Deborah Feldman: Deutschland stellt sich an Israels Seite. Und lässt uns Juden im Stich
Deutsche Zustände Die Autorin des Weltbestsellers „Unorthodox“ kritisiert, dass für deutsche Politiker die Sicherheit und Zugehörigkeit hier lebender Jüdinnen und Juden offenbar weniger zählen als die bedingungslose Parteinahme für Israel
Deutschlands heutiger Vizekanzler von den Grünen war für Deborah Feldman einst ein „Hoffnungsträger“
Foto: Alexa Vachon
Ich lebe jetzt seit fast einem Jahrzehnt in Deutschland, aber die einzigen Menschen, mit denen ich über den Nahostkonflikt diskutieren kann, sind Israelis und Palästinenser. Deutsche neigen dazu, jeden Versuch eines konstruktiven Gesprächs darüber mit der Floskel zu ersticken, das Thema sei einfach „viel zu kompliziert“. Deshalb sind die Einsichten, die ich über die geopolitischen Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte gewonnen habe, das Ergebnis privater Gespräche, versteckt vor den abfälligen Blicken einer deutschen Öffentlichkeit, die uns gerne darüber belehrt, dass jede Kritik Israels antisemitisch sei.
Mir scheint, dass die Repräsentation von Jüdinnen und Juden in der deutschen Öffentlichkeit von einer transakti
transaktionalen Beziehung bestimmt wird – und dass sie zugleich die Meinungen einer unsichtbaren Mehrheit der hier lebenden Jüdinnen und Juden verdeckt, die nicht Mitglieder der Gemeinden sind, welche vom deutschen Staat finanziell unterstützt werden, und die nicht ständig die einzigartige Bedeutung der bedingungslosen Loyalität gegenüber dem Staat Israel betonen.Aufgrund der Vormachtstellung der offiziellen Institutionen und Gemeinden werden die Stimmen derer, die nur für sich sprechen, oft zum Schweigen gebracht oder diskreditiert und durch die lauteren Stimmen von Deutschen ersetzt, deren aus dem Holocaust her rührende Schuldgefühle sie dazu veranlassen, das Jüdischsein zwanghaft zu fetischisieren.Die Reaktionen auf mein Buch Judenfetisch waren bezeichnendAls ich vor kurzem mein Buch Judenfetisch über diese weit verbreitete Verdrängung jüdischer Menschen in Deutschland durch zielbewusste Opportunisten veröffentlichte, war die Reaktion bezeichnend: Ein Journalist, der für die offizielle und auch teilweise öffentlich-finanzierte deutsch-jüdische Zeitung schreibt, unterstellte meiner ganzen Argumentation Israel-Hass und meinen angeblichen posttraumatischen Stress als einer Frau, die die ultra-orthodoxe Gemeinde verlassen hat.Wie die meisten säkularen Juden in Deutschland bin ich an die Aggressionen gewöhnt, die das mächtige, staatlich unterstützte „offizielle Judentum“ gegen uns richtet. Theateraufführungen, die in New York und Tel Aviv Standing Ovations bekommen, werden in Deutschland auf dessen Geheiß abgesagt, Autor:innen werden ausgeladen, Preise werden zurückgezogen oder ihre Verleihung verschoben, Medien werden unter Druck gesetzt, unsere Stimmen von ihren Plattformen auszuschließen. Seit dem 7. Oktober sind alle, die die deutsche Reaktion auf die furchtbaren Anschläge der Terrororganisation Hamas kritisieren, einer noch stärkeren Ausgrenzung ausgesetzt als sonst.Nachdem ich beobachten musste, wie Palästinenser:innen und Muslim:innen im Allgemeinen in Deutschland kollektiv für die Anschläge der Hamas verantwortlich gemacht wurden, unterzeichnete ich zusammen mit mehr als 100 jüdischen Akademiker:innen, Schriftsteller:innen und Künstler:innen einen offenen Brief, in dem wir die deutschen Politiker:innen aufforderten, nicht die letzten verbliebenen sicheren Räume, in denen Menschen ihre Trauer und Verzweiflung ausdrücken können, zu verschließen. Die offizielle Seite der jüdischen Community in Deutschland reagierte sofort. Am 1. November, als ich gerade in einer TV-Talkshow mit dem Vizekanzler Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) auftreten wollte, bekam ich einen Screenshot eines Postings, in