Der lange Schatten reicht von der hehren Kanzel bis in die Niederungen abgewrackter Gartenlauben in den Herrgottswinkeln der Republik. Gottes Segen liegt nicht auf ihm, auch wenn sich mancher als dessen Stellvertreter wähnt und deshalb glaubt, auch die Kinder Gottes seien seins. Am Freitag vergangener Woche wurde dem Bischof von Limburg und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, der Missbrauchsbericht seiner Diözese überreicht, beginnend mit dem Jahr 1946. Ein Jahr lang haben 70 Experten an dem 420 Seiten umfassenden Werk gearbeitet, das mit 61 Maßnahme-Empfehlungen schließt.
Was das Konvolut beinhaltet, dürfte dem, was die ermittelnden Beamten in Münster derzeit zu Gesicht bekommen, in der Sache in nichts nachstehen. Nur dass die säkularen Kindervergewaltiger heutzutage digitale Bildspuren hinterlassen, weil in der kapitalistischen Gesellschaft auch noch das Verbrechen gewinnbringend zu verwerten ist, in diesem Fall in Form von Kinderpornografie. Der 27-jährige Hauptverdächtige, seine Mitwissenden und -handelnden, die 45-jährige Mutter, die Männer, die den drei Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren Gewalt angetan haben, sitzen in Untersuchungshaft. Wie oft in solchen Fällen kommen die Opfer aus dem Familienumfeld, sind Söhne oder Ziehsöhne oder Neffen. Und keiner will etwas bemerkt haben, was sich im münsterischen Wohngebiet Kinderhaus, der Name schon Hohn, zugetragen hat. Dass die Kinder dort betäubt, stundenlang vergewaltigt und dies von dem bestens ausgerüsteten IT-Spezialisten aufgezeichnet und verdunkelt in alle Welt verbreitet worden war, um aus der Selbstbefriedigung anderer Männer Kapital zu schlagen: Keiner hat’s wissen wollen.
Es ist nach Lügde und Bergisch Gladbach der dritte, sehr weite Kreise ziehende Missbrauchsfall in Nordrhein-Westfalen. Vielleicht ist man im größten Bundesland inzwischen ein bisschen aufmerksamer geworden, weil Innenminister Herbert Reul (CDU) das Geschehen zur Chefsache gemacht hat. Aber machen wir uns nichts vor, Lügde und Münster ist überall, es passiert in Kirchen, Sportstätten und Schulen und vor allem hinter den zugezogenen Vorhängen des sogenannten Normalbürgers, der sich morgens korrekt uniformiert hinter seinem Schreibtisch niederlässt, nachdem er Sohn oder Tochter „gebraucht“ hat. Weil er „einfach neugierig war“, erklärte ein Polizist gerade vor dem Landgericht München.
Nein, kein Vergehen, sondern ein Verbrechen. So sollte es auch genannt werden. Aber zu glauben, dass die Strafverschärfung für Kinderpornografie, wie es die Union nun gegenüber Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) durchgesetzt hat, dem Übel an die Wurzel geht, gehört zu den vielen Selbstberuhigungen, mit denen die Gesellschaft dieser Schande, die sich vor ihren Augen ereignet, ausweicht.
Es sind keine „Monster“, sondern „Meister der Täuschung“, sagt der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Rörig, immer darauf aus, dass das Schweigekartell in den Familien nicht gebrochen wird. Wie das Schweigen der katholischen Kirche, wenn Vorgesetzte die Täter geradezu „infam und verlogen“ gedeckt hätten, wie der Jurist Josef Bill beklagt. Es sind die Strukturen, in den Gerichten und Jugendämtern zum einen, im Lebensumfeld der Kinder zum anderen, die die Täter begünstigen. Und eben die Schweigenden.
Kommentare 7
"Es sind die Strukturen, in den Gerichten und Jugendämtern zum einen, im Lebensumfeld der Kinder zum anderen, die die Täter begünstigen."
