Was ist linker Antisemitismus? Ein Blick in die Geschichte
Gesellschaft Gibt es ideologischen Judenhass im Lager von Gleichheit und Fortschritt? Wo kommt er her? Wie virulent ist er? Immer wieder ruft der Nahostkonflikt diese Fage auf. Und die Antwort darauf fällt nicht leicht
Demo der Außerparlamentarischen Opposition am 4. September 1969 in Westberlin, wo es am 9. November desselben Jahres zum versuchten Anschlag auf ein Jüdisches Gemeindehaus kam
Foto: dpa
Linker Antisemitismus ist eine Schimäre. Natürlich können auch Linke antisemitisch denken, fühlen, handeln. Als Wortfügung klingt „linker Antisemitismus“ aber paradox, wie ein Oxymoron. Schließlich wird gerade jener politische Pol der radikalen Demokratie gemeinhin „links“ genannt, der für Gleichheit und Solidarität stritt. Viele Juden fanden hier ihre Heimat – im Streben nach einer herrschaftsfreien und gleichen Gesellschaft.
Von antijüdischer Religions- und antisemitischer Kapitalismuskritik
Dennoch konnten sich antisemitische Ideologien auch gerade aus dem Impetus radikaler Demokratie und Aufklärungsemphase ergeben. So startete die Karriere so mancher Antisemiten – wie einiger Junghegelianer oder Frü
lianer oder Frühsozialisten wie Eugen Dühring – mit einer Religionskritik, die schließlich dem Judentum besonderen Autoritarismus und Unverträglichkeit mit der Aufklärung unterstellte. Im religionsfeindlichen Anarchismus Michail Bakunins kam dies wiederum zum Tragen – und verband sich mit einem das Volk und seine „Instinkte“ hypostasierendem Populismus. Eine simple antikapitalistische Tendenz frühsozialistischen Denkens wollte schließlich im Kapitalismus ein Werk der Juden sehen – und hatte da etwa den Aufstieg der Bank Rothschild in ganz Europa vor Augen.Die Gleichstellung der Juden, ihr darauf aufbauender gesellschaftlich-ökonomischer Erfolg und ihre Integration in die bürgerlich-militaristischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts hatten schließlich zur Folge, dass einige sozialistische Stimmen ein Ressentiment gegenüber Juden pflegten. Die Dreyfus-Affäre im Frankreich der 1890er Jahre war Menetekel. Doch sowohl im Anarchismus wie auch im Marxismus begannen die sozialistischen Protagonisten, Klarheit über die Funktion des Antisemitismus auf der einen und der kapitalistischen Produktionsweise auf der anderen Seite zu gewinnen. Ausnahmen bestätigen hier die Regel. Denn die Arbeiterbewegung und das proletarische Milieu waren weit weniger für Antisemitismus empfänglich als andere soziale und politische Kräfte.Pazifismus zu Lasten der JudenIn der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlagen einige pazifistische Linke in Frankreich der Versuchung, ihre ideologische Gewaltfreiheit dadurch zu erhärten, indem sie sich gegenüber dem Schicksal der verfolgten und ermordeten Juden in Nazi-Deutschland ignorant verhielten, Adolf Hitler als verhandlungsfähig erachteten und gelegentlich antisemitische Argumente gegen Antifaschisten und gegen einen notwendigen Konfrontationskurs gegenüber Nazi-Deutschland aufbrachten. In Deutschland liebäugelte die KPD in Krisensituationen wie 1923 und 1930 damit, den Antisemitismus als Propagandainstrument behandeln zu können, um Kleinbürger ins sozialistische Lager zu ziehen. Gläubige und überzeugte Antisemiten gab es in der KPD aber nicht. Was es in dieser Partei hingegen gab, waren viele Juden, die sich eine universelle Befreiung für alle im Kommunismus erwünschten.Dem französischen Historiker Michel Dreyfus zufolge, der 2009 ein kundiges Buch des Titels L’antisémitisme à gauche. Histoire d’un paradoxe, de 1830 à nos jours herausbrachte, ist der Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Organisationen der Linken verschwunden. Nur Kleinstgruppen der extremen Linken hätten sich eines Negationismus befleißigt, also die Judenvernichtung geleugnet. In Hinblick auf den vermeintlichen Antisemitismus der Neuen Linken, der sich in ihrer Palästina-Unterstützung seit 1967 zeige, ist Dreyfus vorsichtig. Für ihn ist