Suche nach der Konfrontation

Rückblick und Ausblick War 2015 ein Jahr der "gefährlichen Träume", wie Slavoj Žižek einst warnte? Zumindest besteht die Hoffnung, in der Zukunft ein sozialeres und besseres Europa zu schaffen

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Suche nach der Konfrontation

Foto: PHILIPPE HUGUEN/AFP/Getty Images

2012, als die Potentaten von Tunis über Tripolis bis Kairo plötzlich in arge Bedrängnis geraten waren und mit Occupy Wall Street erstmals eine kapitalismuskritische Massenbewegung mitten im Herzen der Vereinigten Staaten abertausende zum lautstarken Protest mobilisieren konnte, rief der slowenische Philosoph Slavoj Žižek das „Jahr der gefährlichen Träume“ aus. Wie groß waren damals doch die Hoffnungen, dass der Sturz der Tyrannen sich als ernsthafte Zäsur erweisen würde, als Anbeginn einer demokratischen Zeitenwende für weite Teile der arabischen Welt?

Im Westen hofften indes die kritischen Geister darauf, dass die Occupy-Proteste als Fanal um die Welt gehen und einer Renaissance des Widerstandes gegen Ausbeutung und Unterdrückung den Weg bereiten würden. Heute haben sich diese Hoffnungen größtenteils zerstreut. Die zwiespältige Bilanz des arabischen Frühlings ist allgemein bekannt. Die Occupy-Bewegung wiederum machte eine kurze, steile Karriere, exportierte sich in zahlreiche Länder und zeigte schon einige Zeit später die ersten Erlahmungserscheinungen.

Übrig geblieben ist nicht mehr viel von den erzürnten 99 Prozent und ihren Parolen, abgesehen von den alljährlichen Blockupy-Protesten vielleicht, die sich in Frankfurt nunmehr als alljährliches Ritual etabliert zu haben scheinen. 2012 war somit in der Tat ein Jahr der gefährlichen Träume, ein Jahr voller Visionen für eine bessere Zukunft, ein Jahr also, das sicherlich Unmengen subversiven und emanzipatorischen Potenzials barg und von dem am Ende dennoch sehr viel weniger langfristiger Wandel ausging, als man es sich damals wünschte.

Indes neigt sich 2015 dem Ende zu und wahrscheinlich dürfte der ein oder andere geneigt sein, für dieses Jahr schon jetzt ein ganz ähnliches Resümee zu ziehen. Die großen Hoffnungen des Jahres ruhten dieses Mal auf den Schultern einer Partei, die gleich im Januar triumphal die griechischen Parlamentswahlen gewann, einer Partei, die sich als solche überhaupt erst drei Jahre zuvor konstituiert hatte, um im Anschluss in einem kometenhaften Aufstieg von einer Splittergruppe zur veritablen Volkspartei zu avancieren, deren Wahlsieg die Mächtigen Europas zutiefst verstörte.

Ausgerechnet im Heimatland der Demokratie stellte das Votum des Volkes plötzlich das anämische, das technokratische Europa infrage, das die eigene Peripherie im Süden systematisch entmündigt hatte, um sie gleich im nächsten Schritt auf den Altären des Neoliberalismus ihrem grausamen Gott der entfesselten Märkte zu opfern.
Es lohnt sich, noch einmal Robert Misiks Bericht Inside Syriza zur Hand zu nehmen. So nah dran wie nur irgend möglich war Misik an den frischgewählten Regierenden und ihrem Taumel zwischen Euphorie und nagendem Zweifel, grenzenlosem Optimismus und Angst vor den vielen Damoklesschwertern über ihren Köpfen.

Der Kampf, der sich in den folgenden Monaten zwischen griechischer Regierung und Resteuropa entspann, war auch deshalb so mitreißend, weil mit dem kleinen Griechenland ein wahrhafter David angetreten war, ein Rebell wie aus dem Bilderbuch, wenn er auch weniger einem klassischen Goliath gegenüberstand, als vielmehr einem Monstrum gleich der vielköpfigen Hydra aus der nationaleigenen Mythologie. In sechzehnköpfiger Eintracht jedenfalls stand dem griechischen Finanzminister Varoufakis das seltsame Gremium mit dem Namen Euro-Gruppe entgegen, das zu keinem Zeitpunkt ansatzweise gewillt erschien, sich auf eine tatsächliche Diskussion um die Zukunft der gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik auch nur einzulassen.

Es ist sehr erhellend, Varoufakis in Interviews von den Treffen der Euro-Gruppe reden zu hören. Widerstand hatte er erwartet, doch nicht einmal dessen erachtete man ihn als würdig. Man strafte ihn lieber mit Indifferenz und Nichtbeachtung. Wehe dem, der im Europa des vermeintlich liberalen 21. Jahrhunderts mehr einfordert als bloße Lippenbekenntnisse zu Toleranz und Vielfalt, nämlich eine wirkliche, eine gelebte Praxis des politischen Pluralismus.

So heroisch das Aufbegehren der griechischen Rebellen im Angesicht der neoliberal-konservativen Orthodoxie und ihrer Übermacht auch gewesen sein mag, es war selbstredend eben diese völlige politische Isolation, die sie am Ende in die Kapitulation trieb. Die Folgen waren verheerend, nicht allein für die Griechen selbst. In Umfragen brach postwendend die Unterstützung für Podemos, die spanische Schwester von Syriza, massiv ein. Hatte sie zuvor mit Konservativen und Sozialdemokraten die beiden traditionellen Volksparteien des Landes abgehängt, fiel sie nach dem Memorandumsschock wieder deutlich hinter beide zurück.

