Historische Einheit von Russen und Ukrainern?

Putins Geschichtspolitik Ein erzkonservatives System rechtfertigt religiös verbrämt Gebietsansprüche durch ein sehr fragwürdiges Geschichtsbild. Das 19. Jahrhundert bläst zum letzten Gefecht.

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1. Abenteuer im Zauberwald
1.1. Panfilovs achtundzwanzig Gardisten
1.2. Mythos Brester Festung
1.3. Das Marsfeld in Lviv
1.4. Die Statue von Konev in Prag
1.5. Über das Fast Food der Geschichtenerzähler
2. Nicht euer Krieg (Не Твоя Война)
3. In der Nähe der Pappel (Біля тополі)
4. Das Vermächtnis (Заповіт)
4.1. Auswirkungen einer Fast-Food-Geschichtspolitik
4.2. Expansion im Süden
5. Ein ungleicher Kampf um den Dnipro (Над Дніпром нерівний бій)
5.1. Europa schwieg (Європа мовчала)
5.2. Molotov-Ribbentrop-Pakt
6.1
Noch ist die Ukraine nicht gestorben (Ще не вмерла Україна)
6.2. Erinnern wir uns jetzt an all die Strapazen (Згадаймо нині всі тяжкії муки)
7. Gibt es Putin - gibt es Russland, Gibt es keinen Putin - gibt es kein Russland

In immer kürzeren Abständen versorgt Putin seine Bürger mit eigenwilligen historischen Ansichten, die mit der Geschichtswissenschaft nichts gemeinsam haben. Am 12. Juli erschienen ein Artikel unter dem Titel "Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern". Einen Tag später beantwortete Putin Fragen zum Artikel. Der Inhalt des Artikels ist eine skizzenhafte Zusammenfassung der russischen Geschichte, wie sie Putin sieht. Sie beginnt mit der Christianisierung der Kyiver Rus und endet in der Gegenwart. Auf der Seite des Kreml erschien Putins ideologischer und programmatischer Essay auf Russisch und auf Ukrainisch.

Neu ist der Anspruch Russlands auf die Ukraine nicht. Die Annexion der Krym wurde mit historischen Gründen gerechtfertigt. Zwar wurde die militärische Unterstützung Russlands im Krieg gegen die Ukraine immer verleugnet, die Anwesenheit kämpfender russischer Einheiten ist jedoch nicht nur in der Schlacht von Ilovaisk im August und September 2014 belegt.

Putins gefährliche Ukraine-Erzählung sieht der Ökonom Anders Aslund als eine "Meisterklasse in Desinformation" und "einen Schritt vor einer Kriegserklärung" mit zum Teil bizarren Momenten, wenn Putin von einer Wiedervereinigung der Ukraine im Jahre 1939 spricht und damit den Molotov-Ribbentrop-Pakt ment.

1. Abenteuer im Zauberwald

Das erste Kapitel beschäftigt sich noch nicht mit Putins Artikel, sondern mit den aktuellen Entwicklungen russischer Geschichtspolitik aus dem Kreml sowie ihren Auswirkungen.

Während der Sowjetunion war die Geschichtswissenschaft den Lehren der Partei untergeordnet. Kaum einer wollte die Geschichte Russlands oder der Sowjetunion studieren. Das historische Studium anderer Regionen war für die Studenten spannener. Das wandelte sich grundlegend unter Gorbachov, als ein Teil der Archive einsehbar waren und viele Tabus entfielen. Der Staat mischte sich immer weniger in die Arbeit der Historiker ein. Der sowjetische Historiker Dmitry Volkogonov konnte eine Biographie über Leo Trotzkyj schreiben. Vor 1987 war sämtliches Material über Trotzkyj auch für parteitreue Historiker unzulänglich.

Seit etwa 10 Jahren wächst der Druck auf Historiker. Vor allem seit der Annexion der Krym werden Historiker verfolgt, die nicht in den gewünschten patriotischen Kanon einstimmen. 2016 wurde Memorial durch das Justizministerium Russlands mit dem 2012 verabschiedeten Gesetz über ausländische Agenten zu einer feindlichen ausländischen Organisation erklärt, Memorial wurde Januar 1989 in Moskau als internationale Geschichts- undBürgerrechtsgesellschaftgegründet. In ihrer Charta verpflichtet Memorial sich, die Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen totalitärer Regime aufrechtzuerhalten. Memorial blieb auch nach dem Zerfall der Sowjetunion bestehen und war für viele Anlaufstelle, die nicht wußten, wo ihre Angehörigen geblieben waren, die in der Stalinzeit erschossen wurden oder in Lagern verschwanden.

In den vergangenen Jahren beanspruchte der Kreml immer mehr, die Erinnerung diktieren zu wollen. Der Sieg im 2. Weltkrieg, der in Russland als Großer Vaterländischer Krieg bekannt ist und nach der Lesart der Herrschenden 1941 begann und 1945 endete, bildet den zentralen Punkt der Geschichtspolitik und der Kreml beansprucht, Hüter des Sieges zu sein. Daher ist es kein Zufall, wenn der russische Verteidigungsminister Sergej Shoigu den Antrag stellt, die russische Armee solle Putins Text über Russland und die Ukraine in militärpolitischen Ausbildungskursen studieren und abweichende Forschungsergebnisse mit juristischen Mitteln bekämpft werden, um ein Monopol auf die "richtige" Vergangenheit aufzubauen.

Wie sehr der Kreml die Geschichtswissenschaftler aus der Wertung der historischen Ereignisse entlässt und diese an sich reißt, kann man an der Zusammensetzung einer historischen Kommission erkennen. Der ehemalige Kulturminister Vladimir Medinski wurde zum Leiter einer neuen Kommission für historische Bildung ernannt. Diese Kommission setzt sich aus Vertretern des Präsidialverwaltung, des Sicherheitsrats, der Generalstaatsanwaltschaft, des Außen- Innen- und Verteidigungsministeriums sowie des FSB zusammen. Historische Bildung ist in Russland eine Aufgabe von Beamten der Sicherheitsdienste und keine von Historikern. Medinski lässt schon seit Jahren keinen Zweifel daran, welche Prioritäten gesetzt werden müssen. Historische Genauigkeit gehört nicht dazu.

1.1. Panfilovs achtundzwanzig Gardisten

Meine tiefste Überzeugung ist, dass selbst wenn diese Geschichte von Anfang bis
Ende erfunden wurde,
selbst wenn es Panfilov nicht gäbe, selbst wenn es nichts
gäbe, dies eine heilige Legende ist, die einfach
nicht berührt werden kann.
Und die Leute, die das tun, sind absoluter Abschaum.

Vladimir Medinski, 2016

Medinski spielt auf die Legende von Panfilovs achtundzwanzig Gardisten an. Das ist eine der vielen Legenden über den 2. Weltkrieg. Vom 14 bis zum 16. November 1941 sollen 28 Soldaten der 316. Schützendivision unter Führung von Ivan Panfilov in der Nähe von Volokolamsk gegen eine Übermacht von deutschen Panzern gekämpft haben. Sie konnten 18 Panzer vernichten und den Angriff stoppen. So die Legende. Panfilovs Einheit war aber nicht an diesen Kämpfen beteiligt. 2015 wurde diese Legende vom Direktor des russischen Staatsarchivs Sergej Mironenko anhand von Dokumenten aus dem Jahre 1948 als Propagandalüge entlarvt. Es stellte sich sogar heraus, einer der Rotarmisten aus Panfilovs Einheit - Ivan Dobrobabin - war in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und beteiligte sich als Leiter einer Polizeieinheit im Auftrag der Deutschen an der Deportation von Zwangsarbeitern. Das ergab ein Bericht des militärischen Oberstaatsanwalts der UdSSR Nikolai Afanassjev aus dem Jahre 1948. Diese interne Recherche wurde gemacht, um den Wahrheitsgehalt eines Zeitungsberichts der Krasnaja Swesda (Roter Stern) über Panfilovs Einheit zu überprüfen. Afanassjev kam zu der Überzeugung, die Legende um Panfilovs Einheit sei reine Fantasie. Dennoch unternahm man nichts gegen die Legendenbildung, die bis zum Ende der UdSSR populär blieb. 2016 wurde mit finanzieller staatlicher Unterstützung ein aufwendiger Spielfilm über diese Legende gedreht.

Der Regisseur des Spielfilms Panfilovs achtundzwanzig Gardisten Andrej Schalopa kommentierte die historische Forschung mit den Worten: "Diese Demaskierung und Entzauberung der Heldentaten ist sinnlos und unmoralisch." Mironenko wurde als Direktor des Staatsarchivs entlassen, weil er bei seinen historischen Recherchen das Wichtigste übersehen hatte - seine Forschungsergebnisse mit den Herrschenden abzustimmen.

Wenn 2021 eine Kommission für historische Bildung mit Medinski errichtet wird, ahnt man, es geht nicht um historische Forschung.

1.2. Mythos Brester Festung

Es gibt viele Legenden und Mythen um den 2. Weltkrieg, die einer historischen Prüfung nicht standhalten. Eine davon ist der Mythos über den Kampf um die Brester Festung. Der Leipziger Historiker Dr. Christian Ganzer hat in seiner Vorlesung Kampf um die Brester Festung 1941. Ereignis – Narrativ – Erinnerungsort diesen Mythos einer historischen Prüfung unterzogen. In der Fesung waren 9000 Soldaten stationiert und 6800 wurden von den Deutschen gefangengenommen.

Der Mythos besagt, es habe um die Festung in Brest einen heldenhaften Kampf über fast einen Monat hinweg gegeben. Die Realität ist, gekämpft wurde insgesamt drei Tage. Die Anzahl der an der Schlacht beteiligten Soldaten zeigt, Brest war kein Hauptkampfgebiet. Aufhalten konnte die Rote Armee die Heeresgruppe Mitte nicht. Dass Kämpfe in einem Kessel bis zum Tod militärisch sinnlos sind, daraus lernte zwar die sowjetische Generalität, aber nicht Hitler, der bis zum Kriegsende jedem Kessel befahl, sich heroisch bis zur letzten Patrone zu wehren.

Was den Nachschub betraf, so waren die Rotarmisten in den ersten Kriegsmonaten viel zu schlecht mit Waffen, Munition und Nahrung versorgt. Zudem ahnte kaum ein Rotarmist die unmenschlichen Bedingungen für sowjetische Kriegsgefangene. Damit läßt sich die hohe Zahl an sowjetischen Kriegsgefangenen erklären, die im weiteren Verlauf des Krieges nicht mehr erreicht werden konnte, nachdem die Sowjetbürger die Bedeutung des Wortes Vernichtungskrieg kennenlernten.

Im 1956 gegründeten und 1971 durch monumentale Denkmäler erweiterten Gedenkstätte könnte man gut Studien über das Propagandanarrativ der jeweiligen Zeitepoche anstellen. Es ist überliefert, der erste Leiterder Gedenkstätte pries Stalin als den glorreichen Kämpfer gegen den Faschismus, bis ihm ein anwesender Funktionär beiseite nahm und ihm auf Chrushchovs Geheimrede auf dem XX. Parteitag über den Personenkult aufmerksam machte.

