Missbrauch in der Evangelischen Kirche: Wer hat noch alles weggeschaut?

Meinung Die EKD-Ratspräsidentin Annette Kurschus hat die richtigen Konsequenzen aus den Missbrauch-Vorwürfen gezogen. Aber die kommenden Wochen werden zeigen: Andere haben viel mehr Schuld auf sich geladen
Ausgabe 47/2023
Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende: Annette Kurschus
Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende: Annette Kurschus

Foto: picture alliance/dpa/Christoph Reichwein

Ich sehe hin, ich höre zu und frage nach – und schiebe meine Verantwortung nicht weg. So lautet das Motto der zweiten Phase der Kampagne, die die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Kerstin Claus, vergangene Woche vorgestellt hat. Gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme ist das Stichwort. Jeder und jede kann die eine Person sein, die hinsieht oder hinhört. Es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu schützen, so Claus.

Oder eine ganze Kirche. Claus hätte sich sicher nicht vorstellen können, wie akut ihr Appell eine Woche später werden würde durch den Rücktritt der Ratspräsidentin der Evangelischen Kirche, Annette Kurschus. Sie hat, nach tagelangem Medienfeuer, die Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass sie – vielleicht – zu spät hingehört und hingesehen hat. Dass es in ihrem Nahfeld vor Jahrzehnten einen Fall gab, auf den sie aufmerksam hätte werden müssen. Oder besser: sich an ihn erinnern, als sie bei ihrem Amtsantritt die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Evangelischen Kirche zur „Chefinnensache“ erklärt hat. An ihrer Glaubwürdigkeit zweifelte niemand.

Nun hat sie dieser eine Fall eingeholt. Es gab einen Bekannten in ihrem Umfeld, von dem sie wusste, dass er homosexuell und seiner Frau untreu war. Von damaligen Missbrauchshandlungen will sie nichts gewusst haben. In einer Zeit, wo eben noch weggesehen und weggehört wurde. Es sei daran erinnert, dass sich in den 1990er Jahren, um die es hier geht, Selbsthilfeorganisationen wie „Wildwasser“ gerade erst gegründet haben, das Thema musste mühsam auf die Agenda gehoben werden. Von sensibler Wahrnehmung einmal ganz abgesehen.

Wie offensiv Annette Kurschus damals auch weggesehen haben mag – nun hört sie jedenfalls hin und hat Verantwortung übernommen, weil sie offenbar wollte, dass die möglicherweise Geschädigten in den Blick rücken. Die im Januar zu erwartende Missbrauchs-Offenbarung ihrer Kirche wird sie nicht mehr vorstellen müssen.

Aber genau an diesem Bericht wird sich ihre tatsächliche Schuld messen lassen. Wer hat jahrzehntelang weggeschaut, weggehört und vertuscht? Man darf sicher sein, dass es in der Evangelischen Kirche Verantwortliche gab und gibt, die mehr Schuld auf sich geladen haben als sie.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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