dem derselbe deutsch-jüdische Journalist, der mein Buch angegriffen hatte, öffentlich darüber zu fantasieren vorgab, wie ich in Gaza in Geiselhaft genommen würde. Da blieb mir das Herz stehen.Mir wurde klar: Nicht alle Opfer zählen gleich vielPlötzlich wurde mir klar: Dieselben Leute, die gefordert hatten, jeder Muslim in Deutschland müsse die Angriffe der Hamas verurteilen, um überhaupt sprechen zu dürfen, hatten mit dem Tod von Zivilisten kein Problem, solange es sich bei den Opfern um Menschen handelte, deren Ansichten sie ablehnten. Die bedingungslose Unterstützung Israels hindert die deutsche Regierung nicht nur daran, den Tod von Zivilisten in Gaza zu verurteilen – sie erlaubt ihr auch zu ignorieren, dass dissidente Juden in Deutschland genauso verächtlich gemacht werden wie in Israel.Die Menschen, die am 7. Oktober auf grausame Weise ermordet und geschändet wurden, gehörten zum linken, säkularen Teil der israelischen Gesellschaft; viele von ihnen hatten sich als Aktivisten für ein friedliches Zusammenleben eingesetzt. Ihr militärischer Schutz wurde zugunsten dessen der radikalen Siedler im Westjordanland aufgegeben, von denen viele militante Fundamentalisten sind. Für viele liberale Israelis wurde dadurch das Sicherheitsversprechen des Staates für alle Juden als selektiv und bedingt entlarvt. Ganz ähnlich scheint in Deutschland der Schutz für Jüdinnen und Juden nur für diejenigen zu gelten, die der rechtsnationalistischen Regierung Israels treu sind.In Israel werden die von der Hamas festgehaltenen Geiseln von vielen bereits aufgegeben, als ein notwendiges Opfer, das nur insofern von Bedeutung ist, als es zur Rechtfertigung des gewaltsamen Krieges dienen kann, auf den die religiöse Rechte gewartet hat. Für israelische Nationalisten war der 7. Oktober ihr persönlicher Tag X, der Beginn der Erfüllung der eschatologischen biblischen Prophezeiung von Gog und Magog, der Beginn eines Krieges, der alle Kriege beenden und alle fremden Völker vernichten wird. Die Angehörige der Opfer des 7. Oktober, die ein Ende dieses Kreislaufs des Grauens, des Hasses und der Gewalt fordern, und die israelische Regierung anflehen, sich nicht in ihrem Namen zu rächen, werden in Israel nicht gehört. Und da Deutschland sich aufgrund des Holocausts als bedingungslos mit Israel verbündet sieht, versuchen manche hierzulande, ähnliche Bedingungen für den öffentlichen Diskurs zu schaffen.Einige der von der Hamas festgehaltenen Geiseln haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Als ich aber einen Politiker der Ampelkoalition fragte, wie die Regierung zu diesen Menschen stehe, war ich schockiert, als seine Antwort unter vier Augen lautete: „Das sind doch keine reinen Deutschen“. Er wählte keinen der vielen akzeptablen Begriffe für Deutsche mit doppelter Staatsbürgerschaft, er benutzte nicht einmal Adjektive wie „richtig“ oder „echt“, um darauf hinzuweisen, dass sie keine vollwertigen oder richtigen Deutschen sind – stattdessen verwendete er den Terminus der Nazis, um zwischen Ariern und Nicht-Ariern zu unterscheiden.In Wirklichkeit geht es gar nicht um uns Juden, sondern vor allem um die deutsche PsycheÖffentlich posaunt derselbe Politiker bei jeder Gelegenheit Deutschlands israelfreundliche Haltung heraus. Zugleich scheint er antisemitische Klischees der extremen Rechten zu bedienen, indem er Deutschland als machtlos hinstellt, von Israels Forderungen in irgendeiner Weise abzuweichen, selbst wenn die Folge der israelischen Bombardements tausende zivile Opfer in Gaza sind.Ist es da verwunderlich, dass Juden hierzulande sich sorgen, die deutsche Fixierung auf Israel habe am Ende mehr mit der deutschen Psyche zu tun als mit ihrer eigenen Sicherheit und Zugehörigkeit? Anfang November nahm Robert Habeck ein staatsmännisches Video über Antisemitismus auf, in dem er versicherte, dass der