Auch nach dem Zerfall der UdSSR nahm die Neigung nicht ab, die Geschichte zum Zwecke der Heroisierung zu interpretieren. Ein 1991 von einer deutschen Familie überreichter Brief eines in Brest gefallenen Wehrmachtssoldaten über seinen Tod wurde falsch übersetzt. Die Diagnose Herzschuß wurde mit Herzanfall übersetzt. Korrigiert wurde es bis heute nicht. Der Museumsbesucher soll den richtigen Eindruck vom Widerstand der sowjetischen Soldaten erhalten. Der hartnäckige Widerstand der Rotarmisten kam später. Als es ausreichend Waffen und Munition für die Soldaten gab und die Verbrechen der Deutschen bekannt wurden.

Heute ist die Gedenkstätte ein zentraler Punkt nationalen Gedenkens in Belarus. Lukashenka hielt dort am 22. Juni 2021 eine Rede, um die Verbundenheit des Systems mit dem Kampf gegen den Faschismus zu demonstrieren. Die Rolle der Faschisten übernehmen Lukashenkas Gegner und ihre weiß-rot-weiße Flagge aus dem Jahre 1918 wird als Symbol der Faschisten gedeutet. Lukashenkas Gegner berufen sich ebenfalls auf den Partisanenkampf gegen die Faschisten und sehen in ihrem Kampf gegen die Obrigkeit Parallelen.

1.3. Das Marsfeld in Lviv

Es gibt auch viele Beispiele dafür, wie sich der Kreml in das Gedenken anderer Staaten einmischt. Je nach Betrachtungsweise liest sich der Protest zunächst nachvollziehbar. Schaut man genauer hin, eröffnen sich Perspektiven, bei dem man sich fragt, warum diese Proteste überhaupt Schlagzeilen machen.

In Lviv wurde ein Gedenkstein mit Hammer und Sichel auf dem Marsfeld entfernt und an anderer Stelle aufgestellt. Sofort ertönten die Proteste aus den regierungstreuen Medien und von russischen Politikern und Beamten. Das Narrativ des zum Faschismus neigenden Westukrainers ist wie immer der letzte Beweis.

Was findet sich auf dem Marsfeld? Die Sowjetunion errichtete eine Gedenkstätte für gefallene Soldaten. Im Boden eingelassene Sandsteine zeigen die Namen der Gefallenen. Manchmal stehen neben dem Namen Geburts- und Todesjahr, manchmal nur das Geburtsjahr, manchmal gibt es keine Angaben. Als Todesjahr findet man die Jahre 1944 und 1945. Einige der Gefallenen sind aber nach 1945 gefallen. Nicht jeder Gefallene kämpfte für die Rote Armee. Einige waren Mitglieder des NKWD (später KGB). Die Gedenksteine liegen weiterhin dort. Manchmal sieht man neben einem Namen eine vertrocknete Blume, die jemand zum Gedenken dort niederlegte. Ein Platz zum Gedenken gibt es also weiterhin.

Die Sowjetunion ging weniger rücksichtsvoll mit dem Gedenken vergangener Schlachten vor. Auf dem Marsfeld wurden tausende Gefallener des 1. Weltkriegs beerdigt. Die Hinterbliebenen hatten keine 30 Jahre Zeit, den getöteten Angehörigen zu gedenken. Um Platz für das Gedenken ihrer Helden zu schaffen, wurden tausende Grabsteine entfernt und die darunter befindlichen Skelette entsorgt.

1.4. Die Statue von Konev in Prag

In Prag befand sich im Stadtteil Prag 6/Bubeneč eine 1980 aufgestellte Statue von Marschall Ivan Konev, die seit den 1990er Jahren in Tschechien für Kontroversen sorgte. Nachdem diese im September 2019 entfernt wurde, führte dies zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen Tschechien und Russland. Der russische Verteidigungsminister Shoigu ordnete beim Chef der russischen Ermittlungsbehörde Bastrykin die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Verletzung des Denkmalschutzes an.

Der Streit zwischen Russland und Tschechien schwelte schon seit Jahren und brachte den Bezirksbürgermeister von Prag 6 Ondřej Kolář einige Male international in die Schlagzeilen, da Konevs Statue immer wieder das Ziel von Anschlägen mit Farbbeuteln war. 2018 wurde von der Stadt Prag neben dem Denkmal ein erläuternder Text hinzugefügt:

"Ivan Stepanovich Konev befehligte die 1. Ukrainische Front, deren Truppen für den endgültigen Angriff auf Berlin eingesetzt waren und Nord-, Mittel- und Ostböhmen befreiten. Sie waren die Ersten, die am 9. Mai 1945 in Prag einmarschierten. Im Herbst 1956 leitete er die Niederschlagung des Ungarischen Aufstandes durch die sowjetische Armee und beteiligte sich 1961 als Kommandeur der sowjetischen Truppen in Berlin an der Lösung der sogenannten Berlin-Krise durch den Bau der Berliner Mauer. In 1968 unterstützte er persönlich die geheimdienstliche Überwachung vor der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei."

Um den Text entstand ebenfalls eine kontroverse Diskussion. Über Konevs Beteiligung an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 besteht keinerlei Zweifel. Umstritten ist Konevs Beteiligung an der Niederschlagung des Prager Frühlings. Russland verneint bis heute vehement eine Teilnahme Konevs an der Unterdrückung des Aufstandes und verweist auf sein damaliges Alter und seinen Gesundheitszustand. Konev war damals 70 Jahre alt und besuchte Prag zum 23. Jahrestag der Befreiung der tschechoslowakischen Hauptstadt. In einem Interview mit dem Historiker Daniel Povolny erwähnt dieser, Konevs Delegation wurde nicht wegen des Jahrestages, sondern wegen der aktuellen Ereignisse in der CSSR nach Prag entsandt: "Aus dem Protokoll des Politbüros des ZK der KPdSU geht hervor, dass die Delegation von Marschall Konev mit einem bestimmten politischen Ziel in die Tschechoslowakei entsandt wurde." Tschechische Offiziere bestätigten, es wurden anschließend Berichte von den aktuellen Ereignissen in der CSSR erstellt.

Es ist bekannt, mindestens 7 sowjetische Divisionen waren ab dem 4. Mai nahe der tschechoslowakischen Grenze stationiert, die von Polen, der DDR und der heutigen Ukraine aus zusammen mit zwei polnischen Divisionen am 9. bzw. 10. Mai in die CSSR einmarschieren sollten. Wozu es erst im August kam. Da aber bis heute kein einziger Historiker die Akten in Russland einsehen konnte, bleibt Konevs Rolle an der Niederschlagung des Prager Frühlings unklar. Seit 1962 befand er sich im Ruhestand, belegt ist aber eine Sitzung des Militärrats, an der Leonid Breschnev am 6. Mai 1968 teilnahm, die die Entsendung von Konevs Delegation nach Prag zum Thema hatte.

Die Darstellung der Ereignisse im Mai 1945 auf dem Gedenkstein ist geschönt. Die Prager Bürger wagten ab dem 5. Mai 1945 gegen die Reste der Wehrmacht und der SS einen Aufstand, der angesichts fehlender schwerer Bewaffnung zum Scheitern verurteilt war. Es kam jedoch zu einem Frontwechsel der ROA (Russische Befreiungsarmee) durch das Erste Bataillon am 6. Mai, denen es gelang, 10000 deutsche Soldaten zu entwaffnen. Als Konevs Armee am 9. Mai Prag erreichte, waren die Reste der deutschen Armeen bereits besiegt.

1.5. Über das Fast Food der Geschichtenerzähler

Geschichtspolitik ist der Fast-Food-Entwurf für den schnellen Konsum. Er sättigt schnell und gibt das wohlige Gefühl, alles verstanden zu haben. Natürlich ist es kein Alleinstellungsmerkmal des Kremls, die jeweilig gültige Geschichtspolitik zur Sättigung zu servieren. Wer das Rezept des ukrainischen Historikers Vjatrovych untersucht hat, wird den Eindruck nicht los, dessen Methoden weisen Ähnlichkeiten auf. Auch die Briten verweisen nicht immer auf den Anteil der ausländischen Soldaten in der britischen Armee. Die Luftschlacht um England wurde erst gewonnen, als Polen, Tschechen und andere Angehörige besiegter kleinerer Nationen in die Pilotenkanzeln der Spitfires und Hurricanes gesetzt wurden.

Die sowjetischen Offensiven wären ohne die Hilfslieferungen aus den USA und aus Großbritannien nicht möglich gewesen. Die Rotarmisten hätten ihre Artillerie tragen müssen. Dazu wären sie aber ohne die umfangreiche Lieferung von haltbarer Nahrung aus den USA nicht in der Lage gewesen. Die Invasion am 6. Juni 1944 wäre zum Scheitern verurteilt gewesen ohne die zeitgleiche Offensive der Roten Armee, die den Kollaps der Heeresgruppe Mitte zur Folge hatte.

In jedem besetzten Staat gab es sowohl Kollaboration als auch Widerstand. Die Geschichten aus Frankreich, den Niederlanden, Norwegen, Polen und der Ukraine aus dieser Zeit sind hochinteressant und jeder, der sich für diese Zeit interessiert, sollte sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigen.

Er sollte sich mit Witold Pilecki beschäftigen. Pilecki war ein polnischer Offizier, der es als einziger Mensch schaffte, in das KZ Auschwitz zu kommen, daraus wieder zu flüchten und einen Bericht über dieses Vernichtungslager zu erstellen. Danach war er Teilnehmer am Warschauer Aufstand. 1948 wurde Pilecki wegen angeblicher Spionage in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet. Er hatte 1947 begonnen, Beweise für sowjetische Gräueltaten zu sammeln.

Er sollte sich damit beschäftigen, der Oberrabbiner von Kiew und der Ukraine Moshe Reuven Asman an die Yad Vashem-Kommission appeliert, den Erzbischof von Lviv und Metropolit der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche Andrei Sheptytsky trotz des unbewiesenen Gerüchts, dieser habe 1943 der SS-Division "Galychyna" den Segen erteilt, in die Liste der Gerechten der Völker (Liste der Ukrainer) aufzunehmen. Gesichtert ist, Sheptytsky rettete dutzenden Juden das Leben. Ich neige dazu, dem ukrainischen Historiker Vasyl Rasevich zuzustimmen, der dafür plädiert, "über die Rolle und Position des geistlichen Hirten und Mentors in äußerst schwierigen und unmenschlichen Umständen" weitere "ernsthafte akademische Forschung" zu diesem Thema empfiehlt.