klar, dass gewisse Gruppen den Ausdruck „Zionismus“ zur Bezeichnung Israels in zweideutiger Weise gebrauchen. Ebenso frappierend sei es, dass diese Gruppen sich auf den Israel-Palästina-Konflikt einschießen, während andere schwerwiegende Konflikte vergessen werden. Diesen Gruppen, so stellt Dreyfus fest, unterliefen aber nur selten antisemitische Entgleisungen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel.Der Antizionismus und seine GrauzonenDer versuchte Anschlag auf ein Jüdisches Gemeindehaus 1969 in West-Berlin, der offensichtlich von dem Spontaneisten Dieter Kunzelmann unter Mitwisserschaft des bundesrepublikanischen Verfassungsschutzes angeleitet wurde, stellt eine solche antisemitische Tat dar. Entebbe – die Entführungsaktion einer westdeutschen Revolutionären Zelle zusammen mit der PFLP, in deren Verlauf es zu einer Selektion von israelischen und nicht-israelischen Fluggästen einer Passagiermaschine kam – verweist auf den Antihumanismus terroristischer Aktionslogiken im Kontext nationaler Befreiungskämpfe.Gerne werden diese einzelnen Taten nun zum Inbegriff des westdeutschen linken Antizionismus erklärt. Dieser war jedoch weit differenzierter, zuweilen stark von einer trotzkistisch-weltrevolutionären Kritik des Zionismus als nationalem Befreiungskolonialismus geprägt – oder schlicht für einen gerechten Frieden und eine Zweistaatenlösung. Sicherlich haben die stalinistische Sowjetunion und die ihr unterstellten Ostblockstaaten diverse antisemitische Kampagnen von den 1930er Jahren bis in die 1950er und 1960er Jahre gesehen. Soweit eine Linke in der Kalten-Kriegs-Logik befangen blieb und sich umstandslos mit der Politik der Sowjetunion solidarisierte, musste sie auch deren antisemitische Züge ignorieren oder mittragen. Der Publizist Michael Landmann erklärte in einer zeitgenössischen Streitschrift gegen den Antizionismus der Neuen Linken, dass diese nicht so unabhängig von Moskau sei, wie sie sage. Das ist sicherlich korrekt – und gerade in der Szene der maoistischen K-Gruppen der 1970er Jahre oder im autonom-antiimperialistischen Milieu der bundesrepublikanischen 1980er Jahre wurde ein simpler Antizionismus als Erkennungsmerkmal gepflegt, der sich nolens oder volens mit dem Sprachvorrat des Stalinismus ausstattete.Der kampagnenartige „Antizionismus“ sowjetischer Prägung, der als autoritäres Erziehungs- und Einschüchterungsinstrument zum Einsatz kam, wie dessen schwächerer Nachhall in der DDR, wo jüdische, aus dem Westen remigrierte Kommunisten drangsaliert wurden – und somit Antizionismus und Antisemitismus für kurze historische Momente tatsächlich Synonyme wurden –, ist verblichen. Der Antisemitismus als kultureller Code in diesen Gesellschaften freilich nicht; in Russland existiert eine rot-braune Szene des Nationalbolschewismus oder anderer Couleur, für die der Antisemitismus zur Welterklärung gehört. Abermals wird die Macht der ewig verschwörerischen Rothschilds beschworen. Auch die heutige russische KP ist alles andere als frei von Nationalismus und Antisemitismus. Vielmehr scheint sie Zufluchtsort all dieser reaktionären Ideologien geworden zu sein, gegen die Lenin und die Bolschewiki, sowie andere Revolutionsgruppen 1917 Front machten.Das alles ist gut erforscht und nichts Neues. Zuweilen werden von interessierter Seite die hier genannten Phänomene maßlos überzeichnet, wird Antisemitismus zum ewigen festen Begleiter der Linken erhoben und die Leistungen der Linken – von linkssozialdemokratischer, orthodox-kommunistischer bis anarchistischer Seite – im Kampf gegen den Antisemitismus schlicht ignoriert oder herabgesetzt.Judith Butler, die Postkolonialen und der AntiisraelismusEin neueres Phänomen ist nicht erst mit dem 7. Oktober 2023 aufgetreten: Es existiert eine globale Linke, die wenig Berührungspunkte zur marxistischen oder anderweitigen sozialistischen Tradition hat. Dekonstruktivistische und postkoloniale Theorien leiten sie mehr an als marxistische Klassen- und Ausbeutungsanalysen. Judith Butler