Was sollte anders sein, bei den Familiengerichten und Jugendämtern, Ihrer Ansicht nach?
Ich persönlich machte als psychologischer Gutachter und Therapeut mit den Familiengerichten und Strafgerichten in Berlin in meiner beruflichen Tätigkeit positive Erfahrungen in Fällen des sexuellen Missbrauchs. Ich begleitete auch einige Kinder / Jugendliche in den Gerichtsverhandlungen. Da hat sich schon sehr viel in den letzten Jahren zugunsten der Opfer bis in die Verhandlungsführung hinein geändert.
Die Jugendämter leider chronisch unter dem neoliberalen Stellenabbau im öffentlichen Dienst und Fallüberlastung, keine Frage. Alle Jugendämter stellen deswegen gerade den Kinderschutz in den Mittelpunkt als prioritäre Pflichtaufgabe und vernachlässigen dadurch eher die präventiven Bereiche.
Inhaltlich muss man berücksichtigen, dass die Täter die kindlichen Opfer mit allen Mitteln unter Druck setzen und oft nur andere Auffälligkeiten, Symptome bei den Kindern indirekt auf einen möglichen sexuellen Missbrauch hinweisen, weil die Opfer niemanden etwas vom Missbrauch erzählen dürfen und vor den Folgen Angst haben. Erst nach einer Heimunterbringung, der Trennung vom Täter oder der Beendigung des Missbrauchs, quasi in einer sicheren Umgebung, vertrauen sich manche Kinder einem Therapeuten / Helfer an und können die Traumata schildern bzw. verarbeiten. Was sollen aber die MitarbeiterInnen im Jugendamt tun, wenn ein Verdacht auf sexuellem Missbrauch besteht, der nicht ausreichend ist, um eine Heimunterbringung zu beschliessen gegen den Willen der Eltern? Sie können nur versuchen, dem betroffenen Kind einen pädagogischen oder therapeutischen Helfer an die Seite zu stellen, was die Täter blockieren, oder vertraute Bezugspersonen des Kindes zu sensibilisieren. Erfolgt umgekehrt eine falsch indizierte Unterbringung würde das Jugendamt nämlich auch wieder in der öffentlichen Kritik stehen.
Da schreit die Doppelmoral der Kirche zum Himmel. Wenn eine geschiedene Kindergärtnerin eines katholischen Kindergartens wieder heiratet, wird sie entlassen. Wenn aber ein Priester Kindern sexuelle Gewalt antut, wird er versetzt und vor der weltlichen Gerichtsbarkeit geschützt.
"Da schreit die Doppelmoral der Kirche zum Himmel. Wenn eine geschiedene Kindergärtnerin eines katholischen Kindergartens wieder heiratet, wird sie entlassen. Wenn aber ein Priester Kindern sexuelle Gewalt antut, wird er versetzt und vor der weltlichen Gerichtsbarkeit geschützt."
Beides gehört zum Glück meines Wissens der jüngsten Vergangenheit an. Im ersten Fall klagte ein Chefarzt einer katholischen Klinik bis zum Europäischen Gerichtshof gegen seine Entlassung wegen der Wiederheirat und bekam Recht, im zweiten Fall verpflichtet sich die RKK im Ergebnis der untersuchten vergangenen Missbrauchsfälle in Deutschland die staatlichen Behörden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Justiz,) regelhaft einzuschalten.
Wirklich wesentliche Änderungen in der RKK zum besseren Schutz der Kinder vor Übergriffen wären IMHO hauptsächlich Frauen in Weiheämtern (PriesterInnen etc.) und die Abschaffung des Zölibats.