Geschichte ist kein Fast Food, der sich auf einzelne Personen oder Ereignisse reduzieren lässt, von dem man die Rezepte je nach Geschmack auswählt. Auch die Geschmacksnerven vieler Deutscher, die sich als zu spät geborene Kämpfer gegen den Faschismus verstehen, sind mit den immer gleichen Zutaten zufrieden, wenn sie zuverlässig geliefert werden. Es ist die Aufgabe der kritischen Geschichtswissenschaft, nicht das Wünschenswerte, sondern das Vorgefundene als Maßstab zu nehmen.

Die folgenden Kapitel thematisieren, warum Putins Artikel Fast Food ist, nichts erklärt und nur auf die Geschmacksnerven von Durchschnittskonsumenten abgestimmt sind.

2. Nicht euer Krieg
Не Твоя Война
(Okean Elzy, 2015)

Lassen Sie mich gleich betonen, dass ich die Mauer, die in den letzten Jahren zwischen
Russland und der Ukraine
entstanden ist, zwischen Teilen eines historischen und
s
pirituellen Raums, als großes gemeinsames Unglück, als Tragödie wahrnehme.

Wenn diese Mauer wirklich eine Tragödie für Putin darstellt, dann beklagt er sein eigenes schlechtes Drehbuch. Sein bisheriger Versuch, die Ukraine unter die Kontrolle des Kremls zu bringen, ist kolossal gescheitert. Ganz sicher bei der überwiegenden Mehrheit in der Ukraine, aber selbst im eigenen Land wird der Anteil der Bürger in Russland in den letzten 20 Jahren immer größer, die anerkennen, es gibt einen ukrainischen Staat und eine ukrainische Sprache. Gibt es bei der älteren Bevölkerung noch signifikante Unterschiede zwischen den Landesteilen, nivellieren sich diese Unterschiede bei den unter 30jährigen, die nach der Unabhängigkeit des Landes aufgewachsen sind.

Sie begannen mit ethnischen Säuberungen und dem Einsatz militärischer Gewalt
zu drohen.Und die Einwohner von Donezk und Luhansk griffen zu den Waffen,
um ihre Heimat, ihre Sprache und ihr Leben zu schützen.

Olexii Bida berichtet von ganz anderen Erfahrungen in Luhansk. Ethnische Säuberungen sind ein großes Wort. Sollte es die im Frühjahr 2014 wirklich gegeben haben, dann wurden sie von russischer Seite gegenüber der ukrainischen Bevölkerung verübt.

Nach dem 9. März ging es bergab. Immer mehr Ver­wal­tungs­ge­bäude wurden
besetzt und die anti-Maidan-Pro­teste bekamen Ober­was­ser. Unsere letzte
Demons­tra­tion war am 28. April. Danach wurde es zu gefähr­lich auf die Straße
zu gehen, denn im besetz­ten SBU-Gebäude wurden Waffen einfach gegen
Aus­weis­ko­pien aus­ge­ge­ben. In den Straßen waren Betrun­kene mit
Kalasch­ni­kows, die Akti­vis­ten ver­folg­ten und Listen anfer­tig­ten.
Oleksii Bida

Viele Ukrainer aus Luhansk berichten davon, im April kontrollierten Bewaffnete die Straßen, die man zuvor as Kriminelle kannte. Auch von Busladungen Bewaffneter aus Russland wird in Kharkiv, Luhansk und Donezk berichtet.

Russland tat alles, um den Brudermord zu stoppen.

Als ab März 2014 in Kharkiv, Odesa, Donezk und Luhansk die Zahl der prorussischen Aktionen zunahmen, die jedoch nie zu einer großen Demonstration, sondern lediglich zu punktuellen, teils gewaltsamen Provokationen führte, hatte niemand die kommenden Ereignisse vorausgesehen. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, der im Frühjahr 2014 noch Donezk besuchte, hatte zu keinem Zeitpunkt vor Ort Anhaltspunkte für die nur wenige Tage später folgenden Ereignisse gefunden, die er anschließend mit Urbizid an Donezk bezeichnete. In seinem Buch "Entscheidung in Kiew" berichtet er darüber und äußerte die Vermutung, eine kleinere, aber entschlossene militärische Aktion seitens der Ukraine hätte ausgereicht, die dann folgende Tragödie zu verhindern.

Natürlich war Rybak als Person, die sich aktiv gegen die 'Miliz' aussprach,
in meinen Augen ein Feind. Und sein Tod liegt wahrscheinlich auch
in gewissem Maße in meiner Verantwortung.
Igor Girkin (Gordon)

Das deckt sich mit den Statements des ehemaligen FSB-Agenten Igor Girkin, der mit einer Einheit am 17. April in Horlivka den Stadtabgeordneten Volodymyr Rybak sowie die Studenten Yuriy Popravka und Yuriy Diakovsky foltern und ermorden ließ. Girkin beklagte sich oft, weder auf der Krym, noch im Donbas habe es durch die örtliche Bevölkerung eine nennenswerte Anzahl an Unterstützern für einen russischen Frühling gegeben. Dafür gab es Artilleriebeschuss vom russischen Staatsgebiet, von dem ukrainische Soldaten im Sommer 2014 ebenso wie Einheimische berichten. Dokumente über diese Taten wurden beim MH 17-Prozess in Den Haag präsentiert.

Putin, was machst Du? Hattest Du nicht genug? Du hast die Krym genommen,
Was brauchst Du noch? Donezk? Luhansk? Die ganze Ukraine?
Ist das noch nicht genug? Liebe russische Waffenbrüder,
eure Enkel schickt man los, um unsere Enkel zu töten. Mein Enkel wurde getötet.
Ivan Zaluzhnyi, 97-jähriger Veteran des 2. Weltkriegs am 6. Mai 2015 über den Tod seines Enkels

Unter den "Touristen" mischte sich auch Anton Raevsky aus Omsk zusammen mit mindestens sieben weiteren Mitgliedern der faschistischen Schwarzen Hundertschaft. Auf seiner Brust prangt ein Tattoo in Form eines Hakenkreuzes, seinen linken Oberarm ziert ein Bild von Adolf Hitler. Im März 2014 reiste er zur Unterstützung der Maidan-Gegner auf dem Kolikovo-Feld nach Odesa, im Juni 2014 kämpfte er in Sloviansk auf der Seite der "Separatisten" und bekannte freimütig, Girkins Truppen konnten nur dank massiver Mithilfe der russischen Armee aus dem Kessel entkommen. Bei der anstehenden Wahl zur russischen Duma wurde er von Shirinovskyjs Partei nominiert, Raevsky lehnte aber einen Posten als Duma-Abgeordneter "aus Zeitgründen" ab.

Fakt ist aber, dass die Situation in der Ukraine heute ganz anders ist,
da es sich um einen erzwungenen Identitätswechsel handelt. Und das
Ekelhafteste ist, dass die Russen in der Ukraine nicht nur gezwungen sind,
ihre Wurzeln aus Generationen von Vorfahren aufzugeben, sondern auch
zu glauben, dass Russland ihr Feind ist.

Die Ereignisse des Jahres 2014 zeigen deutlich das Scheitern der russischen Politik gegenüber der Ukraine. Vor dem Maidan befürworteten 12% der Ukrainer eine Mitgliedschaft in der NATO. Selbst für eine Mitgliedschaft in der EU fand sich keine Mehrheit. Als Janukovychs kleptokratisches System die Ukraine in die Nähe der Zahlungsunfähigkeit brachte und lediglich der Kreml eine Kreditzusage unter dem Vorbehalt der Abkehr von der EU machte, begannen im November die Proteste auf dem Maidan. Nachdem die Staatsmacht am 30. November die Proteste gewaltsam niederschlagen wollte, solidarisierten sich weite Teile der ukrainischen Bevölkerung mit den Demonstranten. Alleine auf dem Khreshchatyk demonstrierten etwa eine Million Menschen.

Der Maidan brachte die Sehnsucht nach Rechtsstaatlichkeit zum Ausdruck, die auf die EU projiziert wurde. Eine Mehrheit für eine NATO-Mitgliedschaft fand sich nicht einmal nach der Annexion der Krym, sondern erst, nachdem im Donbas der Krieg begann. Weder auf der Krym noch im Donbas fanden sich genügend Soldaten, um einen Krieg gegen Kyiv führen zu können. Auch das beklagte Girkin in mehreren Interviews.

Einen Identitätswechsel gibt es in der Ukraine nicht. Allerdings erreichte Putin, die Ukrainer werden sich mehr der Gemeinsamkeiten in ihrem Land bewußt. Die von Putin formulierten Gemeinsamkeiten wurden in der Vergangenheit und in der Gegenwart mit Zwang und Gewalt erzwungen.

3. In der Nähe der Pappel
Біля тополі
(Enej)

Sowohl Russen, Ukrainer als auch Weißrussen sind die Erben der alten Rus,
dem größten Staat Europas. Slawische und
andere Stämme in einem riesigen
Gebiet - von Ladoga,
Nowgorod, Pskow bis Kiew und Tschernigow - wurden
durch
eine Sprache (heute nennen wir es Altrussisch), wirtschaftliche
Beziehungen und die Macht der Fürsten der Rurik-Dynastie vereint.

Im Zivilrecht kann es schon mal 45 Jahre dauern, bis ein Rechtsspruch das Erbe verteilt. In der Geschichtspolitik muß man mit weitaus größeren Zeiträumen rechnen, wenn mehrere Staaten sich um das Erbe einer vergangenen Kultur streiten. Dies geschieht gleichermaßen in Russland und in der Ukraine. Beide beanspruchen die Kyiver Rus für sich, die im 10. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte.

Historisch ein fragwürdiger Versuch. Der moderne Begriff einer Nation entstand im 18. Jahrhundert, nachdem die göttliche bzw. kaiserliche Herrschaft immer weniger eine Legitimationsgrundlage für eine Gesellschaft sein konnte. Die Frage, ob die Kyiver Rus im Jahre 1000 Russisch, Ukrainisch oder Belarusisch oder alles zusammen war, ist daher ungefähr so bedeutsam wie die Frage, ob Karl der Große Deutscher, Franzose, Letzeburger oder Belgier war.

Eine einheitliche Ursprache anzunehmen, die in einer Art babylonischer Sprachverwirrung auseinanderging, ist ein gern genutzter christlicher Mythos oder wahlweise ein geschichtspolitischer Ansatz, der mit der historischen Realität nichts zu tun hat. Die im 19. und 20. Jahrhundert angenommene einheitliche Ursprache erweist sich immer mehr als unhaltbar. Sowohl in Kyiv, als auch in Novgorod zeigen historische Funde, selbst die normale örtliche Bevölkerung sprach und schrieb völlig anders als die herrschende Elite, die im gleichen Ort residierte. Ein in Westeuropa nicht unbekanntes Phänomen. Latein oder Französisch war in Klöstern oder an Höfen die bevorzugte Sprache. Zudem existierten damals zwei Schriftsprachen: Das Kirchenslawisch der Klöster und das Altrussische, in welchem die Chroniken verfasst wurden. Eine einheitliche Kirchensprache existierte im gleichen Zeitraum auch in Frankreich, Deutschland und Italien: Latein.

