Vom Geschmack aller Dinge

Esskultur J. Ryan Stradals unterhaltsamer Erstling verknüpft auf eigenwillige Weise Charakterzeichnung und kulinarische Begeisterung
Ausgabe 34/2016

Das Debüt des bisher hauptsächlich als Printredakteur und Fernsehautor tätigen J. Ryan Stradal ist zunächst einmal eine kulinarische Reise durch dessen Heimatregion, eben durch und in Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens. Hierbei entfaltet sich nicht nur ein wunderbares Panorama, bestehend aus Lokalkolorit und (auch familiären) Traditionen – mit Szenen wie beispielsweise todernsten Backwettbewerben in lutherischen Glaubenshäusern oder Teenagern, die zur Herstellung übelriechender Fischspezialitäten skandinavischer Provenienz gezwungen werden – sondern zugleich auch eine Chronik der Foodie-Kultur, welche in dieser Gegend der Vereinigten Staaten eine besonders große Rolle spielt. Und ganz am Ende geht es dabei natürlich um die fundamentale Wechselwirkung von Essen, Familie und den wichtigsten Momenten in unseren Leben.

Zentraler Charakter des in den USA äußerst erfolgreichen Romans ist Eva Thorvald, eine vom Thema „Food“ in gewisser Weise verfolgte junge Frau, die sich völlig ungeplant zu Amerikas berühmtester Köchin entwickelt. Dieser recht ungewöhnliche Weg wird in einer Abfolge von acht miteinander verbundenen Geschichten durch die jeweiligen Perspektiven verschiedener Figuren geschildert. Evas Rolle verändert sich dabei, je nachdem wer gerade welche Episode erzählt. Einmal ist sie das Objekt großer Liebe, ein anderes Mal großer Verachtung oder auch Heldinnenverehrung.

Im ersten Kapitel beispielsweise verbringt ihr Vater, ein vom Pech verfolgter, aber durch sein kulinarisches Schaffen legendär gewordener Kleinstadt-Koch, die Wochen vor Evas Geburt damit, eine Menüabfolge für ihre ersten Monate zu planen – um mit Gerichten wie püriertem Pulled Pork oder Oliventapenade bereits frühstmöglich den Gaumen der Neugeborenen zu verwöhnen und zugleich zu schulen. Leider entwickelt sich das Familienidyll recht bald in eine ziemliche Katastrophe, die Eva elternlos zurücklässt.

Und so treffen wir im nächsten Kapitel auf eine Eva, die bei armen, aber liebevollen Verwandten in Iowa zu einem altklugen Teenager herangewachsen ist, ohne sich ihrer wirklichen Eltern und deren früher Foodie-Prägung bewusst zu sein. Vielmehr züchtet sie in ihrem Zimmer Chilischoten, um sich mit deren Effekt auf ihre Geschmacksknospen von ihren Ängsten abzulenken. Gleichzeitig führt dies aber auch zu ihrem ersten Job in der Gastronomie, für den sie ein lokales mexikanisches Etablissement mit Chilipuder und -öl beliefert.

Das Folgende zeigt sich als eine bittersüße Coming-of-age-Geschichte, an deren Ende Eva zur Gastgeberin von Amerikas exklusivstem Supper Club geworden ist – mit einem Eintrittspreis von 5000 Dollar pro Person und einer Warteliste von 295(!) Jahren. Entlang dieses Weges wird der leichte Ton der ersten Kapitel ein wenig dunkler, denn schließlich sind es nicht unbedingt nur die positiven Erfahrungen, die einen prägen oder an denen man wächst. Und während wir uns mit Eva durch die Jahre bewegen, können wir wie nebenbei die Entstehung unserer modernen, permanent kuratierenden und kritisierenden Foodie-Kultur verfolgen.

Dabei erweisen sich Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens als recht einzigartige Leseerfahrung, nicht nur aufgrund des speziellen Perspektiven-Kaleidoskops. Zwischen bescheidenen Anfängen, großen Durcheinandern und unaufgelösten Enden erscheint als Leitmotiv immer wieder das Streben nach kulinarischer Großartigkeit, egal, ob diese gerade in der Küche eines alleinerziehenden Vaters oder in einem 5000-Dollar-Restaurant ihren Auftritt hat. Denn völlig unabhängig davon, wo wir unsere ersten prägenden Geschmackserfahrungen gemacht haben, sind wir doch immer bestrebt, diese wieder zu entdecken oder neu zu beleben – seien es die Gerichte, die uns an Zuhause erinnern, oder jene, die für uns von denen zubereitet wurden, die wir am meisten lieben. Und würde man gar behaupten, dass genau dies das eigentliche Thema des Buches ist, so würde der Autor höchstwahrscheinlich keinen Einspruch dagegen erheben.

Hier entlang zur Leseprobe

Roman

Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens J. Ryan Stradal Diogenes 2016, 448 S., 24,00 €, als E-Book 20,99 €

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Geschrieben von

Daniel Windheuser

I am the key to the lock in your house that keeps your toys in the basement. Oder so ähnlich.

Daniel Windheuser

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