Unterbesetzung, fehlende Qualifikation, Verschleierung durch die Täter: stimmt alles. Aber gerade im Hinblick auf Berlin muss man für die Vergangenheitwohl auch konstatieren, dass der Missbrauch strukturell und direkt von offiziellen Stellen begünstigt wurde.
https://www.tagesspiegel.de/berlin/kindeswohlgefaehrdung-in-oeffentlicher-verantwortung-studie-arbeitet-missbrauch-von-pflegekindern-bei-kentler-experiment-auf/25917772.html
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-kentler-fall-kindesmissbrauch-in-staatlicher-verantwortung-16817974.html
Mit den Stellen, wo ich zusammen gearbeitet hatte, kannte ich keine solchen Fälle, und ordnete die Vermittlung einzelner Pflegekindern an Männer mit pädophilen Neigungen in Berlin den 70/80ziger Jahre zu. Insofern kann ich dazu nicht mehr sagen, als die Artikel hergeben. Die Studie dazu habe ich noch nicht gelesen.
Es ist aber in der Zwischenzeit in den Ämtern eine Menge an Umstrukturierungen und Qualifizierungsmassnahmen zum Thema sexuellem Missbrauch passiert. So haben viele Jugendämter in Berlin durch Weiterbildungen spezialisierte, erfahrene Fachkräfte, bei denen sich die anderen KollegInnen jederzeit kollegiale Supervision besorgen können. Und es existiert in Berlin eine Hotline-Kinderschutz, seit ca. 10 Jahren. Gerade der Kinderschutz steht eigentlich im Mittelpunkt der Arbeit der sozialpädagogischen Dienste heute. Ausserdem verfügt jeder Bezirk über zwei Erziehungs- und Familienberatungsstellen, die über in der Behandlung traumatisierter Kinder erfahrene Psychologen verfügen.
Neben der Personalnot spielt bei der Vermittlung von Hilfen leider der Kostendruck eine Rolle, unter dem die Ämter Entscheidungen treffen müssen. Bezirke mit einer zu hohen Anzahl an Heim- und betreuter WG-Unterbringung und zu vielen Erziehungshilfen geraten immer in die Kostenfalle und müssen Leistungen kürzen.
Und wie schon erwähnt: Wegen der Personalnot und dem Druck, da wo Kinder sofort Schutz brauchen, zu intervenieren, entfielen in der Vergangenheit beim Jugendamt andere wichtige Leistungen im Bereich der Prävention bei sexuellem Missbrauch wie z.B. die Durchführung pädagogischer Veranstaltungen in den Schulen zu diesem wichtigen Thema. Darüber werden manchen Kindern auch Wege aufgezeigt, wem sie sich anvertrauen könnten.
Leider ist die Arbeit im Berliner Jugendamt wegen der Verantwortung und dem zu grossen Falldruck für junge SozialarbeiterInnen oft nicht mehr attraktiv genug.
Zunächst einmal finde ich es richtig, dass Ulrike Baureithel das Thema überhaupt anpackt und speziell das skandalöse Verhalten von Priesterschaft und deren Bonzen geißelt.
Aber ich möchte auf der anderen Seite auch ausdrücklich unterstützen, was @ qbz hier beigetragen hat, muss mich mit dem Personal, das das Wächteramt des Staates ausübt, ebenfalls mit dem therapeutischen solidarisieren, habe nämlich selbst 40 Jahre lang als Dipl. Sozialarbeiter in psychotherapeutischen Kontexten gearbeitet. Vor allen Dingen legt @ qbz die Finger in die Wunden: Den neoliberalen Stellenabbau im öffentlichen Dienst und Fallüberlastung. – Und Ich ergänze: nicht nur im öffentlichen Dienst.
Aber ich möchte beiden sagen, dass dieses Problem schlechterdings überhaupt nicht zu lösen ist. Der erwähnte Stellenabbau mag sexuellen Kindesmissbrauch signifikant erhöht haben, ist nicht jedoch nur ein begünstigender Faktor neben vielen.