Neuere archäologische Funde auf Baumrinden legen nahe, es gab bereits im 13. Jahrhundert unterschiedliche Dialekte. Sie lassen ebenso die Schlussfolgerung zu, auf den heutigen Gebieten der Ukraine und in Belarus gab es bereits damals starke polnische Einflüsse. Die Expansion des Litauischen Reiches in Richtung Osten begann aber erst im 14. Jahrhundert.

Daher ist die Annahme einer slawischen Ursprache eine Fiktion. Die russische und die ukrainische Sprache liegen so weit auseinander wie die portugiesische und die französische Sprache. Kein Franzose käme je auf den Gedanken, daraus einen kulturellen Anspruch auf Portugal zu konstruieren. Ebenso ist die Existenz des Friesischen in Ostfriesland kein Argument dafür, es gäbe keine Niederländer. Putin kommt zu einem anderen Ergebnis. Er weiß, er wird viele in Westeuropa finden, die keine Ahnung von Osteuropa haben und ihm daher zustimmen werden. Kulturelle Ansprüche gepaart mit imperialistischen Gelüsten auf der einen Seite, Unkenntnis und Naivität auf der anderen Seite ist der perfekte Nährboden für Chaos und endlose Kriege. Zukünftige sprachwissenschaftliche Untersuchungen dürften ergeben, die belarusische und die ukrainische Sprache gehören zwar ebenso wie das Russische zum Sprachstamm der ostslawischen Sprachen, die Einflüsse der westslawischen Sprachen dürften aber größer sein, als es die derzeitige zu starre Kategorisierung annimmt.

Die Bezeichnung "Großrussen" für das heutige Russland entstammt übrigens dem Byzantinischen, die es aus der griechischen Sprache abgeleitet haben. Der russische Historiker Andrey Zubov verweist auf Dokumente des Patriarchats von Konstantinopel, in denen ab dem 14. Jahrhundert das Wort "Megalorossia" als Bezeichnung für den noch von den Mongolen besetzten Teil - dem heutigen Russland - zu finden ist. Dieser Begriff geht auf das antike Griechenland zurück. Mit Groß-Griechenland wurden die griechischen Kolonien wie zum Beispiel Sizilien, Süditalien und Küstenregionen außerhalb von Griechenland. Mit "Mikrorus" wurde der von der Tatarenherrschaft befreite Teil benannt - also aus der Sicht des Metropolititen das christliche Kernland.

Im 15. Jahrhundert wurde der Begriff "Rusynen" für die im polnisch-litauischen Reich lebenden Ukrainer genutzt. Für das damals russische Gebiet sprach man von den Moskovitern. Auch in den Werken von Taras Shevchenko liest man von Moskali, was zu seiner Zeit im Gegnsatz zu heute noch keine abschätzige Bedeutung hatte. Auch in Wörterbüchern der ukrainischen Sprache im 19. Jahrhundert wurde auf Kyrillisch das Wort "Rusinisch" mit einem s gedruckt. In Lviv findet man im Stadtzentrum die "Ruska vul.", was übersetzt Ruthenische oder Ukrainische Straße, aber keinesfalls Russische Straße bedeutet.

Putins Sicht auf die sprachliche Realität in der Ukraine ist die Perspektive eines Elfenbeinturmbewohners, der der Wirklichkeit entrückt ist. Fast alle ukrainischen Staatsbürger sprechen sowohl Ukrainisch und Russisch, die meisten unter 40 Jahre haben Englisch gelernt, nicht wenige sprechen noch eine weitere Sprache: Italienisch, Deutsch, Spanisch oder Portugiesisch. In Kyiv habe ich mich an einem Abend mit einem Ukrainer auf Niederländisch unterhalten. Er lebte nie in den Niederlanden, hatte aber geschäftlichen Kontakt dorthin und hatte deshalb auch diese Sprache gelernt. Wenn man so will, ist dieser Teil der pragmatisch denkenden Jugend noch weiter von Putins Weltbild entfernt als das eines ukrainischen Nationalisten, dessen provinzielles Denken Putins Nationalismus negiert und spiegelt. Durch die Spiegelgefechte der Vergangenheit, die die Diskussionen überlagern, wird kaum sichtbar, in Russland, in Belarus und in der Ukraine fordern weite Teile vor allem der jüngeren Gesellschaft das Ende der verknöcherten Gesellschaft der Silowiki, die den Alltag der Bürger bestimmen und die ihren Reichtum durch Korruption mehren. Das System Putin steht dafür. Kaum ein Jugendlicher will sich diktieren lassen, welche Musik er hören soll.

Russisch wird auch in der Zukunft in der Ukraine eine Rolle spielen. Als Geschäftssprache in osteuropäischen Regionen. Eine Identifikation über die Sprache zum russischen Staat gelang weder im russischen Zarenreich, noch in der Sowjetunion. Putin macht dafür die kommunistische Ideologie verantwortlich, die erst ein ukrainisches Nationalgefühl entwickelt haben soll. Die ukrainische Sprache und Geschichte wurde an ukrainischen Schulen gelehrt, worauf sich Putin bezieht. Allerdings erhielten Russischlehrer in der Ukraine in der UdSSR-Ära höhere Bezüge als ihre Kollegen, ob sie nun Geschichte, Mathematik oder Musik gelehrt haben.

Sollte jedoch die derzeitige Wagenburgmentalität noch über einen längeren Zeitraum anhalten, ist der Status des Russischen als Geschäftssprache gefährdet. Wenn Geschäftsverbindungen nach Russland uninteressanter werden, könnten in den kommenden Generationen andere Handelssprachen diesen Platz einnehmen. Insofern ist Putins imperialistisches Verständnis kurzfristig eine Gefahr für die Ukraine und andere Nachbarstaaten, die langfristigen Folgen könnten für Russland eine kulturelle und eine wirtschaftliche Isolation bedeuten.

4. Das Vermächtnis
Заповіт
(Taras Shevchenko)

Die Geschichte hat festgelegt, dass Moskau zum Zentrum der Wiedervereinigung
wurde, die die Tradition der alten russischen Staatlichkeit fortsetzte.

Das russische Zarenreich war ab dem 17. Jahrhundert ähnlich wie Frankreich oder Großbritannien bestrebt, neue Gebiete zu erobern. Auf dem Weg zum Pazifischen Ozean eroberten sie Gebiete mit Völkern, die so russisch waren wie die Deutschen ägyptische Wurzeln haben. Keine. Uzbekistan, der Kaukasus, das Kuban-Gebiet wurden erst nach der Eroberung durch den Zaren durch Russen besiedelt, das 1804 besetzte Finnland hatte ebensowenig russische Bewohner wie die seit Mitte des 17. Jahrhunderts besetzte Ukraine. Auf der Krym fand eine Ansiedlung von Russen in nennenswerter Zahl erst ab den 1860er Jahren statt. Es gab zwar eine russische Beamtensprache in Regionen mit einer nichtrussischsprachigen Mehrheit, aber erst mit dem Aufkommen moderner Kommunikationsmittel sowie einer Alphabetisierungskampagne lernten viele Meschen die russische Sprache. Das ist nicht einmal 100 Jahre her.

Am 1. Oktober 1653 beschloss diese oberste Volksvertretung des russischen Staates,
Glaubensgenossen zu unterstützen und unter
Schirmherrschaft zu nehmen.
Im Januar 1654 bestätigte der
Pereyaslav Rada diese Entscheidung. Dann besichtigten
die
Botschafter von B. Chmelnizki und Moskau Dutzende von Städten,
darunter Kiew, dessen Bewohner dem russischen Zaren einen Eid leisteten.

Putin spielt auf den Vertrag von Pereyaslav aus dem Jahre 1654 an, von dem der Wortlaut nicht überliefert ist, von dem das Original verschwand, der Mitte des 17. Jahrhunderts keinerlei Auswirkungen hatte und der von den Kosaken nicht als Unterwerfung oder Vereinigung mit Russland verstanden wurde. Auch der Zar dürfte nicht an eine Vereinigung russischer Völker gedacht haben. Bei Putins Geschichtslüge handelt es sich um einen ähnlich langlebigen Mythos wie den der Konstantinischen Schenkung. Von Seiten der Kosaken wurde der Vertrag vermutlich als Bündnis verstanden, der ihnen die Unabhängigkeit von Polen bringen sollte. Von einer Unterwerfung unter das noch absolutistischer regierte zaristische Russland hielt vermutlich kein Kosak etwas. Das mit den Kosakenaufständen unter dem polnischen Adeligen Bohdan Chmelnycki auch eine Unzahl von Pogromen gegen die Juden einherging, übergeht Putin interessanterweise.

Der Historiker Andreas Kappeler sieht in den Kosakenaufständen Mitte des 17. Jahrhunderts das Entstehen einer Proto-Nation. Damit stimmt er mit dem Selbstverständnis vieler Ukrainer überein. Mit dem klassischen Verständnis eines Nationalstaates wie es in den USA 1776 oder in Frankreich 1789 entstand, haben die Aufstände Mitte des 17. Jahrhunderts ebenso wenig zu tun wie mit dem absolutistisch regierten Zarenreich.

Das Selbstverständnis der Saporoger Kosaken basierte nicht auf Religion, sondern auf einen Freiheitsbegriff, der sich bis heute sowohl in der Ukraine, als auch in Russland als Klischeebild erhalten hat und in Ilya Repins Bild sowie in den Werken Taras Shevchenkos künstlerisch umgesetzt wurde.

Eine Zeile in Shevchenkos berühmtesten Gedicht.lautet: "doch bis dahin will von keinem Gott ich wissen". Auch Repins Gemälde "Brief der Saporoger Kosaken an den Sultan" aus dem Jahre 1891 zeigt den Idealtypus der ukrainische Kosaken. Natürlich ein Klischee, welches einer historischen Bewertung kaum standhalten kann. Aber auch Klischees haben eine Wirkung, die man in der Ukraine nicht unterschätzn sollte. Nebenbei bemerkt auch nicht in Teilen Russlands. In der Region rund um Rostov findet man bis heute Überreste dieser Kosakentradition, die sich diametral von der zaristischen Kosakentradition des 19. Jahrhunderts unterscheidet.

Ja, begrabt mich und erhebt euch,
Und zersprenget eure Ketten,
Und mit schlimmem Feindesblute
Möge sich die Freiheit röten!
Taras Shevchenko, Das Vermächtnis, 1854

Das Vermächtnis ist das letzte Gedicht des ukrainischen Schriftstellers Taras Shevchenko in der Sammlung "Drei Sommer", welches er 1854 zum 200sten Jahrestag vor Ort in Pereyaslav geschrieben hat. Nicht nur dieses Gedicht zeugt vom beginnenden Nationalbewußtsein der Ukrainer, welches einige Jahzehnte zuvor schon in den Werken Ivan Kotlarevskyj zum Ausdruck kam. Das Nationalbewußtsein der Ukrainer erwachte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im zaristischen Russland und im heutigen Osten der Ukraine.

