Klinik am Limit

Ausbeutung Unterbezahlt, überlastet und nun in Streikstimmung: In Sachsen-Anhalt sagt das Pflegepersonal dem Betreiber „Ameos“ den Kampf an
Ausgabe 07/2020

Die Pflege ist weiblich. So selbstverständlich dieser Satz, so umwerfend der Eindruck. Frauen, viele Frauen. Frauen im Erwerbstätigen-Alter, jüngere und agile ältere mit tiefen Lebenslinien im Gesicht. Sie sind viel gelaufen in ihrem Leben, zwischen Krankenbetten und Stationen, haben viel gesehen, auch den Tod. Trotzdem sind sie ausgelassen und fröhlich, tragen selbst gebastelte Plakate vor sich her, auf einem steht: „Ich kann gar nicht so schlecht arbeiten, wie ich bezahlt werde. Ich bin es wert!“

Jetzt laufen die Frauen, die mit Reisebussen aus Aschersleben und Staßfurt, aus Bernburg, Schönebeck und Haldensleben gekommen sind, dafür, dass sie endlich besser bezahlt werden. Sie laufen zwei Stunden durch Magdeburg, die Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts, manche zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration. Sie wollen deutlich machen: Es reicht. Über dem Treffpunkt Petriförder an der Elbe strahlt eine eiskalte Sonne. Am Ende, bei der Abschlusskundgebung auf dem Alten Markt, wird ein Oberarzt rufen: „Wir stehen in der Sonne, wir stehen auf der richtigen Seite!“ Holger Waack ist einer der 14 vom Klinikbetreiber Ameos entlassenen Kollegen. Auch deswegen sind sie alle hier.

Ameos hat keinen guten Leumund in der Branche. Der in Zürich ansässige Gesundheitsdienstleister gehört mehrheitlich zur Carlyle-Gruppe, einem der größten privaten Beteiligungsfonds in den USA. Mit 93 Einrichtungen hat er sich als einer der größeren Player auf dem deutschen Gesundheitsmarkt festgesetzt. Er unterhält Kliniken in Schleswig-Holstein und Niedersachsen; aber auch im Osten, im Salzlandkreis, wo die Frauen herkommen, spiele er, so Bernd Becker, Verdi-Fachbereichsleiter für das Gesundheitswesen, eine wichtige Rolle. Von den 47 Einrichtungen in Sachsen-Anhalt gehören laut offizieller Website 18 zu Ameos.

Seitdem das von Axel Paeger und Martin Kerres 2002 gegründete Unternehmen 2011 begonnen hat, kommunale Einrichtungen zu übernehmen, verschlechtert sich die Stimmung in den Kliniken. 15 Prozent Lohnverzicht, teilweise bis zu 500 Euro im Monat, forderte Paeger den Beschäftigten ab, die Arbeitszeit wurde von 40 auf 35 Stunden reduziert, Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht mehr bezahlt. Das Einverständnis der 1.800 Mitarbeiter erzwang sich das Unternehmen mit der Ankündigung, andernfalls 360 Arbeitsplätze zu streichen. 14,79 Euro, rechnet Becker vor, verdiene eine examinierte Krankenschwester durchschnittlich, das liege unter dem gerade von der Pflegekommission beschlossenen Pflegemindestlohn von 15,40 Euro.

2016 lief dann auch noch der Kündigungsschutz aus. Es gärte. Seit dem vergangenen Sommer weigert sich Ameos, mit Verdi zu verhandeln, selbst vermittelnde Politiker scheitern. Stattdessen versucht das Unternehmen, die Belegschaften zu spalten, indem es Betriebsräten wie in Haldensleben Einzelvereinbarungen anbietet, die weit unter dem geforderten Tarifvertrag nach den Regelungen im öffentlichen Dienst (TVöD) liegen. Dabei geht es Ameos auch darum, die fälligen Nachzahlungen im fünfstelligen Bereich zu umgehen. Im Dezember eskalierte die Situation, die Beschäftigten organisierten Warnstreiks. Ameos reagierte rigoros, kündigte 14 Mitarbeitern fristlos, darunter auch dem Urologen Holger Waack, der seit 2018 als Betriebsrat in Aschersleben fungiert.