und Edward Said sind die klingenden Namen und theoretischen Bezugspunkte.Placeholder image-1An ihnen orientieren sich junge akademische Aktivist*innen, die radikal menschenrechtlich motiviert sind. Ihnen schlägt zuweilen der Vorwurf des Antisemitismus entgegen, obwohl dieser ja stets das menschenrechtliche Gleichheitsparadigma angriff. Verweigern sich die Aktivist*innen den gegebenen Sprachmodulen zum 7. Oktober oder warnen sie – durchaus im Einklang mit einigen Genozidforschern wie Omer Bartov – vor einem Völkermord in Gaza, so wird ihnen „israelbezogener Antisemitismus“ oder „Antisemitismus gegen Israel“ vorgehalten.Die Motivlage der Akteure mag in manchem Fall über realitätsgerechte Empörung oder berechtigte Wut auf einen Staat hinausgehen, der seine Kriegsführung ohne Schonung der Zivilbevölkerung exekutiert. Sie aber schlicht im Antisemitismus zu verorten, geht fehl oder ist bloß Unterstellung. Zumal aus der Geschichte des Antisemitismus bekannt ist, dass dieser meist in Kombination mit anderen Ideologien gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auftritt. Antifeminismus – bei dem Antisemiten Proudhon fester Bestandteil seiner Ideologie – wird man bei linken pro-palästinensischen Protagonist*innen nicht antreffen, viele definieren sich als ultrafeministisch oder queer. Auch ein autoritäres Staatsverständnis oder rassistische Vorurteile wird man unter den Aktivist*innen in geringerem Maße ausmachen können als bei ihren rechten Gegnern.Allerdings existiert in diesen Szenen ein Phänomen des Antiisraelismus. Er baut auf einer klaren Binarität, die zu einem Manichäismus drängt, auf. Hier kann Israel nur Täter sein. Die Hamas mit ihrer Ideologie und Praxis wird jedoch meist beschwiegen – und ein Erschrecken über die antijüdischen Gräueltaten vom 7. Oktober findet keine Verbalisierung. Hingegen meinen einige Protagonist*innen dieser neuesten Linken, in der Hamas eine antikoloniale Befreiungskraft erkennen zu können. Judith Butlers falsche Aussage von 2010, Hamas und Hisbollah sollten als zur Linken gehörige „soziale Bewegungen“ verstanden werden, trägt eine antihegemoniale Note der Beschwörung einer vielköpfigen Hydra, die sich gegen den imperialen Leviathan erheben möge. Den reaktionären Gehalt fundamentalistischer Religionsverständnisse muss sie dabei unterschlagen, obwohl Michel Foucaults Irrungen und Wirrungen über den fundamentalistischen Rollback der Mullah-Herrschaft im Iran 1979 hätten Warnung genug sein können.Dies resultiert aus einem Denken, das sich von angeblich westlichen teleologischen Geschichtserzählungen verabschieden will. Damit verschwindet aber offensichtlich auch das etwa dem klassischen Marxismus inhärente Vermögen, zwischen fortschrittlichen und rückschrittlichen Bewegungen zu unterscheiden.Sieht man Bilder von manchen Zusammenkünften dieses jungen globalen Aktivismus, erkennt man autoritäre und irrationale Züge. Folgt man Adornos Studien über die autoritäre Persönlichkeit, treten antisemitische Neigungen als Teile eines Einstellungssyndroms auf, das durch besondere Härte und Intoleranz gegenüber Menschen außerhalb der eigenen Gruppe gekennzeichnet ist. Muss dies auch für einige Gruppen der neuesten Linken konstatiert werden?Michael Landmann formulierte 1970: „Der soziale Kitt enger Gruppen und verschworener Kampfbünde ist der Glaube an den Wahnsinn. Leugne eine Evidenz, und du hast eine Partei. Neben der Gerechtigkeit und echten Wahrheit, die sie vertritt, glaubt daher auch die Neue Linke, ohne Skandalon nicht auskommen zu können, und in ihrer Not, ein solches Skandalon zu finden, bot sich ihr das Israelpseudos. Je skurriler es ist, umso besser versieht es seinen Zweck.