Die Aufstände 1648 auf dem ukrainischen Gebiet hatten das Ende der Leibeigenschaft und die Einführung des Magdeburger Rechts gebracht. Beides sind Indizien für die unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung zwischen Russland und der Ukraine, die tiefgreifende Unterschiede zur Folge hatte, die bis in das 20. Jahrhundert reichten. Die sogenannte Russki Mir (das Wort mir kann man mit Weltall, Welt, Frieden und Dorfgemeinschaft übersetzen), die in der russischen Welt bereits seit dem 11. Jahrhundert nahezu konstant auch während der Mongolenherrschaft bestand, kannte einen nur dem Zaren verpflichtten Adeligen, der für den ländlichen Frieden verantwortlich war, das Recht sprach und das Land verteilte. Da nicht jeder Boden gleich gut für die Landwirtschaft geeignet ist, wurde in einer Versammlung das Land alle paar Jahre neu verteilt. Eine sozial gerechte Maßnahme, die aber zur Folge hatte, kein Bauer hatte Interesse daran, die Erträge des Bodens langfristig zu verbessern. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb es weitaus weniger Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft in russischen Dörfern gab und die Einführung von Kolchosen und Sovchosen auf ukrainischem Gebiet auf so großen Widerstand traf. Übrigens haben auch die jüdischen Kibbuze die Russki Mir zum Vorbild. Alexander Herzen hielt ähnlich wie viele russischen Sozialisten Ende des 19. Jahrhunderts für das sozial gerechteste Modell. Der Kampf der Bolschewiki unter Stalin gegen das Kosakentum war also nichts anderes als der Krieg gegen die besitzenden Bauern, von denen es auf dem Gebiet der heutigen Ukraine sehr viele gab. Als Kulak konnte man auch gelten, wenn man nur eine Kuh besaß.

Der rechtliche Sonderstatus endete für die Ukraine erst unter Katharina der Großen. Den Zaren als nahezu gottgleichen Herrscher zu betrachten entsprach nicht der ukrainischen Kultur. Der Hetman der Kosaken wurde per Wahl ernannt, indem die freien Kosaken ihren Hut vor einem Kandidaten legten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts findet man in den Werken von Ivan Kotlyarevsky und Vasily Kapnist eine Alternative zum zaristischen Absolutismus und orthodoxen Fundamentalismus. Viele Ukrainer begannen, sich als anders als die Russen zu verstehen.

Der bekannteste Vertreter der ukrainischen Kultur ist neben Mykola Hohol Taras Shevchenko. In Shevchenkos Gedicht "Vermächtnis" findet sich die Zeile, "will von keinem Gott ich wissen". Das von Putin beschworene gemeinsame religiöse Band zwischen Russen und Ukrainern funktionierte 1854 nur noch bedingt. Die Orthodoxe Staatskirche sorgte neben der Ochrana - der zaristischen Polizei - 20 Jahre später für die Umsetzung des Verbots der ukrainischen Sprache. Putin bezeichnet dieses Edikt als Fehler. Daraus gelernt hat er nicht. Auf der Krym und in dem besetzten Teil des Donbas ist die ukrainische Sprache zwar formal nicht verboten, wer dort jedoch Ukrainisch spricht, macht sich verdächtig. Das 2020 auf die Krym ausgedehnte Edikt, welches ukainische Staatsbürger auf der Krym enteignet, trägt Putins Unterschrift. Um ukrainischer Staatsbürger zu werden, mußte man 2014 die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft ausdrücklich widersprechen. Der damals bereits in Haft sitzende ukrainische Regisseur Oleh Sentsov bekam davon nichts mit und versäumte diese Frist.

4.1. Auswirkungen einer Fast-Food-Geschichtspolitik

Ausblendung von nicht passenden historischen Ereignissen ist keine Disziplin, die nur die Elite in Russland beherrscht. Putins Geschichtsbild ähnelt sehr dem des ukrainischen Geschichtspolitikers Viatrovych, der mit ebenso seltsamen Geschichtsbildern unter Aussparung wesentlicher Ereignisse glänzt. Beide Geschichtspolitiker argumentieren in einer sowjetischen Tradition. Bohdan Chmelnyckis Denkmäler wurden auch in der sowjetischen Zeit gepflegt, Gedenkmünzen und Orden wurden geprägt. Das Bündnis des Kozakenhetmans Ivan Mazepa mit den Schweden bei der Schlacht in Poltava 1709 wurde als Politik einer kleinen Clique gedeutet, die gegen den Willen der Bevölkerung gehandelt habe. Putin behauptet, die Bevölkerung hätte sich damals als Russisch empfunden. Zu einer Zeit, als es den Begriff einer Nation noch nicht gab. Die sowjetische Geschichtspolitik ging ähnlich vor. Die Motive dürften glech sein: Angst vor einem ukrainischen Staatsverständnis, welches der Kreml als Bedrohung empfindet. Der Schritt ist klein. Putin suggeriert mit diesen historischen Vergleichen, auch heute wünscht das ukrainische Volk nichts sehnlicher als eine Vereinigung mit Russland, was nur von einer kleinen Clique verhindert werde. Das ist zwar von der Realität Lichtjahre entfernt, was aber das geschichtspolitische Narrativ nicht stört.

In gewisser Hinsicht kann man Putin sogar zustimmen. Eine kleine Clique verhindert das friedliche Zusammenleben zwischen Russen, Ukrainern und Belarusen. Es ist die Kreml- und die Lukashenko-Clique. In Belarus vermag sich diese Clique nur noch mit massiver Wahlfälschung, täglicher Unterdrückung und Verbot nicht regierungstreuer Medien an der Macht zu halten, Putins Oligarchen-Clique gelingt dies mit Drohungen und etwas weniger repressiven Maßnamen als unter Lukashenko. Die 2016 geschaffene Nationalgarde, die nur dem Präsidenten unterstellt ist, erweitert aber die Möglichkeiten massiven Drucks gegen einen möglichen Volksaufstnd, den die Siloviki fürchten. Die besonders plumpe Kleptokratie von Janukovych wurde 2014 durch einen Volksaufstand beseititgt, eine tiefer greifende Veränderung verhinderte Russlands Krieg gegen die Ukraine und sicherte die Wahl Poroshenkos. Eine Schonfrist für die ukrainischen Oligarchen, die sich nie einig waren, deren Macht aber Jahr für Jahr zu schwinden scheint.

Es ist kein Zufall, Poroshenko inszenierte sich in dem Präsidentschaftswahlkampf 2019 als den großen Gegenspieler Putins. Wahlplakate suggerierten, sein Gegner bei der Wahl sei nicht Volodymyr Zelenskyj, sondern Putin. Auch das hatte eine religiöse Komponente. Poroshenko spiegelte Putin und beförderte eine eigenständige ukrainische Kirche. Was Putin und dem Metropoliten Kyrill I. nicht gefallen dürfte: Die Orthodoxe Welt sieht die ukrainische Kirche des Kyiver Patriarchats als Nachfolger der Kyiver Rus an, was kirchenhistorisch bei den Orthodoxen durchaus eine Bedeutung hat.

Sie treffen auch unsere spirituelle Einheit.Wie zu Zeiten des Großfürstentums
Litauen begannen sie mit einer neuen Kirchenabgrenzung.Ohne zu verbergen,
dass sie politische Ziele verfolgten, griffen die weltlichen Behörden grob in das
kirchliche Leben ein und brachten die Angelegenheit zur Spaltung, zur
Beschlagnahme von Kirchen und zur Prügelung von Priestern und Mönchen.
Selbst die weitgehende Autonomie der ukrainisch-orthodoxen Kirche bei
gleichzeitiger Wahrung der spirituellen Einheit mit dem Moskauer Patriarchat
passt ihnen kategorisch nicht.Sie müssen dieses sichtbare, jahrhundertealte
Symbol unserer Verwandtschaft zerstören.

Bei der orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchat handelt es sich um eine Staatskirche. Das Moskauer Patriarchat war schon in der Zarenzeit Bewahrer der russischen Einheit und Verteidiger des Kreml-Herrschers. Das von Putin beschworene religiöse Band mag existiert haben, aber die unter Peter I. 50 Jahre später eingeleitete Reform der orthodoxen Kirche wurde nahezu vollständig durch aus der Ukraine stammenden Geistlichen umgesetzt. Die letzten zwei Jahrhunderte der Zarenzeit war das Moskauer Patriarchat ein wirksamer Knüppel, um die Bevölkerung unter die Knute des Zaren zu bringen.

Putin argumentiert theologisch auf der Basis der Annahme, Moskau sei das Dritte Rom. Katholiken und Protestanten gelten als Häretiker. Die neue theologische Ideologie der Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats und des Kremls basiert auf Philotheus von Pskov (1465-1542), ein jahrhundertelang fast vergessener Geistlicher. Auch die Zeit beschäftigte sich in einem langen Artikel mit dem religiösen Imperialismus im heutigen Russland.

Die Realität in der Ukraine ist nicht von einer Religion geprägt. Eine einheitliche Staatskirche wünscht kaum ein ukrainischer Staatsbürger. Den starken Mann, den Poroshenko während der Wahl darstellen wollte, ist weder in seiner noch in Putins Person gewünscht. Das mag auch erklären, warum es in der Ukraine weder einer Regierung, noch einem Präsidenten gelingt, wiedergewählt zu werden. Janukovych hatte zum Zeitpunkt seiner Flucht in keinem Landesteil Anhänger. Der eigentliche Alptraum Putins ist in der Ukraine Realität. Der Wandel ist für ihn nicht beherrschbar. Janukovych war kein Statthalter Putins. Er suchte wie alle seine Vorgänger die Nähe zur NATO und zur EU. Erst als sein kleptokratisches System Ende 2013 nur noch durch Kredite von Russland finanzierbar war, galt er als Putins Mann in Kyiv, der er (ähnlich wie Lukashenka) eigentlich nie war. Janukovych war erpressbar, die Bevölkerung nicht. Der Maidan 2013/14 zeigte dies.

Poroshenko kam durch eine Wahl während eines beginnenden Krieges in das Präsidentenamt, welches durch eine Verfassungsreform nicht mehr die Macht besaß wie noch während der Präsidentschaft Janukovychs. Trotz aller Rhetorik und trotz aller Außendarstellung funktionierten weiterhin in reduzierter Form die verborgenen Kanäle der Zusammenarbeit. Sei es beim Ankauf von Anthrazitkohle aus dem Donbas, die als Kohle aus Südafrika deklariert wurde. Auch die Macht von Medvedchuk schwand nicht. Während der Präsidentschaft Poroshenkos war dieser einer der wichtigsten Unterhändler bei den Minsker Verhandlungen und konnte seine Stellung als Medienoligarch durch den Ankauf von TV-Kanälen sogar erweitern.