„In Aschersleben“, erzählt Ursula, die in der dortigen Notfallklinik arbeitet, „waren es alleine vier Kollegen.“ Sie berichtet von den extremen Arbeitsbedingungen in der Klinik, dem Druck, der auf allen liegt: „Wir arbeiten wie in einer Fabrik, wie am Fließband.“ Selbst die Zusage, alle Stellen zu erhalten, hat Ameos gebrochen, denn Technik und Labore wurden ausgelagert, altersbedingte Personalabgänge nicht ersetzt. 390 Mitarbeiter haben die Kliniken im Salzlandkreis dadurch verloren. „Die Sanierungsmaßnahmen“, versichert Ameos im Jahresbericht 2018 für den Standort Staßfurt-Aschersleben seinen Anlegern, „basieren insbesondere auf der erfolgreich durchgeführten Arbeitszeitabsenkung in allen nichtärztlichen Bereichen“ und der „natürlichen Fluktuation“.

Eine Schwester, 40 Patienten

Im Januar schließlich, nicht zuletzt als Reaktion auf die Kündigungen, traten die Beschäftigten im Salzlandkreis und in Haldensleben in einen unbefristeten Streik. 99,7 Prozent der Verdi-Mitglieder, die sich an der Urabstimmung beteiligten, sprachen sich dafür aus, aus gewerkschaftlicher Sicht ein Traumergebnis. Und nicht nur das bei Verdi organisierte medizinische Personal unterstützt den Streik, sondern auch die Ärzte sind dabei. Zwischen all den gelben Westen, die Verdi ausgegeben hat, leuchtet es nicht nur vereinzelt orange, die Farbe des Marburger Bundes (MB): „Wir sind hier, um uns mit dem Pflegepersonal zu solidarisieren“, sagt Kurt, der mit 30 weiteren Ärztinnen und Ärzten aus Schönebeck gekommen ist. Ein Arzt aus Bernburg erzählt, sie seien zu acht mit von der Partie.

Denn auch der viermaligen Aufforderung des MB, die tariflose Zeit zu beenden, ist Ameos nicht nachgekommen. „Wer jede Kooperation verweigert“, konterte die Geschäftsführerin des MB in Sachsen-Anhalt, „muss mit Konfrontation rechnen.“ Noch tags zuvor haben die Ärzte in Hannover protestiert, um den Druck in der bundesweiten Tarifrunde zu erhöhen. Aber das hier in Magdeburg ist etwas anderes. Hier geht es auch um die Region, um den Osten. Und darum, dass manche Arbeitgeber denken, hier könne man weiterhin „Wilder Osten“ spielen.

„Wir sind mehr als vier Prozent!“, skandieren die Demonstrantinnen und spielen damit auf eine Äußerung von Ameos-Chef Paeger an, der den Streik damit herunterspielte, dass lediglich vier Prozent der Mitarbeiter in den Ausstand getreten seien. Tatsächlich beteiligen sich seit dem 27. Januar regelmäßig 400 bis 600 Beschäftigte am Erzwingungsstreik, die Kliniken wurden in den Notdienstmodus gesetzt. Inzwischen sind auch die Landespolitiker aufgewacht, Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) besuchte die Streikenden, denen es nicht nur um Geld, sondern auch um bessere Arbeitsbedingungen geht. Jeden Tag kommen Überlastungsanzeigen von den Stationen. Sie werden bei Ameos zwar nicht statistisch erfasst, dennoch behauptet Regionalgeschäftsführer Frank-Ulrich Wiener, dass „von gefährlichen Situationen nicht die Rede“ sein könne.

Susi, die in der Kardiologie im Klinikum Schönebeck arbeitet, sieht das ganz anders. „Bei uns in der Nachtschicht kommt eine Schwester auf 30 bis 40 Patienten. Die steht dann Gewehr bei Fuß.“ Sie erzählt von jahrelangem Lohnverzicht, den ständigen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber und davon, dass die Zustände dazu führten, dass das Personal weglaufe: „Wir wissen nicht mehr, wie wir unsere Dienste ordnungsgemäß abdecken sollen. Ameos droht immer wieder mit Entlassungen, aber wenn es so weitergeht, dann hat sich das bald erübrigt.“ Eine andere Kollegin wirft ein, dass die Beschäftigten Hunderte von Überstunden vor sich herschöben: „Auch bei einer 35-Stunden-Woche können wir nicht einfach nach Hause gehen, wenn ein Patient noch nicht versorgt ist.“ Dennoch: Die Angst steckt mancher der Betroffenen in den Knochen, eine der entlassenen Krankenschwestern will lieber nicht über ihre Situation sprechen, „schwebendes Verfahren“.

