Online-Hatz: Ist der „Anzeigenhauptmeister“ der neue „Drachenlord“?
Medien Wieder so ein Watschenmann: Wie eine Allianz aus etabliertem Journalismus und Schwarm-Hass einen unbedarften 18-Jährigen durch die digitale Republik treibt
Mit Warnschutzjacke keineswegs unauffällig, Niclas M.
Screenshot: Der Spiegel/YouTube
Sicherlich: Der Spiegel ist eine recht breite Medien-Marke, und Spiegel TV war noch nie deren intellektuelles Flaggschiff. Zwar schreibt sich der 1990 gegründete Bewegtbildableger „hochwertige Inhalte für Fernsehen, Streaming und Social Media“ zu. Doch stellt man sich unter einem Spiegel-TV-Eigenbeitrag landläufig eher Kamerastunts mit leichtem Trashfaktor und vielen Ausrufezeichen vor. So nach dem Motto: Wir klingeln mal beim verkaterten Skandalrapper X und stellen ein paar krasse Fragen! Solcherlei Boulevard hat seine Berechtigung. Und einen gewissen professionellen Respekt hat sich Spiegel TV schon seit den 1990ern verdient: In ihrer knalligen Machart funktionieren die Stücke; was Spiegel TV um die Jahrtausendwende produzierte, nahm gewissermaß
e; was Spiegel TV um die Jahrtausendwende produzierte, nahm gewissermaßen die YouTube-Hits von heute vorweg.Dennoch steht nun mal Spiegel drauf. Auch nach dem Fall des Claas Relotius hat man da Resterwartungen hinsichtlich journalistischer Standards: Dass nämlich nicht alles für den Aufmerksamkeitserfolg getan werden sollte. Dass es Grenzen gibt in der Aus- und Bloßstellung von Menschen. Dass man zumindest dort eine Haltelinie zieht, wo sich der Protagonist eines Beitrags erkennbar nicht ganz der Konsequenzen bewusst ist, die es nach sich zieht, als personifiziertes Aufregerthema permanent auf so ziemlich jedem deutschen Smartphone aufzupoppen.Schlimmer als beim „Drachenlord“Ja: Formal mag es in Ordnung sein, einen 18-Jährigen aus einer ländlichen Kleinstadt mit vollem Namen zu „featuren“, der sich offenbar hauptsächlich damit beschäftigt, falsch geparkte Autos bei der Polizei zu melden. Aber eben auch nur formal. Man braucht keine Fortbildung in Medienethik, um zu wissen, dass so etwas wie der jüngst allseits virale Spiegel-TV-Beitrag über den „Anzeigenhauptmeister“ ganz einfach nicht geht.Aber wieso eigentlich, könnte man einwenden: Wurde jener Niclas M. etwa gezwungen, sein Gesicht in die Kamera zu halten? Ja, das wurde er. Zwar nicht von denen, die diesen Beitrag fabriziert und dem jungen Mann hoffentlich kein Geld dafür geboten haben. Sondern augenscheinlich von einer persönlichen psychosozialen Besonderheit. Ohne irgendwelche Ferndiagnosen anstellen zu wollen: Die Art, in der Niclas M. spricht und sich gibt – dieses Aufeinandertreffen von einerseits kindlich-naiver Beflissenheit und andererseits über-erwachsenen Gesetzestext-Sprechblasen, dieser gewisse Hang zur Mehr-als-Ordnung – müsste Medienschaffende mit einem Mindestmaß an Erfahrung und einem Rest an Berufsethos vor einem solchen Beitrag zurückschrecken lassen. Doch andererseits wusste man halt: Das Ding wird klicken wie nichts!Und es klickt und klickt und klickt. Ganz gleich, ob man sein Social Media auf Science-Fiction getrimmt hat, auf Extremsport, auf Haustiere oder Kochtipps – an dem Jungen im knalligen Warnanzug führte dieser Tage kein Weg vorbei. Und bisher, fingers crossed, ging es ja gut: Die erste erwartbare Real-Life-Attacke ist glimpflich abgelaufen. Niclas M. wurde in der Bahn erkannt, doch außer einem Schädel-Hirn-Trauma war dann ja gar nichts, beruhigt uns etwa der Express. Er wird halt zum Meme, das gehört dann dazu, nicht wahr? Play stupid games, win stupid prizes. Und überhaupt: Er will doch auch den Fame. Was soll schon groß schiefgehen?Da ist der schwere Dude auf TikTok, Knaststyle-Tattoos, Follower im sechsstelligen Bereich: „Zusammenreißen“ muss er sich in seinem React-Clip, damit er „nichts Strafbares“ sagt. Da sind die Facebook-Onkel, denen früher eine gelegentliche Abreibung ja auch nicht geschadet hat. Da sind die witzigen Nerds, die schon ein Videospiel gebastelt haben, da sind die biederen Redaktionen, die dieses „Netzphänomen“ mal nicht verpassen wollen. Und da ist auch schon ein Anzeigenhauptmeister-Profil, das zumindest so wirkt, als betreibe Niclas M. es selbst: In der Dynamik, in diesem aufschaukelnden Hin-und-Her zwischen den on- und offline-Medien verschiedener Generationen erinnert der Anzeigenhauptmeister an den „Drachenlord“.Wiedersehen am „Maschen-Draht-Zaun“Es gibt jedoch einen gewichtigen Unterschied: Die Geschichte um den übergewichtigen und ungehobelten Videospiel-Streamer Rainer Winkler, den zu mobben, verspotten, erniedrigen und ganz real anzugreifen in den 2010er Jahren das halbe Netz amüsierte, war von unten gewachsen. Sie war ein Schwarmphänomen, sie hatte also keine konkreten, moralisch haftbaren Autoren, als sie die erstaunten Oberwelt-Medien erreichte. Die jetzige Story um Niclas M. hingegen nahm den umgekehrten Weg. Der Anzeigenhauptmeister wurde von Leuten, die sich mit Medien hervorragend auskennen, ganz gezielt auf Wirkung konstruiert. Das ist in Sachen Impact noch mal eine andere Hausnummer. Und darin erinnert die Saga um Niclas M. an das hierzulande wohl erste derartige Phänomen, das um 2000 Furore machte, nämlich die Sache mit dem Maschen-Draht-Zaun. 1999 hatte der damalige Pro-Sieben-Moderator Stefan Raab aus einem Nachbarschaftsstreit in der ostdeutschen Provinz einen Song gemacht. Es ging in der Causa, die in der Sat-1-Gerichtsshow Barbara Salesch vorgestellt worden war, um einen Knallerbsenstrauch, der in den Maschendrahtzaun zwischen den Grundstücken wucherte. Der enorme Erfolg dieses Spottliedes, das zeitweise die deutschen Charts anführte, beruhte auf der herausragenden Verballhornbarkeit der Beschwerdeführerin Regina Z.: Ihr Äußeres, ihr starker sächsischer Akzent und ihr etwas erratisches und unbeholfenes Auftreten boten eine ideale Projektionsfläche für all jene negativen Ossi-Klischees, die in den 1990ern im Umlauf waren. Die übertrieben „ostdeutsch“ intonierten Worte „Knallerbsenstrauch“ und „Maschendrahtzaun“ waren vielleicht das erste Audio-Meme der deutschen Mediengeschichte.Ähnlich virtuos wie seinerzeit der höchst versierte Medienmacher Raab hat nunmehr Spiegel TV jenen etwas frühreif wirkenden 18-Jährigen als Urbild eines paradigmatischen Hassobjekts der frühen 2020er Jahre hergerichtet: Dieser besserwisserischen, passiv-aggressiven, mutmaßlich Grünen-wählenden Streber-Rotznasen-Petze, die dir dein Auto wegnehmen will, geschehe schon zu recht, was immer auch passiere.Dann lieber Wok-WMSo wirkt der Anzeigenhauptmeister wie ein zynischer Feldversuch: Wo endet die theatralische Vorführung eines realen Subjekts, in der sich die kompetente Konstruiertheit des Maschen-Draht-Zauns mit der unvorhersehbaren Peer-to-Peer-Dynamik der Drachenlord-Causa treffen? Man will es vielleicht gar nicht wissen, wird sich das Ergebnis aber kaum vom Leibe halten können. Es ist jedenfalls beklemmend, wie gewissenlos und kunstvoll zugleich hier ein angesehenes Medienhaus puren Hatebait-Content verbreitet.Stefan Raab hingegen ist zugutezuhalten, dass ihm augenscheinlich gewisse Skrupel kamen, als der Maschen-Draht-Zaun im wirklichen Leben eine Dynamik entwickelte, die im Rückblick an das 15 Jahre später florierende „Drachen-Game“ gemahnt. Als ein massiver Gaffer-Tourismus zum Grundstück von Regina Z. teils unschöne Szenen hervorbrachte, war er sichtlich bemüht, das ganze zu einem versöhnlichen Ende abzumoderieren. Er hat auch nie wieder Menschen wie Regina Z. – oder später Rainer Winkler, heute eben Niclas M. – in einer solchen Weise ins Visier genommen. Stattdessen arbeitete er sich in einem harmloseren Meme-Song („Gebt das Hanf frei!“) am Politiker Hans-Christian Ströbele ab, der mit sowas umgehen konnte. Dann gewann er mit seinem Geschöpf Lena Meyer-Landrut sensationell den Eurovision-Song-Contest und ließ D-Prominente in chinesischem Kochgeschirr Bob-Rennen fahren. Abzumoderieren wäre nun dringend auch die Sache um Niclas M., soweit das überhaupt noch geht. Und so etwas wie jene „Wok-WM“ wäre vielleicht eine geeignete Anschlussverwendung für all diejenigen, die bei Spiegel TV den Anzeigenhauptmeister aufgestöbert, konzipiert, abgedreht, diskutiert und dann tatsächlich in gehabter Form veröffentlicht haben. Denn an „größeren“ Themen, die Spiegel TV unter anderem ja auch für zahlreiche öffentlich-rechtliche Sender produziert, will man Leute mit einer derartigen Berufsethik lieber nicht arbeiten wissen. Dass nicht nur Claas Relotius, sondern auch Niclas M. ein „Fall“ ist, der einer gewissen internen Aufarbeitung bedarf, das müsste man jedenfalls auch beim Spiegel sehen. Schon um zu retten, was von der Marke noch übrig ist.
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