Diese Bundesregierung will den Pflegenotstand wohl nicht beenden
Gesundheit Die Reaktionen auf Karls Lauterbachs Entwurf des Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetzes sind verheerend – von pflegenden Angehörigen bis zum Sozialverband Deutschland. Dabei geht es um eines der jetzt existentiellsten Probleme
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Ausgabe 22/2023
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Aktualisiert am
31.05.2023, 10:05
Die Einrichtungen stehen unter extremem Kostendruck, wie soll man mit rund 3,60 Euro am Tag einen Menschen verköstigen?
Foto: picture alliance/dpa/Jens Kalaene
Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, so die allgemeine Reaktion auf das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG), das der Bundestag am 25. Mai verabschiedete. Wobei die Betonung auf „klein“ liegt. Die Reform sei „weit entfernt von einer echten Verbesserung“, gab die enttäuschte Chefin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, zu Protokoll. Positiv allerdings sei, dass es die Zusammenlegung von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege auf den letzten Metern doch noch in das Gesetz geschafft habe.
Erkauft wurde das Gesamtbudget mit der Absenkung der Erhöhung des Pflegegeldes beziehungsweise der Pflegesachleistungen von den geplanten fünf auf 4,5 Prozent. Die Pflege in Deutschland, so die harsche Kritik Christine Voglers vom Deutschen Pfl
tschen Pflegerat, befinde sich offenbar noch immer in einem Stadium des „Pokerns und Feilschens“. Das PUEG versuche zu retten, was übermorgen mit der bestehenden Pflegeversicherung gar nicht mehr zu stemmen sei. Gemessen an den Versprechungen und Erwartungen ist das PUEG, so die einhellige Meinung, jedenfalls eine Enttäuschung.Denn im Koalitionsvertrag war noch von der „Aussicht auf eine Vollversicherung“ die Rede und von der Pflege als einer „gesamtgesellschaftlichen Aufgabe“. Versicherungsfremde Leistungen sollten aus der Kassenfinanzierung ausgegliedert und vom Bund übernommen werden. Das Pflegegeld, so die Ankündigung, werde regelhaft dynamisiert und Kurzzeit- und Verhinderungspflege würden unbürokratisch zusammengelegt werden.Lauterbach bittet zur KasseDoch zu einer Versicherung, die alle Einkommensformen berücksichtigt und Beamte und Selbstständige gleichermaßen in die Pflicht nimmt, konnte sich die Koalition aus SPD, Grünen und FDP schon 2021 nicht durchringen. Angedacht war zumindest, ein paar größere Stellschrauben im System zu ändern. Viel ist nicht davon übrig geblieben.Was Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) – noch bevor das PUEG überhaupt den Bundestag erreichte – auf den Weg brachte, waren dagegen opulente Beitragserhöhungen: 3,4 Prozent beträgt der allgemeine Beitragssatz ab 1. Juli, Kinderlose müssen vier Prozent bezahlen, 2,3 Prozent davon aus eigener Tasche, der Arbeitgeberanteil liegt bei 1,7 Prozent. Die Zahl der Kinder wird ab sofort abgestuft berücksichtigt, was die Arbeitgeberverbände auf die Barrikaden bringt, weil die Unternehmen bei jedem Beschäftigten nun ermitteln müssen, wie viele Kinder zu berücksichtigen sind.Damit er nicht jedes Mal das Parlament fragen muss, darf Lauterbach den Beitragssatz außerdem künftig auf dem bequemen Verordnungsweg erhöhen. Das erbittert vor allem die Vertreterinnen und Vertreter der Krankenkassen. Die fünf Millionen Euro dagegen, die der Bund aufgrund von Corona-Maßnahmen der Pflegekasse noch schuldet, hat er bei Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) immer noch nicht eingetrieben. So viel zu den Kräfteverhältnissen im Kabinett.Kritik von den GrünenDie bemerkenswert kritische Stellungnahme der Bündnisgrünen zum PUEG lässt ahnen, wie groß der Krach auch in diesem Fall war. Bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss Mitte Mai dürften Lauterbach dann auch die Ohren geklingelt haben. Ausgerechnet der Präsident eines