Das eigentliche Problem kriegen wir nämlich nicht in den Griff: Das Schweigegelübde, dem u.a. betroffene Kinder vom Täter unterzogen werden, der schlechterdings ein Tabuklima schafft, das eben durch ein Schweigegelübde aller Beteiligten gekennzeichnet ist – es ist das Verbindende dieser kriminellen Subkultur.
Aber es kommt noch ein Gesichtspunkt hinzu. Ich möchte das am inzwischen 16-Jährige „Marvin aus Duisburg“ verdeutlichen. Über zwei Jahre lang fehlte von dem vermissten Jugendlichen jede Spur. Im Dezember 2019 wurde der Junge (damals 15 Jahre alt) zufällig in einem Schrank entdeckt. Ein Mann aus Recklinghausen soll Marvin zweieinhalb Jahre lang bei sich versteckt und in 475 Fällen sexuell missbraucht haben.
Selbstverständlich stellt sich da die Frage, weshalb der Jugendliche, der sich frei bewegen konnte, nicht aus der Wohnung des Angeklagten geflohen ist. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es liegt mir völlig fern, an den Jungen einen Schuldvorwurf zu richten und will die Auflösung dieser Preisfrage gleich mitliefern: Es ist davon auszugehen, bei dem Angeklagten eine neue „Heimat“ gefunden zu haben. Diese wird in der Presse als völlig verwahrlost beschrieben. Und dennoch – Marvin blieb offensichtlich „freiwillig“ dort. „FREIWILLIG“, weil er keine Alternative hatte.
Da stellt sich doch die Frage, was ist eigentlich der Referenzwert, das familiäre Milieu, dem er entstammt, war seine Vita bislang nur durch Gosse gekennzeichnet, dass ihm dieser Mann mit diesem gesellschaftlichen Status wie „Heimat“ vorkam?
Wissen Sie, mein Berufseinstieg 1968 erfolgte in einem Heim der öffentlichen Erziehung des Landschaftsverbandes Rheinland, in dem sich „verhaltensauffällige“ Jugendliche bis zu einem Volljährigkeitsalter von damals 21 Jahren befanden. Die entwichen auch schon mal, trampten nach Köln und sammelten innerhalb eines Tages auf der Hohe Straße mal eben 200 DM ein („Haste mal ne Mark für mich“). Andere wiederum überließen sich Homosexuellen. Ein Jugendlicher wanderte mit einem Mann in die USA aus, kam dann volljährig zurück, um sich seinen Pass abzuholen.
Und ich erlaube mir zudem, auch an die Zeit zu erinnern, als der grüne Daniel Cohn-Bendit u.a. offen für Pädophilie warben: "Die Debatte um Pädosexualität ist ein Teil der grünen Geschichte, und es ist klar, dass die Grünen an dieser Stelle mehr Offenheit gezeigt haben, als ihnen heute recht ist."
Guten Abend Frau Baureithel! Ich finde Ihre Wortwahl - Selbstberuhigung- richtig gut. Nein, ich denke nicht, daß die Strafverschärfung eher und vollständiger die Täter ( eingeschlossen sind darin auch Frauen) findet. Das geht , denke ich, fast nur über die Sensibilisierung, wie erkenne ich was....Das Thema und die Grünen ist ja bekannt.Ich persönlich war sehr über den systematischen Mißbrauch in der Odenwaldschule erschrocken. Und schon da hatte die Taktik- kann ja nicht sein, ist ja eine anerkannte Schule System, ähnlich zu setzen mit , wem das Jugendamt ein Kind oder Kinder in Pflege gibt.Da frage ich mich, wo haben die ihren psychologischen Blick, ihre Kenntnis- haben die betreffenden Personen ihre Ausbildung in Abwesenheit gemacht und sich von Mitschriften gebildet.Dann muß verpflichtend sein, daß 2Personen der entsprechenden Behörde zur Begutachtung herangezogen werden mit mindestend so und sovielen Fällen.Ja ist dann auch wieder eine Personalfrage.