Gruseliger Gesetzesentwurf: Vom Schrecken der Triage
Medizin Wie sollen Ärztinnen entscheiden, wenn ihre Kapazitäten nicht für eine Behandlung aller Patienten reichen? Die Koalition will das regeln, doch der Gesetzesentwurf der Bundesregierung erntet viel Kritik
Der Begriff Triage gehört, wie vieles andere medizinische und epidemiologische Kauderwelsch, zu den Begriffen, die erst mit der Corona-Pandemie in den alltäglichen deutschen Sprachgebrauch eingewandert sind. Er umschreibt Situationen, in denen Ärzt:innen entscheiden müssen, wen sie behandeln, wenn keine ausreichenden intensivmedizinischen Ressourcen verfügbar sind. Sollen eher Jüngere mit chronischen Krankheiten behandelt werden oder Ältere, die nicht rauchen? Adipöse Menschen oder Fitte mit einer Behinderung?
Normalerweise kennen wir Triage nur aus Katastrophenfällen, im normalen Alltag müssen Mediziner:innen derartige Entscheidungen nicht fällen. Doch die Bilder der Leichenzüge in Bergamo und der überfüllten Intensivsta
ntensivstationen in Frankreich haben die Triage zu einem Schrecken gemacht. In Deutschland wurden Patient:innen noch aus überfüllten Kliniken ausgeflogen. Doch wie viele isolierte infizierte Alte oder Menschen mit Behinderung hierzulande während dieser Zeit gar kein Krankenhaus von innen gesehen haben und starben, weiß niemand.Auf das Gespenst am Horizont reagierte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zusammen mit den Fachgesellschaften im Frühjahr 2020 mit einer Leitlinie. Zu den darin festgehalten Entscheidungskriterien gehörten der Gesundheitszustand und Begleiterkrankungen der fraglichen Patient:innen und die Prognosen einer Behandlung. Behindertenverbände und Menschenrechtsorganisationen wie das Deutsche Institut für Menschenrechte übten sofort nach Bekanntwerden der Leitlinie massive Kritik und legten zusammen mit betroffenen Menschen Verfassungsbeschwerde ein. In einer Engpasslage, so ihre Befürchtung, würden Menschen mit Behinderung, Alte oder chronisch Kranke einfach durchs Raster fallen.Im Dezember 2021 gab das Oberste Gericht in Karlsruhe den Beschwerdeführer:innen recht und dem Gesetzgeber auf, eine rechtsfeste Regelung für medizinische Triage-Entscheidungen zu schaffen, die Betroffene bei knappen intensivmedizinischen Kapazitäten vor Willkür und Diskriminierung bewahrt. Rechtsgrundlage dafür sind Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes und die Behinderten-Konvention. Die Behindertenaktivist:innen verbuchten das Urteil als großen Erfolg: Er freue sich außerordentlich über die Entscheidung, erklärte der die Kläger:innen vertretende Rechtsanwalt Oliver Tolmein damals und äußerte die Hoffnung, dass die Bundesregierung die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unverzüglich umsetze. Sechs Monate später – allerdings ohne die von Tolmein gewünschte vorherige öffentliche Diskussion – sickerte ein vom Bundesgesundheits- und Justizministerium ausgearbeiteter Entwurf durch, der, nach einem weiteren Empörungsschrei, nachgebessert wurde, bevor er in das parlamentarische Verfahren eingespeist wurde.Streitpunkt Ex-Post-TriageDanach gilt, dass alle Patient:innen, unabhängig von der Ursache der intensivpflichtigen Behandlungsbedürftigkeit, bei Zuteilungsentscheidungen gleichbehandelt werden müssen. Kommt es zu intensivmedizinischen Engpässen, sind Ärzt:innen gefordert, darüber zu urteilen, wer die größere aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit hat, wobei Alter, Behinderung und der Grad der Gebrechlichkeit keine Rolle spielen sollen. Hier hat sich das Haus von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eng an dem vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Rahmen orientiert und die Quadratur des Kreises zu lösen versucht.Darüber hinaus – und das gehört ebenfalls zu den strittigen Punkten – sieht der Entwurf das Verbot der sogenannten Ex-Post-Triage vor, das heißt, eine bereits eingeleitete, nicht aussichtslose Behandlung darf nicht zugunsten von Patient:innen abgebrochen werden, die später auf der Intensivstation auflaufen und bessere Prognosen haben. Ausgehebelt wäre damit das basale ökonomische Prinzip in einer von Fallpauschalen dominierten Krankenhausrealität, in der danach gestrebt wird, Patient:innen möglichst schnell wieder loszuwerden und (Intensiv-) Betten neu zu belegen. Das Mehraugenprinzip schließlich soll dafür sorgen, dass Entscheidungen kontrollierbar sind und Personen mit Fachexpertise herangezogen werden. Allerdings sieht der Gesetzesentwurf keinerlei Sanktionen gegen zuwider handelnde Ärzt:innen und auch keine Meldepflicht der betroffenen Kliniken vor.Mit der Gesetzesvorlage ist allerdings keine der betroffenen Interessengruppen glücklich. Die Behindertenvertretungen kritisieren das weiterhin aufrechterhaltene Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit. Komorbidität, also gesundheitliche Beeinträchtigungen aufgrund von Behinderung oder Alter, kann bei der Zuteilungsentscheidung nämlich weiterhin, wenn auch restriktiv, eine Rolle spielen. „Das ist ein Einfallstor für mittelbare Diskriminierung“, erklärt die Bochumer Professorin für Recht und Disability Studies, Theresia Degener, gegenüber dem Freitag.