Die Wahl Zelenskyjs zum Präsidenten und seiner Partei zur stärksten Fraktion in der Verchovna Rada war eine weitere für Putin unkalkulierbare Reaktion der Ukrainer. Zelenskyj kann man vieles vorwerfen. Manches zurecht. Nationalistische Töne wie von Poroshenko waren jedoch weder im Wahlkampf noch danach zu vernehmen. Für Putin der größte anzunehmende Unfall für seine Politik der Dämonisierung und der geheimen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum Vorteil Einzelner. Zelenskyjs Wahlversprechen, mit Putin Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zu führen, erwiesen sich als Wolkenkuckucksheim, da dieser keinerlei Interesse an der Beendigung des Hybridkrieges im Donbas und an einer normalen Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit einem souveränen Nachbarstaat hat. Dafür antwortet Putin seit Ende letzten Jahres immer offener mit der Drohung, einen souveränen Staat Ukraine zu zerstören. Das konnte man im April beobachten, als eine militärische Bedrohung inszeniert wurde, das wird man im September erneut sehen, wenn das gemeinsame Manöver Zapad 2021 in Belarus sowie die Parlamentswahl in Russland stattfinden wird.

Eine überhebliche Sicht auf die geschichtspolitischen Ansichten Putins und Viatrovych aus deutscher Sicht ist angesichts unserer Geschichte fehl am Platz. Betrachtet man die Suche nach einer deutschen Kultur und Geschichte im 19. Jahrhundert, so schüttelt man heute angesichts des Hermanndenkmals und dem hergestellten Bezug auf den Germanen Arminius oder auch die Vereinnahmung des Frankenreiches nur noch den Kopf.

4.2. Expansion im Süden

Seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundert verfolgt Russland eine Politik der Umsiedlung und Vertreibung. Nach dem erfolglosen Krimkrieg begann die Regierung, starken Druck auf die Krimtataren auszuüben und beschuldigte sie wahllos der Zusammenarbeit mit den Türken, was zu einer großen Fluchtwelle der Krimtataren führte. In den 1860er Jahren überstieg die Zahl der ausgewanderten Krimtataren die Zahl der Tataren, die in ihrer Heimat blieben. Während es in den Jahrzehnten zuvor noch eine natürliche Zuwanderung von Ukrainern aus dem nahegelegenen ukranischen Festland gab, begann die Zahl der Russen aufgrund der Umsiedlungspolitik von Bauern aus Zentralrussland. Erst bei der Volkszählung 1901-1902 gab es mehr Russen als Krimtataren. Im Mai 1944 wurden innerhalb weniger Tage sämtliche noch auf der Krym verbliebenen Krymtataren nach Sibirien deportiert. Etwa 20 Prozent der Deportierten überlebte nicht einmal den Transport. Das die in der Zeit Katharina I. 1784 eroberte Krym ureigenstes russisches Gebiet ist, ist nichts anderes als ein propagandistisches Volksmärchen.

Vertreibungen von Bevölkerungsgruppe gab es im zaristichen Russland während des 19. Jahrhundert häufiger. Die Eroberung des Kaukasus im 19. Jahrhundert führte in den 1860er Jahren zu der fast vollständigen Vernichtung der Cherkassen. Die Kriege gegen Chechenien unter Jelzin und Putin haben ihren Ursprung ebenfalls im 19. Jahrhundert.

Die Integration westrussischer Länder in einen gemeinsamen Staatsraum
war nicht nur das Ergebnis politischer und diplomatischer Entscheidungen.
Sie fand auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens und der kulturellen
Traditionen statt. Und wieder werde ich besonders erwähnen - sprachliche Affinität.

Vor der Besetzung durch die Bolschewiki in den Jahren 1919-1920 war die Ukraine 200.000 Quadratkilometer größer als am Ende der sowjetischen Ära. Zum ukrainischen Siedlungsgebiet gehörte das heutige Belgorod, der westliche Teil der Regionen Kursk und Voronesch. Wer eine Föderalisierung des Reiches oder einer Abspaltung von Russland forderte, galt bis 1905 als Staatsverbrecher. Seit Dezember 2013 - kurz vor der Annexion der Krym -wurde dieser Passus wieder in die russische Gesetzgebung aufgenommen.

Ich werde nichts idealisieren. Bekannt sind sowohl das Valuevsky-Rundschreiben
von 1863 als auch das Emser-Gesetz von 1876, das die Veröffentlichung und den
Import religiöser und gesellschaftspolitischer Literatur in ukrainischer Sprache
aus dem Ausland einschränkte. Aber der historische Kontext ist hier wichtig.
Diese Entscheidungen wurden vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse
in Polen getroffen, dem Wunsch der Führer der polnischen Nationalbewegung,
die "ukrainische Frage" im eigenen Interesse zu nutzen.

Nur zur Erinnerung. Ein polnischer Staat existierte 1863 dank der vollständigen Aufteilung Polens Ende des 18. Jahrhunderts durch Preußen und Russland nicht. Der November-Aufstand 1830 in Polen war ein Volksaufstand gegen die Fremdherrschaft durch das russische Zarenreich, der größere Auswirkungen auch auf die deutsche Revolution 1848 hatte.

Putin erwähnt das Emser Gesetz, welches die ukrainische Sprache im Alltag verbot, verschweigt aber den beginnenden ukranischen Nationalismus, der im Osten der Ukraine seinen Ursprung nahm und der über Poltava in den Habsburger Westen der Ukraine kam. Die in Habsburg lebenden Ukrainer stellten dank literarischen Werke der Nationaldichter Kotlarevskyj und Shevchenko fest, die Landsleute im Osten sprechen fast die gleiche Sprache wie sie selbst. Ein Beleg dafür, in der Ukraine gab es bereits im 19. Jahrhundert eine kulturelle Eigenständigkeit der Ukrainer. Der Emser Erlass aus dem Jahre 1876, der unter anderem die ukrainische Sprache verbot, war ein Ausdruck der Furcht des Zaren Alexander II., das russische Reich könnte durch die Forderung der vielen Völker nach Eigenständigkeit zerfallen.

5. Ein ungleicher Kampf um den Dnipro
(Над Дніпром нерівний бій)
(Ukrainisches Volkslied)

Diejenigen, die die Ukraine heute vollständig unter externe Kontrolle
stellten, sollten bedenken, dass sich eine solche Entscheidung 1918 für
das herrschende Regime in Kiew als fatal herausstellte.

In diesem Satz spiegelt sich Putins Weltbild sehr gut. Für ihn existiert Moskau, der Kreml und Russland. Die restliche Welt wird unter dem Begiff "ausländische Mächte" zusammengefasst.

Die eigentlichen Kernereignisse am Ende des russischen Zarenreiches waren die Revolutionen von 1905 und die Märzrevolution im Februar 1917. 1905 erodierte die absolutistische Macht des Zaren. Das verdeutlichte der Petersburger Blutsonntag. Der Zar als Beschützer und Hüter des Volkes hatte seine Legitimation verloen, als er auf die von dem Popen Georgi Gapon angeführten Demonstrationszug von Bittstellern schießen ließ. Reformen unter Stolypin, das Wirken des Fürsten Lwow waren zum Teil naive Versuche, eine hoffnungslos rückständige Gesellschaft verändern und reformieren zu wollen. Sie kamen nur halbherzig und zu spät.

Die Revolution im Februar 1917 während des 1. Weltkrieges ließ im russichen Vielvölkerstaat ein Machtvakuum entstehen. Finnland, Polen und den Balten gelang es, sich aus dem Vielvölkerstaat unter dem Zaren zu lösen und sie erlangten (zumindest zeitweise) die Unabhängigkeit. In Belarus gab es zarte Versuche, ebenfalls einen eigenen Staat zu gründen, der zwischen die Mühlsteine der Geschichte pulverisiert wurde. Ähnlich erging es den Georgiern.

Die Situation in der Ukraine war weitaus komplizierter. Der westliche Teil war bis 1918 Teil des Habsburger Reiches und wurde zwischen Polen, Rumänien und Ungarn aufgeteilt. Der östliche Teil fiel nach einem zermürbenden Erschöpfungskrieg an die UdSSR.

Was Putin in dürren Worten beschreibt, ist eine Simplifizierung für schliche Gemüter. Die Wirklichkeit war derartig komplex, sie fand bis heute keine umfassende historische Arbeit, die die Ereignisse eines Bürgerkrieges wissenschaftlich zusammenzutragen in der Lage ist. Petljura war einer der vielen Akteure, seine Macht reichte aber zum Teil nicht einmal über die Haustür seines Präsidentenamtes hinaus. Die Macht kam aus den Gewehrläufen. Sein sehr liberales Gesetz über die Juden scheiterte am Antisemitismus einer militärischen Einheiten, die unzuverlässig kämpften. Die Weiße Armee war ebenso auf dem Gebiet der Ukraine aktiv wie viele auf eigene Rechnung kämpfenden Banden. Manche kennen im Westen vielleicht noch die Grüne Armee von Nestor Machno, die im Osten der Ukraine bis heute ihre Verehrer findet. Machno verbündete sich zeitweise mit der Roten Armee, zeitweise bekämpfte er sie. Im Westen wird Machno von einigen als Idealtypus des Anarchisten bewundert. Der bäuerliche Anarchismus Machnos hat jedoch kaum etwas mit dem westlichen Verständnis von Anarchismsus gemeinsam.

Putins These lässt sich vereinfacht mit den Worten zusammenfassen, hätten sich die Ukrainer damals bedingungslos dem Willen des Kremls unterworfen, wäre es ihnen besser ergangen. Die Realität in der damaligen Zeit war aber, in einer Stadt wie Dnipro wechselten die Machthaber zum Teil mehrmals am Tag. Die jeweiligen Besatzer bezogen ihre Legitimation aus dem russischen Zarenreich oder aus der russischen Sowjetrepublik. Auf ukrainischer Seite findet sich der eher demokratische aber machtlose Petljura, zuvor das fast ständisch und an Dollfuß in Österreich erinnerndende Hetmanat unter Pavlo Skoropadskyi und Machnos bäuerlich-anarchistische Sozialromantik. Hinzu kamen die leninschen Bolschewiki unterstützenden und eher elitären Kommunisten sowie politisch bedeutungslose Linke, die ähnlich wie die Menschewiki ab 1918 einen massiven Bedeutungsverlust hatten. Begleitend dazu führten die Polen einen Befreiungskrieg zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit gegen die Rote Armee, der hauptsächlich auf ukrainischem Boden stattfand. Die damalige Situation ist mit dem Begriff unübersichtlich noch sehr wohlwollend umschrieben. Eroberten die Bolschwiki Kyiv, so galten all diejenigen, die Ukrainisch oder Jiddisch sprachen, als verdächtig und wurden oft genug ermordet. Natürlich stand dies im eklatanten Widerspruch zum Schlusswort Lenins zum Bericht über das Parteiprogramm im Jahre 1919. Als die Bolschewiki sich in Poltava endgültig etablieren konnten, wurde das damalige Armenhaus - ein duch die Spende eines Adeligen entstandenen repräsentativen Bauwerks - von dem Parteisekretär der Bolschewiki als Privatwohnung ausgewählt. Da es in der Sowjetrepublik keine Armen mehr gab, wurden die Bewohner vertrieben und der neue Machthaber zog ein. Zeitgleich herrschte eine verheerende Hungersnot in der Sowjetunion.

