Nahostkonflikt gestern und heute: Woher die Gewalt kommt
Antisemitismus Dass die Palästinenser Israel ablehnen, erscheint oft als Zwangsläufigkeit. Doch die Ablehnung hat einen Ursprung – und der hat nichts mit Israel und seiner Politik zu tun
Amin al-Husseini bei einem Besuch bosnischer Freiwilliger der SS in Deutschland, November 1943
Foto: Ullstein Bild
Sie kamen am Schabbatmorgen. Tausende muslimische Männer, bis an die Zähne bewaffnet, drangen in die Häuser wehrloser Juden ein, misshandelten, töteten und vergewaltigten sie. Es war ein tödliches und brutales Pogrom – und es war der 24. August 1929. Das Massaker von Hebron, wobei ein arabischer Mob 67 Juden ermordete, gehört zur Gewaltgeschichte des Nahostkonflikts, weist jedoch Charakteristika auf, die in den Debatten darüber eine erstaunlich unterbelichtete Rolle spielen.
Erstens waren die jüdischen Bewohner Hebrons keine Zionisten. Sie waren Teil einer seit Jahrhunderten bestehenden Gemeinschaft, die aus religiösen, nicht politischen Motiven an diesem für sie heiligen Ort lebte. Zweitens fand das Massaker 19 Jahre vor der Grün
politischen Motiven an diesem für sie heiligen Ort lebte. Zweitens fand das Massaker 19 Jahre vor der Gründung des Staates Israel statt, ja sogar acht Jahre bevor die britische Peel-Kommission erstmals eine Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorschlug.Sein Ausbruch lässt sich also nur schlecht mit der Politik des jüdischen Staates oder dem Handeln der ermordeten Juden erklären. Ja, es gab bereits Spannungen zwischen jüdischer und arabischer Nationalbewegung im britischen Mandatsgebiet. Doch warum sollten diese zu einem Massaker an völlig unbeteiligten Juden führen? Es kann darauf nur eine Antwort geben: Antisemitismus.Zionismus hieß FortschrittAntisemitismus spielt in der progressiven Erzählung vom Nahostkonflikt praktisch keine Rolle. Dass die Araber Palästinas sich gegen die Präsenz jüdischer Einwanderer stellen sollten, erscheint wie eine Zwangsläufigkeit. Das gilt auch für die Reaktion auf die Gründung Israels im Mai 1948. Der Überfall der arabischen Staaten war jedoch kein Ereignis, so unvermeidbar wie ein Regenschauer. Im Gegenteil, noch bis kurz vor dem Überfall zögerten viele Mächtige in den jeweiligen Hauptstädten. Ja, es gab sogar jenseits der offiziellen Ablehnung des Teilungsplans durchaus Sympathien für die Zweistaatenlösung. Emblematisch für diese Doppelzüngigkeit steht eine Aussage Muzahim al-Pachachis, ab Ende Juni 1948 Premierminister des Irak: „Am Ende werden wir die Existenz des jüdischen Staates zu akzeptieren haben, heute aber ist es politisch ausgeschlossen, dies öffentlich anzuerkennen.“Auch in Palästina hatten viele Araber kein Interesse an einem Krieg. Zahlreiche örtliche arabische Anführer sahen in der jüdischen Einwanderung vielmehr einen Gewinn – die Zionisten legten Sümpfe trocken, bewässerten ausgetrocknetes Land, brachten landwirtschaftliche Geräte und Fertigkeiten, kurzum: Fortschritt – und setzten sich für eine Unterstützung des Zionismus oder wenigstens Kompromisse mit ihm ein. Doch insgesamt war die Stimmung zu diesem Zeitpunkt bereits gekippt.Das hat viel mit einem Mann zu tun, der in herkömmlichen Darstellungen des Konflikts ebenfalls gerne ausgespart wird: Amin al-Husseini. Ab 1921 Mufti von Jerusalem, konnte er große politische und religiöse Autorität beanspruchen, war de facto der Anführer der Araber Palästinas. Schon früh war er der Ansicht, die Lösung sei nur durch Gewalt und Massaker an den Juden zu erreichen: „Jene fremden Invasoren, die Zionisten, werden wir massakrieren bis zum letzten Mann. Wir wollen keinen Fortschritt, keinen Wohlstand. Nichts anderes als das Schwert wird die Zukunft dieses Landes entscheiden.“ In den folgenden Jahren ließ al-Husseini keine Gelegenheit ungenutzt, um die arabische Bevölkerung gegen die Juden aufzuhetzen.1937: Der Mufti flieht vor den Briten ins ExilMit großer Brutalität ging er auch gegen die innerarabische Opposition vor. So diente der arabische Aufstand 1936 – 39 nicht nur Angriffen auf Briten und Juden, sondern dezidiert auch der Terrorisierung jener Araber, die mit den Zionisten zusammenarbeiteten. Als junger Steinewerfer war auch ein Großneffe des Muftis zugegen: der spätere Anführer der PLO, Jassir Arafat, der in seinem älteren Verwandten einen Helden sah. In die Zeit des Aufstands fiel auch die Publikation des Pamphlets Islam – Judentum, dessen Verfasser mit großer Wahrscheinlichkeit der Mufti war. Es steht emblematisch für die Radikalisierung und Islamisierung des Konflikts. Die Juden waren nun nicht mehr nur politische Gegner, sondern die