Auch für die irischen Linksnationalisten von Sinn Fein und natürlich die Linksparteien des benachbarten Portugal bedeutete die Unterzeichnung des Memorandums durch Alexis Tsipras einen herben Schlag, hatten sie doch von einem Erfolg in den Verhandlungen Kapital schlagen wollen.
Hatte sich eben noch am Horizont eine konkrete Perspektive für ein sozialeres Europa abgezeichnet, war die europäische Linke im nächsten Augenblick gebrochen und verzweifelter denn je.

Wer allerdings glaubt, damit wären die gefährlichen Träume des Jahres 2015 schon ausgeträumt, der sollte noch ein wenig abwarten. Was Alexis Tsipras und Syriza uns in den vergangenen Monaten trotz ihres letztlichen Scheiterns eindrucksvoll vor Augen geführt haben, sind die Schwäche und die Verwundbarkeit des Systems. Über Monate hinweg zwang eine der kleinsten europäischen Volkswirtschaften dem ganzen Rest der Eurozone die Auseinandersetzung mit ihrer Agenda, ihren Ideen für ein anderes Europa und eine Alternative zu Austerität und Expertokratie auf. Die chauvinistische Überheblichkeit in der Berichterstattung, die von Verzerrung und billigster Demagogie nicht zurückschreckte, war ohne Frage auf die Dauer nur schwer auszuhalten. Statt sich über diese ideologische Borniertheit aber zu echauffieren, sollte man sie mit einem müden Lächeln quittieren und sie als Beleg verstehen für die große Angst, die auch der kleinste Fisch den Mächtigen in dem Augenblick einzujagen vermag, wenn er sich gegen den Strom zu schwimmen anschickt.

Nicht auszudenken, hätte Spanien in etwa zeitgleich mit Griechenland gewählt und Tsipras hätte das Establishment der EU Seite an Seite mit seinem Freund Pablo Iglesias von Podemos angehen können. Ein entscheidender Moment in jedem Emanzipationsprozess ist der, wenn die Stärke des Gegners sich plötzlich mehr auf Schein denn auf Sein gegründet erweist, wenn unüberwindbar geglaubte Mauern plötzlich rissig werden.

Man denke nur etwa an H.G. Wells melodramatischen Schauerroman Die Insel des Dr. Moreau: Auf einem abgelegenen Eiland versucht sich ein der der titelgebende Doktor an dem wahnwitzigen Vorhaben, aus Tieren in einer Reihe schmerzhafter operativer Eingriffe menschliche Wesen zu formen. Gottgleich herrscht er fortan mit Peitsche und Revolver über die bizarren Tiermenschen seines Reiches, doch am Ende wendet sich selbstverständlich Schöpfung gegen Schöpfer und Dr. Moreau muss für die eigene Hybris mit seinem Leben zahlen. Der Kontrollverlust vollzieht sich langsam und in Stufen, der wirklich kritische Punkt wird aber erst erreicht, als eine seiner Kreatur Moreau aus dem Mut der Verzweiflung heraus anfällt und anschließend erfolgreich die Flucht ergreifen kann.

Mit dieser Zerstörung der Illusion von behaupteter Allmacht und Unantastbarkeit beginnt der Anfang vom Ende des ganzen widernatürlichen Experiments.Man muss es sich noch einmal verdeutlichen: Nur der in seiner erschreckenden Banalität kaum zu übertreffende Umstand, dass die Wahlen in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland nicht noch ein entscheidendes Stückchen dichter beieinander liegen, hat in diesem Jahr möglicherweise über das weitere Schicksal der Europäischen Union entschieden. Wenn aber nur noch der schnöde Zufall das Äußerste abwenden konnte, dann ist das Europa Wolfgang Schäubles und der schwarzen Nullen auf Sand gebaut.

Noch ist das Jahr 2015 nicht zu Ende und im Moment deutet manches doch auf einen zumindest versöhnlichen Abschluss hin: Portugal wird mittlerweile von den Sozialisten regiert, die von Linksblock und Kommunisten unterstützt werden. Rebellen mögen auf der Regierungsbank damit noch nicht sitzen, mit Sicherheit aber vernünftigere und kooperativere Geister als es ihre Vorgänger waren. In Spanien wiederum ist zumindest in der Theorie noch gar nichts verloren, die Wahlen stehen noch aus. Die allerneusten Umfragen wecken Hoffnung, dass Podemos sich zumindest mit der sozialdemokratischen PSOE und der bürgerlichen Protestpartei Ciudadanos noch ein spannendes Rennen um den zweiten Platz liefern könnte.

Die Linke mag 2015 in einem entscheidenden Moment eine herbe Niederlage eingesteckt haben und es lässt sich mit einiger Sicherheit behaupten, dass sie den Krieg dieses Jahr nicht mehr für sich entscheiden können wird. Vielleicht aber gelingt auf den letzten Metern noch eine wichtige Weichenstellung. Auf jeden Fall wissen wir nun, dass Europa in seiner gegenwärtigen Form keine uneinnehmbare Festung ist. Ein Windhauch genügte, um es in seinen Grundfesten zu erschüttern. Daraus lässt sich einzig folgern, dass das Ziel für die unmittelbare Zukunft nur die Entfesselung eines ausgewachsenen Sturms sein kann, der zu Ende bringt, was im Januar 2015 begonnen worden ist.

Mit ein wenig Glück wird sich bald schon eine neue Gelegenheit bieten, gestärkter denn je erneut die Konfrontation zu suchen. Und dann besteht wieder Hoffnung, das Kartenhaus Europa endlich einzureißen, um Platz zu schaffen für ein sozialeres, ein besseres Europa, wie es die Menschen dieses Kontinents verdienen.

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