Schutz jüdischen Lebens unverhandelbar sei. Viele sahen darin auch den Versuch, seine eigenen Führungsqualitäten zu beweisen; sicher war es das Bemühen, jenen rhetorischen Raum zu besetzen, den Kanzler Olaf Scholz (SPD), und andere wichtige Minister wie Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) auffällig und besorgniserregend leer gelassen haben.Ich hatte nicht vorher geplant, eine zehnminütige Rede während meines Fernsehauftritts an Habeck zu richten. Aber durch den erwähnten Screenshot des Online-Postings passierte etwas: Ich vergaß meine Notizen und ließ alles heraus; mein Herz schlug so schnell, dass ich es in meinen Ohren hören konnte, meine Stimme zitternd. Ich sagte alles, was ich auf dem Herzen hatte: Verzweiflung über diesen nicht enden wollenden Krieg und über unsere Ohnmacht angesichts seines Horrors; Angst vor dem Zusammenbruch unserer Zivilisation aufgrund der zunehmenden Schwächung des Wertesystems, das sie zusammenhält; Trauer über einen Diskurs, der die Bande zwischen Freunden, Familie und Nachbarn zerreißt; Ärger über die offensichtliche Heuchelei, mit der kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden; und ja, meine Enttäuschung über Habeck selbst, der für mich ein Hoffnungsträger gewesen war.Ich sagte zu Habeck: „Sie werden sich zwischen Israel und den Juden entscheiden müssen“Ich dachte an die Überlebenden des Holocaust, die mich großgezogen hatten, an die Lehren, die ich aus der Literatur von Überlebenden wie Primo Levi, Jean Améry, Jorge Semprún gezogen hatte, und ich flehte und warb beim Vizekanzler um Verständnis dafür, dass die einzig legitime Lehre aus den Schrecken des Holocaust die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle war, und dass wir unsere Werte schon dadurch untergrüben, wenn wir sie nur unter bestimmten Bedingungen hochhielten.Irgendwann sagte ich zu ihm: „Sie werden sich zwischen Israel und den Juden entscheiden müssen“. Denn die einen sind nicht das gleiche wie das andere, und manchmal geraten beide sogar in einen Widerspruch, wenn Aspekte jüdischen Lebens durch die bedingungslose Loyalität gegenüber einem Staat bedroht werden, der nur manche Jüdinnen und Juden als schützenswert ansieht.Ich glaube nicht, dass Habeck mit meiner Rede gerechnet hat. Aber er tat sein Bestes und antwortete, er verstehe zwar, dass meine Sichtweise von bewundernswerter moralischer Klarheit sei, dass er aber der Meinung sei, ihm als Politiker in Deutschland, in dem Land, das den Holocaust begangen hat, stehe es nicht zu, eine derartige Position zu vertreten. Das aber heißt doch nichts anders als: Wir sind an einem Punkt im deutschen Diskurs angekommen, an dem wir offen zugeben, dass der Holocaust als Rechtfertigung für die Aufgabe moralischer Klarheit dient.Viele Deutsche, mich eingeschlossen, hatten auf Habeck einige Hoffnungen gesetzt. Wir sahen in ihm einen von uns, einen Träumer und Geschichtenerzähler, jemanden, der in die Politik gegangen ist, weil er glaubte, sie verändern zu können – stattdessen scheint sie nun ihn verändert zu haben.Während rechtsextreme Parteien wie die deutsche AfD und der Rassemblement National in Frankreich versuchen, Jahrzehnte der Holocaust-Leugnung und der Volksverhetzung mit der bequemen bedingungslosen Umarmung Israels zu übertünchen (denn warum sollten Nazis ein Problem mit Juden haben, die weit weg sind?), sehen wir jetzt, wie sehr wir daneben lagen, als wir dachten, dass diese Art der Doppelmoral nicht im Herzen der liberalen Gesellschaft angekommen sei. Und in der Tat waren unter den Redebeiträgen in der Bundestagsdebatte vergangene Woche die Äußerungen der AfD und die der Ampel-Regierung zur historischen Verantwortung des Landes gegenüber den Juden einander so ähnlich, dass ich sie beim besten Willen nicht auseinanderhalten konnte.
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