ultimativen, globalen und weltgeschichtlichen Feinde aller Muslime.Eine Ideologie, die auch die 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbrüder vertreten, aus denen Jahrzehnte später die Hamas hervorging. Als arabisch-muslimische Variante eines Aufbegehrens gegen die Verwerfungen der Moderne waren die Muslimbrüder zunächst vor allem gegen andere Muslime vorgegangen: Sie zerstörten Geschäfte, die Alkohol verkauften, und attackierten Muslime, die sich nicht streng an alle religiösen Gebote hielten. Die Verknüpfung ihres Programms einer Islamisierung mit der Palästinafrage bescherte ihnen gewaltigen Zulauf, 1948 zählten sie gut eine halbe Million Mitglieder. Schon bald waren sie ein Machtfaktor, den die ägyptische Regierung nicht mehr ignorieren konnte.Nachdem die Briten den Mufti 1937 zu verhaften versuchten, ging dieser ins Exil, was seinen Einfluss jedoch nicht schmälerte. Nicht nur mit den Muslimbrüdern arbeitete er in der Folge zusammen, sondern auch mit den Nazis. In Berlin setzte er sich für die Ermordung jüdischer Kinder ein, auf dem Balkan stellte er eine muslimische SS-Einheit auf. Die Nazis wurden auch selbst im Nahen Osten aktiv. Die Gegend war im Zweiten Weltkrieg propagandistisch hart umkämpft, alle Großmächte unterhielten Radiosender, doch der deutsche Sender konnte geschickt an antibritische und antijüdische Ressentiments anknüpfen. Jahrelang beschallten die Deutschen die Region mit antisemitischer Propaganda auf Arabisch. Wie wenig man sich in Deutschland für diesen Aspekt bis heute interessiert, wird daran deutlich, dass das Standardwerk von Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World, bis heute einer Übersetzung harrt.Wie groß der Einfluss dieser Propaganda tatsächlich war, ist im Nachhinein schwer feststellbar. Auffällig ist jedoch, dass sich die Hetze des Muftis, der Muslimbrüder und der Nazis sehr ähnelte. Gemeinsam entfalteten sie eine Wirkung, die unübersehbar ist. Im Laufe der 1930er und 1940er Jahre zerstörten sie und andere Akteure wie die panarabischen Nationalisten die Grundlage des jüdisch-arabischen Zusammenlebens in der gesamten Region.Man kann den Nahostkonflikt nicht ohne den arabischen Antisemitismus verstehenVor diesem Hintergrund ist die Entscheidung zum Krieg gegen Israel 1948 zu verstehen. Die Muslimbrüder übten mit Massendemonstrationen und dem Aufstellen bewaffneter Verbände in Palästina erheblichen Druck auf die arabischen Regierungen aus. Mit Erfolg: Kein arabischer Staatsmann konnte sich für Kompromisse mit den Zionisten einsetzen, ohne seine Macht und sein Leben aufs Spiel zu setzen, erklärte später Abdel Rahman Azzam, seinerzeit Generalsekretär der Arabischen Liga. Die antisemitische Stimmung in den arabischen und muslimischen Ländern der Region führte auch zur Vertreibung nahezu aller Juden aus diesen Staaten.Man kann den Nahostkonflikt nicht verstehen, ohne den islamischen und arabischen Antisemitismus miteinzubeziehen. Im Gegenteil, erst der Antisemitismus macht den Konflikt verstehbar. Ohne ihn lässt sich das vollkommen unvernünftige jahrzehntelange Festhalten an einer totalen Ablehnung Israels nicht erklären. Das heißt nicht, dass alle Araber oder alle Muslime überzeugte Judenfeinde sind. Es reicht, wenn, wie 1947/48, einflussreiche Gruppen in entscheidenden Momenten antisemitische Kampagnen anzetteln, um jene unter Druck zu setzen, die für Kompromisse sind. So war es bei allen Kriegen seither, bei der Ersten Intifada, bei der Zweiten Intifada – und so torpedierte auch der Angriff der Hamas vom 7. Oktober die Friedensgespräche zwischen Israel und Saudi-Arabien.Es ist nicht nur tragisch, sondern in seinen Konsequenzen für die Bevölkerung vor Ort katastrophal, dass sich so viele Linke die islamistische und nationalistische Erzählung, wonach sich die Araber nur gegen die Juden verteidigen würden, zu eigen machen. In dieser Sicht der Dinge ist der palästinensische Widerstand, mag er noch so brutal ausfallen, immer eine Reaktion auf die Politik Israels – und niemals die Politik Israels eine Reaktion auf die Gewalt, die von Palästinensern ausgeht.Zur Geschichte des Massakers von Hebron gehört auch, dass Hunderte Juden von ihren arabischen Nachbarn gerettet wurden. Diese Nachbarn, die den Wert des Lebens des Einzelnen vor alle anderen Erwägungen stellten, sind Sinnbild eines anderen Nahen Ostens – eines Nahen Ostens, der hätte sein können. Wenn ein rabiater Antisemitismus nicht die Stimmung vergiftet hätte, lange bevor Israel auch nur einen Araber vertrieben oder einen Quadratmeter Land besetzt hatte.
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