Jüngst wurde ich fast als „rechtsoffen“ erkannt. Auf Social Media hatte ich gegen die „Staats-..., äh ..., öffentlich-rechtlichen Medien“ gestänkert. Mein Gegenüber nahm mir „diese Staatsmedien-Scheißerzählung“ übel, die sei „anschlussfähig“ für Rechtsradikale. Sofort rechtfertigte ich mich. Doch während ich vor lauter Angst, von einem klugen Menschen in eine falsche Schublade gesteckt zu werden, eifrig Differenzierungen tippte, klingelte etwas bei mir: Die „Zeitenwende“ ist nicht bloß Gerede. Der gängige Modus der Selbst- und Weltwahrnehmung beginnt sich zu verschieben.
Noch unlängst musste man solche Fehlzuordnungen weniger fürchten. Denn „Schubladen
Schubladendenken“ galt als übergriffig, pauschalisierend, „manichäisch“, eben nicht „out of the box“. Und manchmal ist das ja – noch? – so. Man kann Punk, Hip-Hop und Bach-Kantaten durcheinanderhören, ohne dass jemand das „unauthentisch“ findet. Ausgeprägt ist diese Kategorisierungs-Skepsis auch in der Geschlechtlichkeit: Hier ist „Questioning“ eine Option – die Auskunft, über das Selbst keine erschöpfende Auskunft geben zu können.Man nannte diesen Zeitgeist Postmoderne. Er stellte das Ästhetisieren über die Stringenz und feierte das Uneindeutige, Spielerische. Als Königsformat der postmodernen Selbstkonstruktion erkannte der Soziologe Andreas Reckwitz vor einigen Jahren das „Profil“: Wie auf Social Media kuratierten wir uns selbst aus verstreuten Merkmalen zusammen. Es ging nicht um Kohärenz, sondern Originalität. Um eine „Singularität“, in der sich zumindest Mittelschichtsmenschen den Zuschreibungen anderer zu entziehen trachten. Und zumindest innerhalb dieser Schicht gestand man anderen zu, was man beanspruchte: das Recht, sich selbst zu erfinden, statt „charakterisiert“ zu werden.Zumindest Zweiteres ist offenbar passé. Wo es üblich wird, der Welt „seine Pronomen“ mitzuteilen, wütet zugleich ein Backlash gegen die Vieldeutigkeit. Paradigmatisch ist die pandemische Erfindung der „Schwurbler:innen“, die es flugs ins Leitmedienvokabular schaffte: so vage, dass man sich kaum wehren kann – aber maximal abwertend. Wer schwurbelt, dem ist alles zuzutrauen. Das ist praktisch beim Austeilen. Und so gibt’s nach dem Corona- jetzt das Friedens-, Putin-, ja teils das Gerechtigkeits- oder Geopolitik-Geschwurbel. Schubladisierung „at its worst“.Die Profil-Metapher greift hier nicht. Das neue Denken funktioniert eher à la Amazon. Es unterstellt: Wer „Impfskepsis“ kaufte, mag auch Populismus, womöglich Antisemitismus oder gleich Chemtrails; wer „gegen Waffenlieferungen“ ist, ist gegen Transpersonen oder Klimapolitik. Graustufen sind nicht nur Verrat, sondern kaum noch vorstellbar. Schwarz gegen Weiß, Gut gegen Böse: Wir marschieren in eine neue Ära des Manichäismus.Sein Modus operandi heißt „Zuendedenken“. Man konstruiert mögliche Verbindungen zwischen einem A, B und C und erklärt sie zugleich zur Realität. Formal ist das noch postmodern: politische Urteile auf ästhetischer Basis. Denn diese Verkettungen werden ja eher gefühlt als begründet. Geradezu anti-postmodern ist indes die Absicht der Operation: Sie will einen linearen, möglichst gabelungsfreien Pfad „finden“ von einem vielleicht „umstrittenen“ A zu einem grundbösen C oder D.Wo kommt das her, wie nennt man das? Vielleicht hatten wir es privat übertrieben mit der spielerischen Vieldeutigkeit und werden nun von existenziellen politischen Krisen ins Gegenextrem geschickt. Die Frage nach der Überschrift ist derweil akademisch – der „Neue Realismus“, der laut Literaturwissenschaft die Postmoderne ablöst, passt freilich eher nicht.Wichtig ist jetzt vor allem die Suche nach der Notbremse. Denn eine postmoderne Erkenntnis gilt ja auf ewig: Unsere Bilder der Welt sind dieser niemals nur äußerlich, sondern gestalten sie gehörig mit. Zuschreibungen können sich realisieren; wird lange genug behauptet, dass stets bei D lande, wer A sagt, dann kann es auch so kommen. In diesem Sinn müssen wir jenes „Zuendedenken“ einmal zu Ende denken. Sonst landen wir zu schlechter Letzt vielleicht nicht mehr nur in falschen Schubladen, sondern in ganz anderen Kisten.