Pflegearbeitgeberverbandes, Thomas Greiner, sprach aus, was wohl viele dachten: 30 Stunden haben sich die Parteispitzen um die Ohren geschlagen, um über Heizsysteme zu debattieren. Für die Pflege aber war keine Minute Zeit.Man muss sich das aktuelle Szenario vor Augen halten: Mehr als vier der fünf Millionen Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt. Die pflegenden Angehörigen sind nach der Pandemie völlig am Limit, zum letzten Mal wurde das Pflegegeld 2017 erhöht. Auch die Einrichtungen stehen durch die Inflation unter extremem Kostendruck: Wie soll man mit rund 3,60 Euro am Tag einen Menschen verköstigen? Wer übernimmt die exorbitant gestiegenen Energiekosten? Pflegekräfte quittieren den Dienst oder gehen absehbar massenhaft in Rente. Viele Pflegeheime müssen schließen oder werden von Konzernen geschluckt. Der Eigenanteil für die Bewohnerinnen und Bewohner steigt rasant.Immerhin werden vom 1. Januar 2024 an die Zuschläge aus der Pflegekasse angehoben. „Stückwerk“, urteilt Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband. Ebenfalls zum 1. Januar 2024 wird das Pflegegeld, das seit 2017 nicht mehr erhöht wurde, um die besagten 4,5 Prozent an die Preisentwicklung angepasst.Ähnliches gilt für die Sachleistungen, also wenn Pflegebedürftige einen Pflegedienst in Anspruch nehmen. Viel zu wenig! 4,5 Prozent gleichen nicht einmal den Kaufkraftverlust durch die Inflation aus, so der Sozialverband Deutschland. Enttäuscht reagierten die Verbände in der Anhörung auch auf das ursprünglich geplante und wieder kassierte Entlastungsbudget, das Kurzzeit- und Verhinderungspflege, wie im Koalitionsvertrag versprochen, unbürokratisch zusammenführen sollte. Ein Gesamtbudget erleichtert es pflegenden Angehörigen, flexibler auf entsprechende Leistungen zuzugreifen. Viele Anspruchsberechtigte nehmen dieses Angebot bisher nämlich gar nicht wahr, weil die Bestimmungen zu kompliziert sind. Die Interessenvertretung der pflegenden Angehörigen hat errechnet, dass die Pflegeversicherung dadurch jährlich 14 Milliarden Euro einspart.Zwei Tage vor der Bundestagsdebatte lenkte Lauterbach dann doch noch ein. Die beiden Pflegeleistungen werden zusammengelegt und die Betroffenen können künftig selbst entscheiden, ob sie die verfügbaren 3.386 Euro im Jahr für Kurzzeit- oder Verhinderungspflege einsetzen wollen. Allerdings gilt die Regelung ab 2024 erst einmal nur für Kinder und junge Erwachsene bis 25 Jahre mit Pflegegrad 4 und 5, für alle übrigen Pflegebedürftigen ein Jahr später.Heil und Baerbock in BrasilienDiese Erleichterung löst allerdings ein weiteres Grundproblem nicht: die Pflegeinfrastruktur. Nach wie vor gibt es nämlich viel zu wenig Plätze in der Verhinderungs- und Kurzzeitpflege. Mecklenburg-Vorpommern ist das am schlechtesten versorgte Bundesland. Bereits 2019 gab es einen Vorstoß des Bundes, den Mangel zu beheben. Die Einrichtungen, die nun mit einer 4,5-prozentigen Erhöhung des Pflegesatzes abgespeist werden, werden indessen wenig Anlass sehen, sich in diesem Bereich zu engagieren.Unzufrieden ist auch der Deutsche Pflegerat, der den Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen fürchtet. Zwar sollen in der stationären Langzeitpflege ab 1. Juli neue Personalbemessungsgrenzen gelten, doch die prekäre Situation auf dem Pflegearbeitsmarkt, „die es zu berücksichtigen gilt“, wie das Gesundheitsministerium einschränkt, lässt nichts Gutes erwarten.In der Zwischenzeit tourte ein Kabinettsduo – Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) – durch Brasilien, um Pflegekräfte anzuwerben. Der Bundesrat hat den Bund aufgefordert, sich mit mehr Steuermitteln an der sozialen Pflegekasse zu beteiligen. Im Juni wird sich die Länderkammer noch einmal mit dem Gesetz befassen. Zugegeben: Pandemie und Inflation waren exogene Einflüsse, die nun auch in der Pflege dramatisch zu Buche schlagen. Die strukturellen Probleme allerdings sind hausgemacht und lange bekannt.