Ein Staat, zwei Nationen, ein Dilemma

Belgien Wieder fehlt eine Regierung. Winkt eine Allianz ohne die flämischen Radikalen?
Ausgabe 47/2019

Ich gehe zum König, verkündete Charles Michel vor fast genau einem Jahr, als seine zerstrittene Mitte-rechts-Koalition am Ende war. Folglich bat er im Palast, als Premier entlassen zu werden. Da im Mai 2019 ohnehin ein neues Parlament gewählt wurde, blieb Michel, der dem liberalen Mouvement Réformateur (MR) angehört, kommissarisch im Amt. Bart Eeckhout, Chefredakteur der Zeitung De Morgen, sah daraufhin „das Königreich Belgien unterwegs in eine lange, dunkle Periode institutioneller Instabilität mit gelähmten Regierungen“.

Ein Jahr später soll Michel Donald Tusk als Vorsitzenden des Europäischen Rats ablösen, und seine einstige Haushaltsministerin Sophie Wilmès ist Übergangspremier einer Regierung, die genauso flügellahm ist, wie Bart Eeckhout dies vorhersah. Auch der Rest seiner Prognose trifft zu: Auf der Suche nach einer neuen Koalition ist man bislang nur so weit gekommen, dass Paul Magnette, Chef des frankofonen Parti Socialiste (PS), seit Kurzem offiziell als „Informateur“ tätig ist und potenzielle Koalitionen eruiert. Das eigenwillige Prozedere ist freilich lange nicht so komplex wie die politische Realität Belgiens, deren ziemlich lose Enden Magnette zu verbinden sucht. Die kulturellen Unterschiede der beiden großen Sprachgebiete – das niederländische im Norden, das französische im Süden – spiegeln sich zunehmend in einem politischen Gegensatz wider: Flandern ist seit jeher tendenziell konservativ und marktliberal, die Wallonie und Teile der zweisprachigen Region Brüssel sozialdemokratisch und gewerkschaftlich geprägt.

Bei den Wahlen im Mai zeigte sich dies so drastisch wie selten zuvor: In Flandern gewann die bürgerlich-rechte Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) trotz klarer Verluste, die wiederum dem rechtsextremen Vlaams Belang (VB) zugutekamen. Mehr als 40 Prozent wählten so Parteien, die eher flämisch-nationalistisch als belgisch-föderal gestrickt sind. Im frankofonen Landesteil geht es in die andere Richtung: Der PS gewann trotz Einbußen, doch die grüne Partei Ecolo wie der marxistische Parti du Travail de Belgique (PTB) holten auf. Insgesamt entfallen etwa 55 Prozent auf linke Parteien.

Diese Tendenz zeigt sich auch in den neu gewählten Regionalparlamenten. In Wallonien und Brüssel regieren Sozialdemokraten, Grüne und Liberale, in Flandern gilt das für eine rechts dominierte Koalition aus N-VA, Liberalen und Christdemokraten. Man stützt sich auf ein Positionspapier der N-VA, das identitätspolitisch neue Maßstäbe setzt: erschwerter Zugang zu Sozialleistungen für Migranten, ein „flämischer Kanon“ im Interesse „historisch-kultureller Identität“, Hinwendung zur „flämischen Nation“. Die Unabhängigkeit steht seit jeher in den Parteistatuten. Derzeit beschränkt man sich auf die Forderung, Belgien in eine Konföderation weitgehend autonomer Landesteile umzuwandeln.

Genau diese Ambitionen hängen über den Koalitionsgesprächen. Die verlaufen so träge, dass selbst der berüchtigte belgische Rekord von 2010/2011– die mit 541 Tagen längste Zeit ohne ordentliche Regierung – in den Blick gerät. Bis vor Kurzem schien eine Formel mit sowohl PS als auch N-VA als dominanten Akteuren der jeweiligen Sprachgebiete die einzige Option. Dass Letztere als Bedingung eine weitere Regionalisierung forderte, stieß beim PS wiederum auf Widerspruch, der vor allem Sozialpolitik unter dem föderalen Dach behalten will. Dass König Philippe Anfang November nun Magnette, den starken Mann der frankofonen Sozialdemokraten, mit der Verhandlungsleitung beauftragte, deutet darauf hin, dass die N-VA darin keine Rolle mehr spielt. Eine Koalition aus Liberalen, Sozial- und – vielleicht – Christdemokraten wie Grünen hat nicht zwangsläufig auf beiden Seiten der Sprachgrenze eine Mehrheit – ein ungeschriebenes Gesetz belgischer Regierungsbildung. Sollte die auf der flämischen Seite fehlen, könnte dies Wasser auf die nationalistischen Mühlen besonders des identitären Vlaams Belang sein.

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