Inzwischen hat der Protestzug den Landtag erreicht, hinter den vom Wagen herab angefeuerten singenden und pfeifenden Demonstranten ragt der Dom auf, als wolle er sie beschützen. Stefan Gebhardt, parlamentarischer Geschäftsführer der Linken im Landtag und selbst gelernter Krankenpfleger, empört sich über Paegers Behauptung, die Kliniken im Salzlandkreis seien der „größte Sanierungsfall“ im Bundesgebiet: „Trägervielfalt klingt gut, ist aber nicht gut!“, sagt der erklärte Privatisierungsgegner. Seinen Kollegen Tobias Krull von der CDU, der vor ihm vollmundig von der „Wertschätzung der Beschäftigten“ geredet hat, fordert er auf, sofort beim Finanzminister vorstellig zu werden, um die Mittel für die dringend notwendigen Krankenhaus-Investitionen bereitzustellen. Schrilles Pfeifen. Cornelia Lüddemann, Fraktionschefin der Grünen im Landtag, wird wenig später ebenfalls von der „finanziellen Schieflage“ der Krankenhäuser und der dafür verantwortlichen Landespolitik sprechen.

„Wir sind hier, wir sind laut, weil Ameos uns die Kohle klaut“, hallt es bei der Abschlusskundgebung über den Alten Markt, der von Solidaritätstransparenten umsäumt ist. Aus Mainz, Essen, Osnabrück und vielen anderen Teilen der Republik sind sie gekommen. Inzwischen hat sich auch die Politprominenz eingefunden, Ex-Gewerkschafter Bernd Riexinger (Linke) und SPD-Chefin Saskia Esken, vom Thüringen-Schock offensichtlich noch nicht ereilt, geben sich betont kämpferisch. Der immer ein wenig steif wirkende Linken-Chef läuft zur Hochform auf: „Kliniken, die sich nicht an die Regeln halten, müssen rekommunalisiert werden“, animiert er die Streikenden, und: „Ihr streikt für das Gemeinwohl.“

Nicht ohne Tarifvertrag

Dass es den Ameos-Beschäftigten nicht nur um ihre eigenen Belange, sondern auch um das Wohl der Patientinnen und Patienten geht, scheint auch in der Bevölkerung angekommen zu sein. Kaum einmal ein wütendes Gesicht am Straßenrand, selten ein kritisches Wort am Verdi-Stand auf dem Markt, wo sich Streikwillige in die Listen eintragen. Von seiner Führergondel herunter hat ein Straßenbahnfahrer unterwegs mit dem Victory-Zeichen gegrüßt.

Er sei in all der Zeit manchmal auch skeptisch gewesen, bekennt Holger Waack auf der Bühne. „Wenn ich morgens losging, hatte ich immer Angst, ob sich genügend Leute am Streik beteiligen.“ Als „bestbezahlter Hausmann der Republik“ – Ameos hat ihn bei Fortzahlung seiner Bezüge freigestellt – habe er aber noch nie zuvor so viel Solidarität erfahren. Inzwischen wurde ihm angeboten, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, mit der Auflage, sich an keinen weiteren Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Völlig inakzeptabel. Waack will unbedingt wieder operieren – aber erst, wenn ein Tarifvertrag unterzeichnet ist, der den Namen verdient. „Dann gehen wir alle wieder zur Arbeit.“ Tosender Applaus.

„Die Gegenseite muss ein wirklich substanzielles Angebot auf den Tisch legen, erst dann brechen wir den Streik ab“, hatte Bernd Becker am Rande der Demonstration erklärt. Inzwischen hat Ameos Gesprächsbereitschaft signalisiert, nach ersten Sondierungsgesprächen am vergangenen Dienstag sollen am 20. Februar Tarifverhandlungen beginnen. Deshalb haben die Beschäftigten den unbefristeten Streik vorerst abgebrochen und sind an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Offenbar hat Ameos gelernt – in Hildesheim hatte es elf lange Streikwochen gedauert, bis das Unternehmen zum Einlenken bereit war. Gelernt hat jedenfalls die Politik: Auf die zum Verkauf stehende kommunale Burgenlandklinik muss Ameos in seinem Portfolio verzichten.

Inzwischen ist allerdings bekannt geworden, dass Ameos "keinesfalls Tarifverhandlungen" führen, sondern lediglich auf Grundlage des vor acht Jahren beschlossenen Beschäftigungspakts verhandeln will. Was das für den nur für einen Monat ausgesetzten Streik heißt, ist noch unklar.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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