Putins Simplifizierung wird der historischen Wirklichkeit zu keinem Zeitpunkt gerecht. Sie ist nichts anderes als das System Metternichs, welches die Bewahrung überkommener Strukturen zum Ziel hat. Ein in der Historie immer wieder dankbar angenommes Angebot. Habsburg war 1848 zu schwach, den Aufstand der Ungarn zu bekämpfen. In den Museen im ukrainischen Uzhhorod und Mukacheve findet man mehr als genügend Dokumente dafür, wie zaristische Truppen halfen, den ungarischen Aufstand niederzuschlagen. Die einfachen Soldaten des Zarenreiches verstanden nicht, wofür sie kämpften. Das war 1956 bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes nicht viel anders.

1917 begannen nationalukrainische Kräfte bereits eine Woche nach der Februarrevolution zunächst, eine autonome Republik innerhalb eines föderalen Russlands zu fordern. Nachdem die provisorische Regierung unter Alexander Kerensky dieses unter Verweis auf das brüderliche Verhältnis beider Völker ablehnte, schlossen sich immer mehr soziale Schichten in der Ukraine den Bestrebungen nach einer nationalen Unabhängigkeit an. Nachdem Streitkräfte der Bolschewiki in die Zentralukraine einrückten, erklärte man am 12. (25.) Januar 1918 die Unabhängigkeit.

5.1. Europa schwieg ...
(Європа мовчала)
Oleksandr Ores, 1931

In den 1920er und 1930er Jahren förderten die Bolschewiki aktiv die Politik der
"Indigenousization", die in der ukrainischen SSR als Ukrainisierung betrieben wurde.

Die Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre in der Sowjetunion zeichnete sich durch eine Gleichberechtigung zwischen allen Nationen der Sowjetrepublik aus und wurde Korenisazija genannt. Bis dato waren fast ausschließlich Russen in Führungspositionen zu finden. Es wurde manchmal nur mit mäßigem Erfolg versucht, nationale Künste und Sprachen zu fördern. Das erklärte Ziel der frühen Bolschewiki war es, den "großrussischen Chauvisnismus" zu bekämpfen.

Kratze manch einen Kommunisten, und du wirst auf einen großrussischen
Chauvinisten stoßen. [...] Ganz besonders vorsichtig muß eine
Nation wie die Großrussen sein, die in allen anderen Nationen
erbitterten Haß gegen sich geweckt hat. [...]

Er steckt in vielen von uns und ihn muß man bekämpfen.
Vladimir Iljich Lenin, 19. März 1919
Schlusswort zum Bericht über das Parteiprogramm (deutsch)

Es erstaunt, bis zu Putin ist Lenins Erkenntnis nicht durchgedrungen. Im Gegenteil. Sie wiederholt sich, wenn Aleksandr Dugin davon spricht, Europa erobern, eingliedern und anschließen zu wollen. Lenins Rede im März 1919 klingt noch heute aktuell und würde von vielen wohl als "russophob" bezeichnet werden.

Wie Putin darauf kommt, die Ukrainisierung wäre auch noch in den 1930er Jahren betrieben worden, entzieht sich meiner Kenntnis. Sie widerspricht allen historischen Erkenntnissen. Ab 1928 begann die Sowjetmacht damit, systematisch mit dem Argument der "nationalen Abweichung" die Parteiorgane zu säubern. Im Dezember 1929 wurden 700 Personen unter dem Vorwurf der Konterrevolution und des Separatismus verhaftet.

In stalinistischen Zeiten wurde die nationale Kunst als Konterrevolutionär betrachtet.
Warum? Sie ist durchsetzt mit Religion und alter Kunst. Und alles Religiöse sollte
laut Stalin mit den Wurzeln ausgerissen werden. Ich hoffe, dass jemand diese Geschichte verbreitet, wie unsere einheimische Kunst in den 20er und 30er Jahren für immer
zerstört wurde, weil sie mündlich überliefert war. Wenn man Volkssänger und
wandernde Geschichtenerzähler erschießt, hunderte von historischen Werken
werden für immer mit ihnen sterben, da sie nie aufgeschrieben wurden.
Dmitri Shostakovich, Memoiren

1931 wurden etwa 75% der Wissenschaftler und Künstler westlich von Kyiv verhaftet, im Dezember 1932 wurde ein Kongress aller Kobzari in Kharkiv einberufen. Der Kongress fand nie statt. Sämtliche Kobzari wurden ermordet. Im Herbst 1932 wurde die Grenze zwischen der Russischen und der Ukrainischen SSR auf Anordnung von Stalin geschlossen. Der Holodomor, der sehr wohl zum Ziel hatte, andere Völker wie die Ukrainer oder die Kazachen zu brechen, begann. Von einer Ukrainisierung kann ab 1929 keine Rede mehr sein. Auch beim namentlich erwähnten ukrainischen Historiker Mykhailo Hrushevsky erwähnt Putin nicht die Repressalien, denen Hrushevsky ab 1928 ausgesetzt war, die 1931 zu seiner Verbannung nach Moskau führte, wo er 1934 starb.

Wenn die Ukraine für das Recht auf Leben ist
Sie kämpfte mit den Henkern, erschöpft ohne Kraft,
Und wartete nur auf Sympathie,
Europa schwieg, Europa schwieg ...
(Oleksandr Oles, 1931[!])

Das Gedicht entstand vor dem Holodomor 1933/34, der mittlerweile langsam in das Bewußtsein der Menschen im Westen kommt. Europa schwieg auch 1933 und 1934 zu dieser Hungersnot. Berichte darüber stießen auf fast keine Resonanz in den westlichen Staaten. Mit Putins Worten ausgedrückt: Stalin ließ die "Erfindung Ukraine" verhungern und beerdigen. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Ausgerechnet bei den Faschisten fand dieser Völkermord eine gewisse Aufmerksamkeit, was die anschließende Nähe mancher ukrainischen Nationalisten zu den deutschen Nationalsozialisten erklären, jedoch nicht rechtfertigen kann.

5.2. Molotov-Ribbentrop-Pakt

1939 wurden die zuvor von Polen beschlagnahmten Ländereien an die UdSSR zurückgegeben.

Was Putin als von Polen beschlagnahmte Ländereien bezeichnet, ist das Ergebnis des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. August 1939 sowie des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vom 28. September 1939. Putin wählt das friedlich klingende Wort "zurückgegeben". In den Worten des damaligen Außenministers der UdSSR klang die Rückgabe martialischer:

Die herrschenden Kreise Polens brüsteten sich nicht wenig mit der ‚Stabilität‘
ihres Staates und der‚Macht‘ ihrer Armee. Es genügte jedoch ein kurzer Schlag
gegen Polen, geführt zunächst von der deutschen Armee und danach von der
Roten Armee, damit von diesem missgestalteten Geschöpf des Versailler
Vertrages, das von der Unterjochung der nichtpolnischen Nationalitäten lebte,
nichts übrig blieb.
Vjacheslav Molotov, 31. Oktober 1939, Rede vor dem Obersten Sowjet

Das anschließend die gewaltsame Unterjochung der Polen begann, weiß man spätestens seit dem Massaker von Katyn, als das Deutsche Reich und die Sowjetunion gemeinsam die polnische Elite auslöschte. Das sich die Lager mit Polen, Ukrainern und durchaus auch Juden füllten, erwähnt Putin nicht. Nach der Annexion der Nordbukowina wurden 3000 Juden aus Chernivtsi (Czernowitz) in sibirische Lager deportiert.

Auch Lukashenka besinnt sich auf den 2. Weltkrieg. Der 17. September 1939, an dem die Sowjetunion gemäß der Vereinbarung des Molotov-Ribbentrop-Paktes in Polen einmarschierte, ist in diesem Jahr zum Nationalfeiertag in Belarus erklärt worden.

6. Noch ist die Ukraine nicht gestorben
(Ще не вмерла Україна)
(Ukrainische Hymne)

Möchten Sie Ihren eigenen Staat erstellen? Bitte schön! Aber zu welchen Bedingungen? [...]
Die Republiken, die die Gründer der Union sind, sollten nach der Annullierung des
Vertrags
von 1922 zu den Grenzen zurückkehren, in denen sie Union beigetreten.
Alle anderen
Gebietserwerbe sind Gegenstand von Diskussionen,
Verhandlungen, weil die Grundlage gestrichen wurde.

Über diesen Passus schmunzeln viele Ukrainer. Unfaßten die Grenzen von 1922 das nach der Volkszählung in Taganrog 1897 mehrheitlich von Ukrainern bewohnte Gebiet Landstriche, die heute zu Russland gehören. Die kurzlebige Volksrepublik Ukraine, die damals auch in der Kuban Region umfaßte, entsprach damals dem ukrainischen Siedlungsgebiet, wobei im Kuban-Gebiet nach der Vertreibung der Cherkassen erst ab 1864 ukrainische Bauern in diesem Gebiet angesiedelt wurden.

Die Ukrainer entschieden sich am 1. Dezember 1991 in einem Referendum mit 92,26% für einen unabhängigen Staat, der nur einen Tag später von Russland, Polen und Kanada anerkannt wurde. Damit wurde die Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991 per Volksentscheid eindeutig bestätigt. Mitglied der UN war die Ukraine bereits (wie auch Belarus) als Gründungsmitglied seit dem 24. Oktober 1945.

Dementsprechend möchten die Ukrainer keinen eigenen Staat erstellen, sie haben es vor 30 Jahren nach mehreren Anläufen erfolgreich getan. Sie taten es unter den Bedingungen, die die Ukrainer selbst wollen und bekräftigten dies mit einem Referendum, welches als frei und fair gilt. Souveräne Staaten treffen souveräne Entscheidungen. Wie es vertraglich in diversen Verträgen zugesichert ist.

6.1. Erinnern wir uns jetzt an all die Strapazen
(Згадаймо нині всі тяжкії муки)
Lesya Ukrainka

Sitzt man mit älteren Ukrainern zusammen, die zum Beispiel in Chernivtsi und in Poltava in der UdSSR-Zeit zur Schule gegangen sind, erlebt man einige Überraschungen. Der Geschichtsunterricht war in der Schule sehr unterschiedlich. Wer wie Karl Schlögel noch im April 2014 das mittlerweile geplünderte und zum Teil zerstörte Heimatmuseum in Donezk besucht hat, erfährt viel über die Geschichte des Donbas. Das Heimatmuseum in Chernivtsi vermag einen schwachen Eindruck darüber zu vermitteln, was dem Besucher in Donezk in einer Bergbauregion geboten wurde. In Chernivtsi sieht man in einem Raum das für Kaiser Franz Joseph geschnitzte Bett, in dem er nie übernachtet hat, weil der geplante Besuch ausgefallen ist. Im gleichen Raum ist ein Schreibtisch mit Lenin auf Furnierholz aus dem Jahre 1967 und ein bestickter Schrank aus der Stalinzeit zu sehen. Die Nachkriegszeit ab 1918 findet in einem anderen Raum Platz. Deutschsprachige Zeitungen des Vorwärts und deutschprachige Streikaufrufe sind auch zu sehen. Der Schüler im Chernivtsi lernte dies, hörte im Unterricht von Rumänien und den bedeutenden Einfluß der moldawischen Geschichte auf seine Region, der Schüler aus Poltava hat nie etwas davon gehört. Der wissende Deutsche diagnostiziert: Chernivtsi - Westukraine - Bandera. Bandera, die OUN und die UPA spielte in Chernivtsi und in Poltava eine ebenso große Rolle wie in Pieter (St. Petersburg). Was für ein geschichtspolitisches Weltbild unerheblich ist.

