Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche: Ein immens großes Dunkelfeld
Missbrauchsstudie Eine lang erwartete Studie zeigt das Ausmaß der Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen innerhalb der evangelischen Kirche. Aber nur eine Landeskirche lieferte Daten zur Aufarbeitung
Missbrauch in der evangelischen Kirche: „Nur die Spitze der Spitze des Eisbergs“
Foto: Ulrich Baumgarten/Kontributor
Sie habe keine Wünsche mehr an die evangelische Kirche, sondern fordere den Staat zum Handeln auf. Dieses resignierte Resümee Katharina Krachts bei der öffentlichen Vorstellung der lange erwarteten Missbrauchsstudie im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EDK) am 25. Januar ist Folge jahrelangen Hinhaltens und Ausweichens.
Kracht ist eine der 2.225 Betroffenen, die als Kind oder Jugendliche sexualisierte Gewalt durch einen Pfarrer oder einen anderen im Rahmen der Kirche Tätigen erlebt haben, in ihrem Fall war es ein Pastor der Landeskirche Hannover. Als Mitglied des Verbundbeirats hat sie an der interdisziplinär besetzten ForuM-Studie mitgewirkt und sich schon früh für die Aufarbeitung eingesetzt. „Schöne Worte“ wie die „
ie „Erschütterung“ der Ratsvorsitzenden der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs, zu Beginn der Pressekonferenz „hören wir immer wieder“, so Kracht. Doch leider bleibe es oft dabei, denn es mangele an „Kompetenz“ und manchmal auch am Willen, sich dem, was im Tatumfeld der Kirche passiert sei, zu stellen.Das sind harte Worte. Zumal sich die angeblich hierarchiearme und partizipative evangelische Kirche immer im Schatten ihrer viel tatverdächtigeren katholischen Schwester versteckt und entsprechende Vorwürfe lange abgewehrt hat. Das ist auch das Ergebnis einer Analyse von Verlautbarungen, die die evangelische Kirche seit 2010 veröffentlicht hat. Erst 2018 haben die EKD und ihre 20 Landeskirchen ihre besondere institutionelle Verantwortung anerkannt und ihren eigenen Anspruch, einen besonderen Schutzraum zu bieten, infrage gestellt.„Wir haben weggesehen“, so Fehrs, „und vielmehr die Täter statt die Kinder und Jugendlichen geschützt.“ Auch als die Betroffenen aktiv wurden, habe man sie lange als sprechunfähige Opfer wahrgenommen, denen im theologischen Kontext die Aufgabe zukam, den Tätern zu vergeben. Die Kirche imaginierte sich, so der Bericht, als „seelsorgerische Helferin“, und wer sich dieser Art der Zusammenarbeit entzog, wurde abgewertet und ausgegrenzt. Auch seit der Synode 2018, die eine zumindest rhetorische Wende in der Aufarbeitungspolitik markiert, tut sich die evangelische Kirche schwer mit der Betroffenenbeteiligung.„Schleppende Zuarbeit“ der LandeskirchenIn fünf Teilstudien hat das interdisziplinäre Forschungsteam den Tatkontext „Evangelische Kirche“ drei Jahre lang untersucht, einen Ost-West-Vergleich angestellt, die Praxis der Aufarbeitung verfolgt, aus der Betroffenenperspektive Erfahrungen offengelegt und Begünstigungsfaktoren für sexualisierte Gewalt ermittelt. Im fünften Teilprojekt beziffern die Wissenschaftler:innen das Ausmaß und den Umgang mit Missbrauchsverhalten. Aufschlussreich sei, so der Sozialpädagoge Martin Wazlawik für die Forschendengruppe, dass nicht ein einziger Tatkontext hervorsteche, sondern es in allen Handlungsfeldern der Kirche Hinweise auf sexualisierte Gewalt gebe. Das gilt für den Konfirmandenunterricht und den Kirchenchor, das Pfarrhaus, den Kindergarten, die Jugendfreizeit und die Heime in evangelischer Trägerschaft.Sexualisierte Gewalt umfasst dabei verbale Entgleisung, übergriffige Berührungen bis hin zur Penetration, wobei die Handlungen, so berichten Betroffene, häufig über einen längeren Zeitraum stattgefunden hätten. Die Gewalterfahrung hatte „gravierende körperliche, psychische und soziale Folgen, insbesondere in den späteren Partnerbeziehungen“, so Wazlawik, während die Täter gedeckt wurden und sie ihrem Treiben nicht selten an anderen Einsatzorten nachgehen konnten.Was die Daten selbst betrifft, sind sie nur beschränkt aussagekräftig, denn die Forschenden hatten nur Zugriff auf die Disziplinarakten, die Personalakten von 19 Landeskirchen standen ihnen nicht