Abtreibungen in Mexiko: Legalität bedeutet nicht Legitimität
Selbstbestimmung Mexikos Frauen können seit dem Gerichtsbeschluß Ende September aufatmen: Abtreibungen sind straffrei. Doch was heißt das für die Umsetzung in dem katholischen, links regierten Land?
Sie trägt die Farbe des Abtreibungskampfes: Protestierende aus Mexico City im September 2022
Foto: Victoria Razo/AFP/Getty Images
Für Mexikos Feministinnen gab es einiges zu feiern, als sie am 28. September anlässlich des „Internationalen Tags für das Recht auf Abtreibung“ durch die Straßen der Hauptstadt zogen. Wenige Wochen vor ihrer Demonstration in Mexiko-Stadt hatte der Oberste Gerichtshof die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Abbruch von Schwangerschaften künftig im gesamten Land straffrei bleiben muss.
Jahrzehntelang hatten Frauen von feministischen Bewegungen dafür gekämpft, und nun steht es juristisch fest: Die Kriminalisierung der Abtreibung widerspricht der Menschenwürde sowie dem Recht auf Gesundheit, Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, freie Entwicklung der Persönlichkeit und reproduktive Selbstbestimmung. Folglich sind Gesetze, di
esetze, die den medizinischen Eingriff unter Strafe stellen, verfassungswidrig.Zu dieser Überzeugung gelangten die Richter*innen in einem Grundsatzurteil, das sie am 6. September dieses Jahres bekannt gaben. Das hat nicht nur zur Folge, dass Frauen wegen eines Abbruchs bis zur zwölften Woche nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Krankenhäuser und Gesundheitszentren müssen den Eingriff nun kostenlos durchführen. Ärzt*innen und das darüber hinaus beteiligte medizinische Personal dürfen nicht mehr bestraft werden.Freiheit, Würde und RespektAbtreibungen wurden in den vergangenen Jahren in zwölf der 32 mexikanischen Bundesstaaten grundsätzlich erlaubt, im liberalen Mexiko-Stadt ist die Behandlung bereits seit 2007 legal. Doch das föderale Strafgesetzbuch sieht bislang noch schwere Strafen für den Eingriff vor. Die Unterbrechung einer Schwangerschaft wird dort als „Mord an einem Produkt der Empfängnis“ bezeichnet, der, egal zu welchem Zeitpunkt durchgeführt, mit bis zu fünfjähriger Haft bestraft werden kann.Solche Gesetze müssen nun gestrichen werden, Abtreibungen dürfen nicht mehr als Verbrechen behandelt werden. Das sende ein wichtiges Signal an die betroffenen Frauen aus, erklärt Isabel Fulda von der feministischen Organisation GIRE (Gruppe zur Information über Wahlfreiheit bei der Reproduktion), die die Klage eingereicht hatte. „Das ist der größte Fortschritt, den wir in diesem Kampf erreicht haben“, sagt sie. Bislang sei die Angst vor der Kriminalisierung auch ein besonders wichtiges Argument von Mediziner*innen gewesen, um einen Eingriff zu verweigern.Der jetzigen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ging ein Urteil voraus, das vor zwei Jahren gefällt wurde. Damals entschieden die Richter*innen für den nördlichen Bundesstaat Coahuila, dass ein absolutes Abtreibungsverbot verfassungswidrig sei. Der Fötus müsse zwar geschützt werden, das Recht auf reproduktive Freiheit dürfe dadurch aber nicht verletzt werden. Der Beschluss betraf nur Coahuila, verfehlte aber seine Wirkung auf andere Regionen nicht. „Ab jetzt beginnt ein neuer Weg der Freiheit, der Würde und des Respekts gegenüber allen Beteiligten, aber vor allem den Frauen“, sagte der Vorsitzende Richter Arturo Fernando Zaldívar damals.Er sollte Recht behalten: Seither wurde der Schwangerschaftsabbruch in acht weiteren Bundesstaaten entkriminalisiert. Zudem bildete das Urteil die Grundlage für die jetzige erfolgreiche Klage von GIRE.Doch in einem Land, in dem täglich zehn Frauen getötet werden und gewalttätiger Machismus tief in der Gesellschaft verankert ist, liegen zwischen einem Gerichtsurteil und dessen Umsetzung oft Welten. Nicht zufällig verwiesen die GIRE-Frauen darauf, dass nun jene 20 Bundesstaaten in der Pflicht sind, die bislang Abtreibungen nur nach Vergewaltigungen und bei Gefahr für das Leben der Schwangeren zulassen. „Wir vertrauen darauf, dass diese