„Behinderung ist in der Regel tatsächlich oder vermeintlich mit gesundheitlichen Einschränkungen verbunden. Somit wird auch die Überlebenswahrscheinlichkeit geringer eingeschätzt.“ Eine Person, führt sie aus, die aufgrund einer Behinderung an einem Beatmungsgerät hänge, werde, das wisse man aus vorliegenden Studien und der Lebenserfahrung von Betroffenen, eine geringere Überlebenschance bescheinigt. Das zeigt sich auch in der gegenwärtigen Transplantationspraxis: Menschen mit schwerer Beeinträchtigung etwa erhalten seltener ein überlebenswichtiges Organ, weil angenommen wird, sie seien weniger imstande, zum Gesundungsprozess beizutragen.Aber auch die Ärztevertreter sind wenig begeistert von der künftigen Triage-Regelung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft moniert die unspezifische Bedeutung übertragbarer Krankheiten, auf die Triage-Entscheidungen eingeschränkt werden sollen, und plädiert für eine Ausweitung auf andere Notfallereignisse. Vor allem aber geht es vielen Ärztevertretern gegen den Strich, dass die Ex-Post-Triage grundsätzlich ausgeschlossen wird und eine einmal begonnene Behandlung nicht abgebrochen werden darf. „Eine Kurzschlussreaktion“ nach einer „völlig unausgewogenen öffentlichen Debatte“, urteilte der ehemalige DIVI-Chef Uwe Janssens, der auch an der DIVI-Leitlinie mitgearbeitet hat. Er sieht das „ärztliche Selbstverständnis in Gefahr“.Was die Verfassung sagtAuch die Bundesärztekammer und der 126. Deutsche Ärztetag votierten gegen ein Verbot der Ex-Post-Triage. Das ethisch-moralische Dilemma, so argumentierte die Ärzteschaft Ende Mai, würde dadurch von der Intensivstation in oder vor die Notaufnahmen verlagert. Der Münchner Medizinethiker Georg Marckmann bezweifelt, dass die vorgeschlagene Regelung ohne Ex-Post-Triage überhaupt realistisch angewendet werden kann; in ihrer derzeitigen Form könne sie bewirken, dass Patient:innen für längere Zeit ein Intensivbett belegten, das von anderen, später eintreffenden Patient:innen mit besserer Überlebenschance gebraucht würde. Das aber könnte sogar zu einer höheren Zahl von Todesfällen führen.Juristin Degener, die als Vertreterin für Deutschland auch an der Ausarbeitung der UN-Behindertenkonvention beteiligt war, sieht das völlig anders. „Ex-Post-Triage ist keine medizinische, sondern eine juristische Frage. Unsere Verfassung gibt vor, dass ein Mensch, einmal behandelt, auch weiterbehandelt werden muss, solange die Indikation gültig ist.“ Es gehe ja nicht darum, dass die Behandlung sinnlos geworden sei und sich das Therapieziel geändert habe, sondern dass aufgrund fehlender Ressourcen ein Patient mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit das Bett beanspruche. Das aber bedeute Selektion.Die eher ökonomischen Zielsetzungen der Ärzteschaft im Sinne der Erfolgsmaximierung hat Degener auch während der Anhörung im Gesundheitsausschuss beobachtet, in der das Rederecht vor allem bei den medizinischen Sachverständigen lag: „Das war eine gruselige Erfahrung. Es wurden suggestive Fragen gestellt in der Weise, dass es doch einsichtig sei, eher eine Mutter von vier Kindern zu versorgen als einen 90-Jährigen, der ohnehin sterben würde. Die Kumpanei zwischen AfD-Abgeordneten einerseits und Teilen der Ärztevertreter andererseits war unübersehbar.“ Ähnlich äußerten sich andere geladene Sachverständige. „Es war schrecklich“, erklärte Behindertenaktivistin Sigrid Armade. Die Mitglieder des Ausschusses hätten sich ausschließlich an medizinischen Fragen abgearbeitet und sich für die Sicht der Betroffenen, für verfassungs- und menschenrechtliche Gesichtspunkte kaum interessiert.In einer Pressemitteilung kritisiert der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe (CDU), lange Jahre Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, das „Durchpeitschen“ des Triage-Gesetzes. Es bleibe keine Zeit, strittige Fragen öffentlich zu diskutieren. „Die erhoffte und vielfach eingeforderte echte Einbeziehung der Betroffenen bleibt ein Wunschtraum.“ Der Sozialverband VdK hatte schon im Vorfeld angemahnt, Triage-Situationen generell zu verhindern, indem für wirksamen Infektionsschutz und ausreichende medizinische Behandlungskapazitäten gesorgt wird.Angesichts des Zeitdrucks – das Gesetz soll, nachdem der Gesundheitsausschuss nur einen Tag davor seine Stellungnahme abgegeben hat, bereits am 10. November den Bundestag passieren – plädieren einige der Beschwerdeführer:innen dafür, das Gesetz vorerst ganz zurückzuziehen und eine bessere Vorlage zu erarbeiten. Degener setzt sich für das Losverfahren ein, um zu verhindern, dass objektiv nicht bestimmbare Kriterien wie das der Überlebenswahrscheinlichkeit zu versteckter Diskriminierung führen. „Wer zuerst kommt, wird zuerst behandelt. Und wenn mehrere Patient:innen gleichzeitig um ein Bett konkurrieren, entscheidet das Zufallsprinzip. Das ist in klassischen Dilemma-Situationen die humanere Lösung“, ist sie überzeugt. Sonst würde das Prinzip „survival of the fittest“ in Gesetzesform gegossen.
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