zur Verfügung. Lediglich eine kleinere Landeskirche wertete diese aus. „Die Reduktion auf Disziplinarakten“, stellte Wazlawik bei der Pressekonferenz klar, sei kein Wunsch der Forschung gewesen, sondern „Folge der Verzögerungstaktik“ der zuständigen Stellen. Sein Kollege Dieter Dölling ergänzte, dass man nicht von „Verweigerung“ spreche, aber immerhin von „schleppender Zuarbeit“. Wie immer man dies interpretieren will – die Kirchenleitung steht unter heftigem Rechtfertigungsdruck, weil die aus dem Material erhobenen Daten nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ darstellen, wie Wazlawik sagte. Deshalb seien die Zahlen nicht mit denen der MHG-Studie in Bezug auf die katholische Kirche vergleichbar, bei der über 38.000 Personalakten, allerdings nur von Priestern, Diakonen und Ordensleuten, durchforstet worden waren.Doch selbst anhand der sehr eingeschränkten Stichprobe von 4.282 Disziplinar-, 780 Personalakten und 1.318 weiteren Unterlagen konnten die Forschenden 1.259 Beschuldigte und 2.225 Fälle von sexualisierter Gewalt ausmachen. Im Umfeld der Diakonischen Werke, die Heime betreiben, lag der Anteil der männlichen Betroffenen bei über 80 Prozent, das Durchschnittsalter aller Betroffenen liegt bei etwas über elf Jahren. Unter den Beschuldigten finden sich 511 meist männliche Pastoren, die bei der Ersttat durchschnittlich 43 Jahre alt und verheiratet waren.Die sexualisierte Gewalt in den Kirchen der DDR wurde kaum systematisch erfasstDie evangelische Erzählung, nur der Zölibat sei Grund für sexualisierte Gewalt in der Kirche, dürfte damit erledigt sein. Nach der Durchsicht der Personalakten der einen – nicht genannten – Landeskirche konnten jedoch 60 Prozent Beschuldigte und 75 Prozent Betroffene zusätzlich erfasst werden, was auf ein großes Dunkelfeld verweist, das, wenn man die offiziell gar nicht fixierten Fälle dazurechnet, immens sein dürfte.Auch in der evangelischen Kirche der DDR gab es ein implizites oder explizites Wissen über sexualisierte Gewalt, wobei von einer systematischen Erfassung auch hier nicht die Rede sein kann. Die seelsorgerischen Maßnahmen richteten sich auf die Beschuldigten, wobei die Kirche vor allem den Konflikt mit dem Staat zu vermeiden suchte. Die politischen Systeme hatten jedenfalls keinen unmittelbaren Einfluss auf Umfang von und Umgang mit sexualisierter Gewalt. Das galt auch für binnengesellschaftliche Entwicklungen wie Reformpädagogik und sexualpolitische Liberalisierung. Gemeinsam war beiden Systemen jedoch, dass Anbahnung und Aufrechterhaltung sexualisierter Gewaltverhältnisse ähnlichen Mechanismen folgten. Im Mittelpunkt stehen dabei die „Pastoralmacht“ evangelischer Pfarrer und das Pfarrhaus als zentraler Handlungsort – erinnert sei an den Film Das weiße Band. Die theologische Deutungskompetenz, das Machtgefälle, das Harmoniebedürfnis und nicht zuletzt das Verständnis der evangelischen Kirche als „die bessere“, in der nicht sein kann, was nicht sein darf, begünstigen Missbrauch und den Umgang damit, der von Schweigen, Verleugnen, Verdeckung und Schuldabwehr geprägt ist.Der Schutz der Betroffenen tritt hinter den Schutz der Institution zurück, und Aufarbeitung steht vor allem im Zeichen von „Abarbeitung“, so die Forschenden im 880-Seiten-Bericht. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass auch die viel gepriesene föderale Vielfalt der EKD in diesem Kontext ein Problem ist. Die „Verantwortungsdiffusion“ mache es Betroffenen schwer, zuständige Stellen zu finden und sich Gehör zu verschaffen. Der Bericht endet mit einer langen Liste von Präventions- und Interventionsmaßnahmen und Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Aufarbeitung. Mit dem Beteiligungsforum hat sich die EKD ein Organ geschaffen, das Betroffenen Raum zum Mitentscheiden geben könnte.„Fragt endlich uns, nehmt uns ernst und behandelt uns nicht als Opfer“, forderte dessen Mitglied Detlev Zander bei der Pressekonferenz. „Betroffene brauchen das Recht auf individuelle Aufarbeitung“, erklärte Katharina Kracht. Sie hofft darauf, dass der Staat dieses Recht gegenüber den Kirchen durchsetzt.
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