Einheiten des Landes, deren gesetzliche Grundlagen das reproduktive Selbstbestimmungsrecht blockieren, das Urteil ernst nehmen“, schrieben sie. Sie wissen genau, dass der Weg dorthin beschwerlich ist. Um der Entscheidung wirklich Geltung zu verschaffen, müssen die Parlamente aller Bundesstaaten, in denen die Abbrüche noch verboten sind, das Strafgesetz ändern.Das kann dauern. Viele Abgeordnete stellen sich gegen eine Legalisierung, und das auch, weil nicht wenige ihrer Wähler*innen im katholisch geprägten Mexiko der Abtreibung ablehnend gegenüberstehen. Zwar wird mittlerweile die Mehrheit der Bundesstaaten von der linksgerichteten Morena-Partei des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador regiert, doch das ist nicht automatisch eine Hilfe.Der überaus beliebte Staatschef propagiert ein christlich-konservatives Familienbild, in dem Frauen der Platz am Herd zugedacht ist. In Sachen Abtreibung hat er sich nie eindeutig positioniert. „Er ignoriert die immense Müttersterblichkeit, Gewalt in der Ehe und die Tatsache, dass Frauen zur Prostitution gezwungen werden“, kritisiert die Sozialwissenschaftlerin Charlynne Curiel.Doch es gibt auch Anlass zur Hoffnung: López Obradors potenzielle Nachfolgerin Claudia Sheinbaum, die bei den Präsidentschaftswahlen 2024 antritt, verteidigt das Recht auf eine Unterbrechung der Schwangerschaft. Selbst ihre Konkurrentin Bertha Xóchitl Gálvez, die für die rechtskonservative PAN im Senat sitzt, verurteilt Abtreibungen im Gegensatz zu vielen ihrer Mitstreiter*innen nicht grundsätzlich.Diese Haltungen könnten dazu beitragen, dass sich die Meinung in Teilen der Bevölkerung und bei den Abgeordneten der Regionalparlamente verändert. Auf absehbare Zeit wird es jedoch für viele Frauen schwierig bleiben, ihr reproduktives Selbstbestimmungsrecht durchzusetzen. Die Grauzone zwischen bundesstaatlichem und föderalem Recht wird das in den nächsten Jahren immer wieder blockieren.Davon sind vor allem arme Frauen betroffen, die nicht einfach in eine Privatklinik gehen oder nach Mexiko-Stadt reisen können, um ihr Problem zu lösen. Sie sind darauf angewiesen, dass öffentliche Krankenhäuser die Vorgaben umsetzen.Das ist selbst in Bundesstaaten, in denen der Eingriff legalisiert wurde, längst nicht selbstverständlich. Oft ist das medizinische Personal nicht vorbereitet. Vor allen jenseits der großen Städte fehlen die infrastrukturellen Voraussetzungen. Zudem hindern häufig die traditionell konservativen und prekären Verhältnisse Frauen daran, von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Beispielsweise in Oaxaca. Mobilisierungen der feministischen Marea-Verde-Bewegung sowie die parlamentarische Lobbyarbeit von Frauenorganisationen konnten das Abtreibungsverbot in dem südlichen Bundesstaat 2019 kippen. Trotzdem sei es oft schwer, eine Abtreibung durchzuführen, erklärt Marea-Verde-Aktivistin Viri, die ihren kompletten Namen aus Sicherheitsgründen nicht preisgeben will.„Vor allem in den ländlichen Regionen stoßen wir auf große kulturelle Barrieren“, sagt die Psychologin, die Schwangerschaftsabbrüche in indigenen Gemeinden durchführt. In den Dörfern spreche man nicht offen über das Thema. Schon der Kauf eines entsprechenden Medikaments könne zu Diskriminierungen führen. Manchmal müssten Frauen aus dem Dorf gebracht werden, weil Männer ihre Entscheidung nicht akzeptierten.„Wir haben jetzt zwar eine gesetzliche Regelung, aber es fehlt eine soziale Entkriminalisierung“, betont Viri. Darüber hinaus gebe es auf dem Land nicht die nötigen Arzneimittel. Es sei oft schwierig, medizinisches Personal zu finden: „Viele Ärztinnen und Ärzte lehnen es aus moralischen und religiösen Gründen einfach ab, eine Abtreibung vorzunehmen.“ Trotz der Legalisierung.Nach den Erfolgen vor Gericht gilt es also nun, die juristischen Errungenschaften im realen Leben umzusetzen. Genau dafür, so erklärt die GIRE-Aktivistin Isabel Fulda, seien die Feministinnen am „Internationalen Tag für das Recht auf Abtreibung“ auf die Straße gegangen.
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