“Gemünzt auf die Neue Linke von 1968, die gerade in Westdeutschland von der Kritischen Theorie und dem westlichen Marxismus geprägt war und sich an einer rationalistischen Imperialismusanalyse orientierte, waren diese polemischen Worte am Objekt der Kritik vorbeigeschrieben. Sie scheinen allerdings jetzt auf einige aktuelle identitätspolitische Kämpfer*innen frappierend genau zuzutreffen.Mutiger Nonsens: Queer für PalästinaSo sehr die dekonstruktivistische Queerness patriarchale und binäre Ordnungsvorstellungen unterläuft und darin subversiv wirkt, so sehr stellt dieses Weltbild doch eine Art der Realitätsverweigerung dar. Dem dekonstruktivistischen Praxisbegriff folgend, ist Diskurs und Performanz alles, eine vorgelagerte Wirklichkeit existiert nicht. Demzufolge sind die Behauptung, es gäbe nicht zwei, sondern beliebig viele Geschlechter, und die Behauptung, „Palestine is a queer question“, miteinander verwandt. Sie sind zwar im Sinne einer Wirklichkeitsbeschreibung Nonsens. Als Elemente einer Wunschmaschine, die darauf dringen, mehr als performative Sprechakte zu sein, sondern Wirklichkeit aufbauen wollen, sind sie utopistisch. Im positiven wie im negativen Sinne: So wollen die Kämpfer*innen gegen die patriarchale Reproduktion sich ausgerechnet mit einer im Sinne des Kapitalismus überschüssigen Bevölkerung solidarisch erklären, die wie die klassischen Proles nichts anderes als ihre Kinder besitzt. Als Kämpfer*innen gegen patriarchale Ordnungsvorstellungen reichen sie ausgerechnet einer Bevölkerung die Hand, unter der die reaktionärste und patriarchalste Islamauslegung grassiert.Die Bekundung „Queers for Palestine“ ist mutig. Sie reaktiviert einen Geist der Utopie, der in der Verweigerung von Feindschaftserklärungen besteht. Neokonservative mögen das als naiv verlachen. Als Solidaritätsbekundung sprengt sie auch den klassischen Begriff linker Solidarität, weil dieser auf geteilter Fortschrittlichkeit aufbaut. Als milieubedingte Modeerscheinung gerät postkoloniale Palästina-Solidarität zum Fetisch, zur Geste der autoritären Gruppenerkennung. Prekäre Behauptungen werden gerne für sakrosankt erklärt. Wer sie anzweifelt, ist dann Gegner, gehört nicht zur Gruppe, ist Teil des White-Supremacy-transfeindlichen Systems.Die neuesten woken Linken haben das zuweilen schlichte binäre Denken der Neuen Linken der 70er übernommen. Gerade aufgrund ihrer dekonstruktivistischen Haltung, alle festen Identitäten auflösen zu wollen, hätte man mehr von ihnen erwarten können. Auch versprach das „post“ in „postkolonial“, die Fehler der kolonialen Befreiungsbewegungen, besonders ihre Gewaltformen, zu überwinden.Judith Butler hat in ihrem neuesten, viel beachteten Text ohne jede Zweideutigkeit die Gewalt auf beiden Seiten abgelehnt. Im aktivistischen Erregungsmodus des Politischen können diese Erkenntnisse bei einigen ihrer Follower schnell schwinden. Theoretiker verfügen zuweilen nicht über die Art und Weise, wie ihre Überlegungen umgesetzt werden. Das ist seit Rousseau und Marx in der linken Geschichte bekannt.So konstruieren einige pro-palästinensische Aktivist*innen selbst – und entgegen den Absichten Edward Saids – einen linken Orientalismus, in dem der Araber als *Schwarzer und Orientale zum ewigen Opfer erklärt wird, für die israelischen Juden jedoch ein Prozess des Weiß-Werdens konstatiert wird, womit diese der historischen Täterseite im weltweiten Gefüge des Kolonialismus zugeschlagen werden. Als Opfer können Letztere nicht mehr erscheinen, weil Antirassismus und Antikolonialismus übergreifende Erklärungsmacht beanspruchen, Antisemitismus nur als Unterkategorie des Rassismus Geltung haben kann. Als bestialisch agierende Täter wie am 7. Oktober oder historische Kollaborateure beispielsweise der Nazis im Zweiten Weltkrieg können und dürfen Erstere nicht ins Bewusstsein treten, weil von einer so identifizierenden wie ideologisierenden Antirassismustheorie als *Schwarze Ausgemachte immer gute Opfer sind.Diese Ideologie harrt der Dekonstruktion in der Praxis. Hier bietet ein radikaler Universalismus, der das linke Projekt von Anfang an prägte, den notwendigen Ausweg. Die gute Nachricht: Ein solcher ist der Haupttendenz der Proteste gegen Besatzung, Rassismus und Krieg eingeschrieben.Placeholder authorbio-1
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