synagogen gab, „aber ihnen kommt nur die Rolle von Planeten zu, welche um die Sonne der Grenadierstraße kreisen“. Als Geisel Anfang der 1980er Jahre, aus dem Westen kommend, die damals noch heruntergekommenen Häuser der Almstadtstraße besuchte, fand er ein Quartier vor, das einem Zenotaph glich, einem leeren Grab. Es gab dort keinerlei Erinnerung mehr an die früheren Bewohner. Die Umgebrachten seien mehr als tot, schrieb er, es sei, als hätten sie nie gelebt. – Eine Gedenktafel, angebracht an der Almstadtstraße 48, wäre am Zenotaph dann so etwas wie die Grabinschrift. Die Erinnerung aber ist erloschen. Und darum geht es mir.Als Schriftsteller verstehe ich mich auch als Chronist und Erinnerungsarbeiter.Es hat nie eine Erinnerung gegebenAls ich für mein Buchprojekt zum Scheunenviertel im letzten Sommer das Jüdische Museum Berlin besuchte, musste ich erstaunt feststellen, dass in keinem der Räume das jiddische Leben dieser Gegend zum Thema gemacht wurde. Und schon gar nicht erinnert wurde an die judenfeindliche Gewalt vor 100 Jahren. „Die antisemitische Saat ist aufgegangen“, schrieb der sozialdemokratische Vorwärts damals in seinem Leitartikel. „Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden.“ Auch im Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße wusste man auf meine Frage hin nichts von den Ausschreitungen am 5. und 6. November 1923. Wie kann es sein, dass ein solches Ereignis, das einzige Pogrom in der Weimarer Republik (sieht man vom „Kudamm-Krawall“ 1931 ab), so völlig in Vergessenheit geraten ist? Und dann auch noch in der eigenen Stadt, um nicht zu sagen in der Nachbarschaft! Wie erklärt sich diese kollektive Amnesie?Nach dem Ersten Weltkrieg lebten in der Grenadierstraße zum großen Teil ostjüdische Einwanderer. Und Migranten führen in der Regel ein eher flüchtiges Leben; sie hinterlassen kaum Aufzeichnungen. So ist denn die Überlieferung nur bruchstückhaft geschehen. Vom Pogrom im November 1923 konnte später nur berichten, wer beizeiten aus Deutschland emigriert war oder den Holocaust in Europa überlebt hatte. Doch der Hauptgrund für das Vergessen jener traurigen Tage dürfte ein anderer sein. Meine These: Es hat nie eine Erinnerung gegeben.Das Pogrom im November 1923Nur wenige der in Berlin lebenden Juden und Jüdinnen stammen aus Familien, die hier bereits in den 1920er Jahren zur Jüdischen Gemeinde gehörten. Über das jüdische Leben in dieser Stadt wurden also keine Erzählungen von der einen Generation an die nächste weitergegeben, das heißt auch nicht vom Pogrom im November 1923. Diese „Gedächtnislücke“ innerhalb der jüdischen Gemeinschaft droht nun immer größer zu werden. In absehbarer Zeit wird es niemanden mehr geben, der aus eigenem Erleben vom Schrecken der Shoa berichten kann. Margot Friedländer, eine der letzten Zeitzeugen, beging vor kurzem ihren 102. Geburtstag. Womöglich wird es in 15 oder 20 Jahren kaum noch jüdisches Leben in diesem Land geben. Die demographische Entwicklung in der Jüdischen Gemeinde in Deutschland lässt da kaum Platz für Zuversicht. Allenfalls in Berlin, München und Frankfurt am Main werden noch jüdische Gemeinden existieren.Für das Historische Gedächtnis unserer Gesellschaft wird eine solche Entwicklung schwerwiegende Folgen haben. Die staatliche Erinnerungspolitik wird an Glaubwürdigkeit einbüßen, während gleichzeitig der Judenhass nicht verschwinden wird. Antisemitismus braucht keine Juden. So war das schon bei Martin Luther, der in seinem Leben nur wenige Male jüdischen Menschen begegnet ist und dennoch zu unfassbaren Hasstraktaten gegen sie fähig war.Die israelische Historikerin Shulamit Volkov, die hierzulande mit ihrer Rathenau-Biografie einem größeren Publikum bekannt wurde, beschreibt den Antisemitismus als einen „kulturellen Code“, eine Art ideologischer Kitt, der im rechten Spektrum die unterschiedlichsten Personen und Gruppierungen zusammenhält. Zu diesem Code gehört seit vielen Jahren der Verweis auf Israel als „Apartheidstaat“, der für die Vertreibung von Millionen Palästinenser verantwortlich gemacht wird. Eine solche Wortwahl gilt auch bei vielen Linken als Signum ihrer Identität. Das Hamas-Massaker vom 7. Oktober, die Ermordung von über 1.200 unschuldigen Menschen, wird mehr oder weniger als Akt der Dekolonialisierung gedeutet.Literatur als „Erfahrungsspreicher“, wie Christa Wolf es ausdrückteSo wird es denn in Zukunft noch mehr Aufgabe von Schriftsteller*innen sein, gegen Hass und Propaganda anzuschreiben und die Erinnerung an das jüdische Leben in Deutschland wachzuhalten. Literatur als „Erfahrungsspeicher“, wie es Christa Wolf einmal ausdrückte. Der Faschismus in Deutschland ist noch lange nicht auserzählt. Hat denn schon mal wer die Geschichte aufgeschrieben von der jüdischen Familie, die Heiligabend 1942 die Christvesper der Berliner Sophienkirche aufgesucht hat? Den Weihnachtsstern trugen sie gut sichtbar am Mantel; die Kinder sollen völlig erschöpft und entkräftet gewesen sein. Diese Menschen wollten nur mal kurz zur Ruhe kommen; vielleicht haben sie auch Hilfe gesucht. Wie man sich in der Sophiengemeinde erzählt, ist der Mann im Talar sofort zu ihnen geeilt, mit den Worten: „Ihr habt hier nichts zu suchen!“Und vielleicht sollten wir in der Almstadtstraße wirklich eine Gedenktafel anbringen, nur eben nicht für den Messias. Rabbiner Schneerson hatte ein erfülltes Leben. Der unlängst verstorbene Historiker Horst Helas schreibt, dass nach 1933 in der Grenadierstraße 370 jüdische Kinder, Frauen und Männer gelebt haben. Allein aus dieser Straße tauchen in den Deportationslisten die Namen von 196 Jüdinnen und Juden auf – diese Menschen sollen nicht vergessen sein. In der Almstadtstraße sind aber nur etwa 20 Stolpersteine verlegt.Eine Ehrentafel verdient ein anderer: Fleischermeister Silberberg, der an der Ecke Hirtenstraße sein Geschäft hatte. Am 5. November 1923 stellte er sich dem antisemitischen Mob entgegen, nachdem ein Geflüchteter in seinem Laden Schutz gesucht hatte. Die Zeitung der Deutschnationalen, Der Tag, berichtete tags darauf: „Bei dem Überfall auf einen Schlächterladen kam es zu einem schweren Kampf des jüdischen Schlächters mit den Eindringenden. Er ergriff in der Abwehr sein großes Beil, warf sich der anstürmenden Menge entgegen und hieb blind auf diese ein. Dadurch wurde ein Mann schwer und mehrere leicht verletzt.“ – Schon damals haben sich Juden gewehrt.
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