Die Spätphasen von Regierungen, die sich inhaltlich und personell erschöpft haben, sind oft schwer zu ertragen. Kommen anhaltende Unfähigkeit und sture Dickfelligkeit dazu, steigen die Sarkasmus- und Wurstigkeitsreaktionen in der Bevölkerung exponentiell an. Wenn „die oben“ nicht mehr können und „die unten“ nicht mehr wollen, so Lenins klassische Definition einer revolutionären Situation, explodiert die Stimmung. Da die Deutschen nicht zur Revolte neigen, wird die Stimmung eher implodieren. Die Folgen einer Implosion sind aber oft tückischer als die einer Explosion. Die Gesellschaft könnte dauerhaft an politischem „Long Covid“ leiden.
Am vergangenen Montag tagte das Bund-Länder-Corona-Kabinett wieder einmal für 15 längliche Stunden, um am Ende zwei zusätzliche „Ruhetage“ an Ostern zu verordnen – was nur einen Tag lang Bestand haben sollte – und um weitere Maßnahmen hinsichtlich umfangreicherer Tests und Impfungen anzukündigen. Die Methode Merkel wechselt vom „Fahren auf Sicht“ zum „Spielen auf Zeit“. Berlins Regierender Bürgermeister Müller nennt das hochtrabend „Paradigmenwechsel“. Doch mit jeder Ankündigung, was jetzt, im zweiten Jahr der Dauer-Lockdownerei, endlich umgesetzt werden soll (Tests in Unternehmen, Tests vor Rückflügen, Wirkungsforschung zu bestimmten Maßnahmen), werden die Regierenden unglaubwürdiger und die Menschen mürber. Angesichts des Schreckens ohne Ende wächst bei vielen die verzweifelte Hoffnung auf ein politisches Ende mit Schrecken.
Sie kann nicht loslassen
Fast alle Unionskanzler endeten jämmerlich. Konrad Adenauer wollte, obwohl von FDP, Wirtschaft und Nachfolgekandidaten heftig bestürmt, das Langzeit-Regieren nicht lassen und eine vierte Amtszeit dranhängen. „Der Alte“ hielt sich noch mit 85 für unentbehrlich. Vor allem wollte er Ludwig Erhard als Nachfolger verhindern. Als er dem Bau der Mauer ungerührt zusah, war die Engelsgeduld mit seiner Amtsführung aufgebraucht. Übergangskanzler Ludwig Erhard, als Zigarren schmauchender „Vater des Wirtschaftswunders“ weithin verehrt, wurde von der eigenen Partei demontiert, vom Koalitionspartner FDP im Stich gelassen und gnadenlos abserviert. Kurt Georg Kiesinger verlor die Bundestagswahl 1969 und musste den CDU-Vorsitz unter Druck an Rainer Barzel abtreten. Barzel scheiterte an Willy Brandt, aber da er den CDU-Vorsitz partout nicht räumen wollte, schob ihn der Flick-Konzern mit einem hoch dotierten „Beratervertrag“ aufs Altenteil. Nun konnte Helmut Kohl übernehmen, gepolstert mit dem Spendengeld der berühmten „schwarzen Kassen“.
Auch seine Kanzlerschaft endete nach 16 Jahren in Agonie. Nichts klappte mehr, die großen Reformvorhaben scheiterten, seinen Kronprinzen Wolfgang Schäuble machte er sich mit perfider Hinhaltetaktik zum Todfeind. Im März 1998 ging die Landtagswahl in Niedersachsen verloren, die Umfragewerte sanken, aus der in der Union aufkommenden Panik drohte offene Meuterei zu werden. Ende April kursierten sogar Putschpläne. Aber Kohl walzte sämtliche innerparteilichen Kritiker nieder und peilte stur eine fünfte (!) Amtszeit an. Es endete im Debakel. Die Union verlor bei der Bundestagswahl 6,3 Prozentpunkte und stürzte auf 35,1 Prozent ab. Schäuble übernahm wenige Wochen später den Parteivorsitz, den langen Schatten Kohls konnte er aber nicht abschütteln. Dann platzte die Bombe. Am 4. November 1999 wurde Haftbefehl gegen den ehemaligen CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep erlassen. Die Spendenaffäre, die auch Schäuble mitriss, begann. Die letzte Ausgabe des Spiegel im 20. Jahrhundert zeigt auf dem Cover ein bröckelndes Kohl-Denkmal mit der Schlagzeile „Abschied mit Schimpf und Schande“. Kohl wurde ausgestoßen, der Aufstieg Angela Merkels begann.
Jetzt, am Ende ihrer vierten Amtszeit, ist sie selbst in der Spätphasen-Agonie und kann, wie ihre Vorgänger Kohl und Adenauer, nicht loslassen. Denn irgendetwas hindert deutsche Kanzler immer am rechtzeitigen Rücktritt. Kohl wollte unbedingt noch den Euro „unumkehrbar“ machen, Merkel will unbedingt noch die Corona-Krise meistern. Aber die Geduld ist aufgebraucht. Zu viele Fehler, zu wenig Einsicht, niemand übernimmt politische Verantwortung.
In einer Art Parallelwelt
Obwohl die Union nach 16 Regierungsjahren dringend einen Neuanfang bräuchte, obwohl sie angesichts der Korruptionsaffären einen Bruch mit dem alten Lobby-System herbeiführen muss, regiert sie in einer Art Parallelwelt einfach weiter, verbeißt sich in kleinteilige Verordnungen über Kontaktbeschränkungen für mehrere Haushalte mit Kindern unter 14 Jahren an ungeraden Feiertagen und hofft, die Menschen würden schon nicht merken, dass diese Regierung am Ende ist.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat es gemerkt. Er imitiert nun in aufreizender Weise den Aufstieg der Kanzlerin vor 20 Jahren. Er verspricht eine neue Union, einen harten Schnitt, schonungslose Aufklärung und einen Aufbruch in die Zukunft mit einem neuen Team, das Söder, ganz Merkel-Verehrer, „Team Vorsicht“ nennt. Genauso hat es Angela Merkel bei ihrer demonstrativen Abnabelung von Helmut Kohl gemacht. Die Frage ist nur: Wartet Söder die Niederlage von Armin Laschet erst mal ab (so wie Merkel 2002 die Niederlage von Edmund Stoiber), oder traut er sich eine erfolgreiche Kanzlerkandidatur jetzt schon zu? Es ist auf jeden Fall seine Entscheidung.
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