Lass uns Sklaven sein, Sklaven zum Verkauf,
Ohne Scham, ohne Ehre - lass es so sein!
Lesya Ukrainka

Die Frage, lohnt es sich, Putins Artikel zu lesen, beantwortet die ukrainische Onlinezeitung Zaxid: Putins Thesen seien zwar voller Lügen und Manipulationen, befürchtet jedoch auch, der Westen betrachte "seit Gorbachovs Zeit Russland mit Hoffnung" und hege seitdem seltsame Illusionen über dieses Land.

Putin hat die Krim erobert. Er hat mit Hilfe des ehemaligen Präsidentenberaters Vladislav Surkov im Donbas einen militärischen Konflikt geschaffen und muss sich erklären. Wie kann man sich rechtfertigen, wenn es ein international anerkanntes Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen gibt? Daher rührt Putins Position: Die Ukraine ist kein so vollwertiger Staat, wie Sie denken. Putins Reden und Handeln erinnern an einen Herrscher, der ein Lehen verteilt hat und nun feststellt, der Begünstigte erweist sich als der Gnade unwürdig.

7. Gibt es Putin - gibt es Russland, Gibt es keinen Putin - gibt es kein Russland
(Duma-Sprecher Vyacheslav Volodin, 2014)

Kulturautonomie ist das Recht, den Willen des Kreml auch in der eigenen Sprache zu sagen.
Witz in der UdSSR-Zeit

Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob der 2016 zum Duma-Sprecher ernannte Putin-Anhänger Vyacheslav Volodin das berühmte Zitat von Rudolf Hess kannte, der in einer Rede sagte, Hitler sei Deutschland und Deutschland sei Hitler. Die Fixierung Russlands auf den allgegenwärtigen Putin mutet verstörend an, ist aber in den staatlichen Medien normaler Alltag.

Interessant ist die Ähnlichkeit zwischen der AfD und Putins historischen Betrachtungen. Parallelen gibt es nicht nur zum Opfermythos der AfD. Das scheinbar merkwürdige Bündnis basiert auf eine Idealisierung des 19. Jahrhunderts. Gauland schrieb ein Buch und viele Artikel über Bismarck und stellte 2013 im Namen der AfD ein außenpolitisches Thesenpapier vor. Der russische Historiker Ivan Kurilla zieht bei Putin Parallelen zu den sieben "düsteren Jahren" Nikolaj I. zwischen 1848 und 1855: "Innenpolitisch wurde alles erstickt. Auch den leisesten Wunsch nach Unabhängigkeit empfand man als Bedrohung". Das europäischen Revolutionsjahr 1848 in Italien, Frankreich, Deutschland und in Österreich-Ungarn veranlasste Nikolaj I. zu einem harten Kurs der Unterdrückung. Zudem sah er die Ergebnisse des Wiener Kongresses 1815 gefährdet, die die alte Ordnung in Europa zementieren sollte. Bereitwillig half er den Habsbugern 1848 mit zaristischen Truppen aus, die den Aufstand in Ungarn blutig niederschlugen.

Nikolaj I. verhalf somit dem 18jährigen Kaiser Franz-Joseph zur Macht, der die Reformen zurücknahm und das Land zunächt zentralistisch und absolutistisch regierte. Putin greift zu den gleichen Mitteln des Machterhalts: Unterstützung Gleichgesinnter im Ausland und Unterdrückung abweichender Ideen im eigenen Staat.

Der außenpolitische Kurs von Nikolaj I. und von Putin weist große Ähnlichkeiten auf. Putin bedient sich ähnlicher Herrschaftsinstrumente: Einschüchterung im Inneren und Beistand für Gleichgesinnte im Ausland. Es ist vom dreieinigen russischen Volk die Rede und der Panslawismus in seiner konservativen Form des 19. Jahrhunderts feiert seine Wiederauferstehung. Die Einschüchterung der Opposition durch das Regime Putin ist nicht so weitreichend wie in Belarus. Mit der Schaffung einer nur dem Präsidenten unterstellten Nationalgarde besitzt Putin seit 2016 ein weiteres Mittel, befürchtete Unruhen mit Hilfe von 340000 Nationalgardisten niederschlagen zu können. Bislang reicht das Mittel der Einschüchterung und der systematische Entzug von Finanzmitteln sowie die zum Teil willkürlich erscheinende Verhaftung und Verurteilung von Oppositionellen.

Nikolaj I. unterstützte das Haus Habsburg, um einen separatistischen Aufstand in Ungarn zu unterdrücken, der dazu führte, Kaiser Franz-Joseph I. bestieg als 18jähriger in Wien den Thron. Dieser nahm Reformen zurück und regierte Österreich-Ungarn zentralistisch

Es gibt einige interessante Parallelen zwischen dem Krymkrieg 1853-56 und der Annexion der Krym 2014. Nikolaj I. vertraute auf die militärische und wirtschaftliche Schwäche des Osmanischen Reiches und hoffte auf einen leichten Sieg.

Der Krymkrieg im 19.Jahrhundert hatte auch eine religiöse Ursache. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der orthodoxen Pilger in Jerusalem zu, was zu religiösen Streitigkeiten zwischen Orthodoxen und den Katholiken in den Pilgerstätten Jerusalems führte.

Was das russische politische institutionelle System angeht, so ist es – ähnlich wie die
Zielsysteme russischer Politik – geprägt von Hierarchie. Die aktuelle Struktur ermöglicht
dem
Präsidenten, die wesentlichen Ziele vorzugeben und sie in persönlichen
Entscheidungen
durchzusetzen. Daher waren potentiell störende Entwicklungen in
Parlament und Regionen zu
stoppen. Auch das ist Putin während seiner
Präsidentschaft gelungen.
Insofern kann russische Energiepolitik als durchaus transparent,
aber anderen
Gesetzmäßigkeiten folgend als in Europa, angesehen werden.
Stefan Liebig, Energiepolitik in der EU und Russland

Eine immer wiederkehrende Behauptung ist es, Russlands Belange würden nicht ausreichend berücksichtigt. 2015 schrieb Fabian Burkhardt über das Ergebnis einer Untersuchung: Die Ukraine-Krise in den deutschen Talkshows. Betrachtet man die deutschen Talkshows, so haben viele staatliche Vertreter Russlands ebenso wie die Vertreter staatlicher russischer Medien die Möglichkeit, über die Ukraine zu sprechen. Staatliche ukrainische Vertreter wie den Botschafter sieht man selten, ukrainische Journalisten oder andere in der Ukraine lebenden Menschen kommen so gut wie überhaupt nicht vor. Die ehemalige Piraten-Politikerin Marina Weissband, die nie in der Ukraine lebte oder der Musiker und DJ Yuryj Ghurzy, der seit Anfang der 1990er in Berlin lebt, konnte man gelegentlich sehen. Was zum sattsam bekannten Ritual in deutschen Talkshows führte. Einen tieferen Einblick sollte man nicht erwarten. Dafür wird der Austausch von Platitüden erfüllt.

Putins Schlußfolgerung ist nicht neu. Der Kreml konnte sich in der Vergangenheit öfter darauf verlassen, deutsche Herrscher und Politiker fokussieren sich in der Ostpolitik auf den Kreml.

Geschichte wie­der­holt sich nicht, doch sie schreibt sich fort. Ost­eu­ropa
ist in der Gegen­wart – wie im 19. Jahr­hun­dert – der Raum zwi­schen
Deutsch­land und Russ­land. Seit 1989 herrscht hier wieder eine
natio­nal­staat­li­che Ordnung, ein Wil­son­sches System sou­ve­rä­ner Natio­nen,
das aller­dings nur teil­weise durch NATO und Euro­päi­sche Union
abge­si­chert wird. Die Ukraine liegt in der Grau­zone zwi­schen dem
west­li­chen Bünd­nis­sys­tem und einem revi­sio­nis­ti­schen Russ­land,
das die frühere Sowjet­union als Ein­fluss­zone bean­sprucht –
ein­schließ­lich „Inter­ven­ti­ons­ver­bot für raum­fremde Mächte“ (Carl Schmitt).
Jan Claas Behrends

Russlands Geschichtspolitik wirkt wie ein Rückstoß auf die Breschnew-Doktrin, wirtschaftlich flankiert durch die Demonstration der Marktmacht Gazproms in Europa. Martin Schulze Wessel weist auf die umfas­sende Deu­tungs­ho­heit hin, die Putin auf dem Feld der Geschichte erhebt, während die FAZ Russland wie im Hospiz wähnt. Putins Reden und Handlungen gegen die Ukraine haben Züge einer Obsession. Die Gefahr ist groß, diese Geschichtspolitik Putins kann zu einem großen Krieg Russlands gegen die Ukraine führen. Die Ukrainer dürften eine Einverleibung ihres Staates mit lang anhaltemdem gewaltsamen Widerstand beantworten.

Weiterführende Links und Hinweise

Vorträge und Artikel

Andreas Kappeler - "Die Großrussen und die Kleinrussen" (Video)
Walter Mossmann - Lwiw (Lemberg) - Geöffnete Stadt (Video)
Frithjof Benjamin Schenk - Das Denkmal für Fürst Wladimir - Ein Heiliger des Mittelalters als Rechtfertigung der Krim-Angliederung. Wie Moskau die Zusammengehörigkeit von Russen, Ukrainern und Belarussen konstruiert.
Irina Sherbakova & Karl Schlögel - Der Russland-Reflex (Video)
Karl Schlögel - Sich selbst ein Bild machen
Karl Schlögel - Putins Russland (Video)
Karl Schlögel - Russland-Versteher – Wenn es doch welche gäbe! (Video)
Steinwallen – Games & History - Über die Ukraine und die Ukrainer - Oder: Was ist eigentlich eine Ethnie? (Video)
Oleksandr Sushko - Sich darauf einigen, uneinig zu sein

Literatur

Andreas Kappeler - Kleine Geschichte der Ukraine. Beck, München 1994, 5., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2019
Andreas Kappeler - Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Beck, München 2017
Karl Schlögel - Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Hanser, München 2015

Alle nicht gekennzeichneten Zitate stammen aus dem Artikel "Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern" von Vladimir Putin.

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