Die Osteuropaforschung ist zurück: Auf den Spuren eines Forschungsgebietes

Politikberatung Expertinnen dieser Disziplin sind seit Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine omnipräsent: Doch die Osteuropaforschung galt vor nicht allzu langer Zeit als Fall für die Mottenkiste. Das hat mit ihrer heiklen Geschichte zu tun
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 14/2023
Die Politologin Gwendolyn Sasse im Februar 2022 in der Talkshow von Markus Lanz
Die Politologin Gwendolyn Sasse im Februar 2022 in der Talkshow von Markus Lanz

Foto: IMAGO/teutopress

Jahrzehntelang führte sie eine Randexistenz. Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler wollte sich mehr mit dieser abseitigen und rückständigen Regionaldisziplin beschäftigen. Der Fall des Eisernen Vorhangs schien ihr den Garaus zu machen. Doch mit dem Krieg in der Ukraine kehrte sie – quasi über Nacht und mit Getöse – in die Mitte der politisch-ideologischen Auseinandersetzung zurück: die deutsche Osteuropaforschung.

Seit gut einem Jahr tummeln sich ihre Vertreter, zumeist Historiker und Politologen, in Interviews, Talkshows, Thinktanks und sozialen Netzwerken, unterzeichnen Aufrufe zu Waffenlieferungen und dominieren Podiumsdiskussionen. Ob sie nun Franziska Davies heißen oder Karl Schlögel, Anna Veronika Wendland oder Andreas Umland, Gwendolyn Sasse oder Jan Claas Behrends, Klaus Gestwa oder Julia Herzberg, sie werden gern gebucht, denn sie gebärden sich nicht wie langweilige Bedenkenträger, sondern führen oft das große Wort, teilen aus, fahren aus der Haut und kämpfen nicht selten mit Kraftausdrücken und beleidigenden Vorwürfen für ihre „gute Sache“. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich weiß ein Lied davon zu singen. In der Bundestagsdebatte zur Regierungserklärung „Ein Jahr Zeitenwende“ Anfang März wunderte er sich über „die Rückkehr der Sprachmuster aus dem Kalten Krieg“. „Da gibt es Expertinnen und Experten“, kritisierte er, „die uns glauben machen wollen, ein nuklearer Krieg sei beherrschbar, da gibt es Wissenschaftler, die Begriffe wie Kriegsfähigkeit und Pazifismusweltmeister in die Debatte bringen … und wenn es mal Denkanstöße gibt, wie den von Jürgen Habermas, dann wird er übergangen oder mit Geschrei und übler Nachrede verfolgt“. Mützenich meinte damit auch die Münchner Osteuropahistorikerin Franziska Davies, die als Wutbürgerin auf Twitter ihr Wesen treibt und den „dämlichen“ Friedens-„Schnodder“ von Jürgen Habermas wohl am liebsten die Toilette hinuntergespült hätte.

Woher kommt der unversöhnliche, oft auftrumpfend besserwisserische Ton, der die Osteuropaforscher derzeit charakterisiert? Sind ihre verbalen Entgleisungen Ausnahmeerscheinungen, geschuldet der Empörung über den russischen Angriffskrieg, oder war die Osteuropaforschung schon immer so? Wie ist dieser Forschungszweig überhaupt entstanden?

Bedrohung aus dem Osten

Osteuropa als Begriff etablierte sich erst nach dem Krimkrieg (1853 – 56). Damals hatte „der Westen“ an der Seite des Osmanischen Reichs gegen das autokratische Russland gekämpft. Die seither präsente „Bedrohung aus dem Osten“ wies dem Westen die politische Aufgabe zu, das östliche Europa zu zivilisieren, um ein Vordringen Russlands durch Schaffung eines verlässlichen Sperrgürtels zu verhindern. Die sich daraus ergebende Notwendigkeit, Osteuropa genauer zu studieren und als Lehrfach an den Universitäten zu etablieren, entsprang also nicht wissenschaftlicher Neugier, sondern erfolgte aus rein politischen Motiven.

Die erste Professur für „Osteuropäische Geschichte“ erhielt der national-konservative Deutschbalte Theodor Schiemann. Schon in seinen Jugendjahren hatte sich Schiemann an der estnischen Universität Dorpat vergeblich gegen die „Russifizierung des Baltikums“ gestemmt und war deshalb 1887 nach Berlin ausgewichen. Dort lehrte er an der Preußischen Kriegsakademie, bis er mit der Gründung des „Seminars für osteuropäische Geschichte“ am 30. Juni 1902 den Grundstein für die Institutionalisierung der deutschen Osteuropaforschung legen konnte.

Schiemann wirkte freilich nicht nur als Professor, sondern mehr noch als leidenschaftlicher Publizist und Politikberater. Er schrieb aufrüttelnde Leitartikel in der Kreuzzeitung, dem Hausblatt der Ultrakonservativen um Otto von Bismarck und Paul von Hindenburg. Kaiser Wilhelm II. beriet er in Russlandfragen. Patriotisch und deutschnational, wie er war, propagierte er eine „Politik der Stärke“, warnte vor der „russischen Gefahr“ und warb im Ersten Weltkrieg für den Anschluss des Baltikums an das Deutsche Reich.

Unter Schiemann entwickelte sich die sogenannte Osteuropäische Schule, deren Bestreben die Zersetzung des multinationalen russischen Großreichs durch gezielte Förderung nationalistischer Gruppen in den Randstaaten Russlands war. Zusammen mit seinem Schüler Paul Rohrbach prägte Schiemann nachhaltig die öffentliche Meinung und begünstigte eine Politik, die auf die „Befreiung der Ukraine“ hinauslief. Zum Dank wurde Schiemann, der auch die Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte herausgab, 1918 vom Kaiser zum Kurator der eroberten Stadt Dorpat ernannt. Und Paul Rohrbach, Großdeutschland-Fan, Dozent für Kolonialwirtschaft, Beamter im Auswärtigen Dienst und konservativer Publizist, wurde für sein „beharrliches Eintreten für eine unabhängige Ukraine“ 1949 (!) mit der Ehrendoktorwürde der Ukrainischen Freien Universität in München ausgezeichnet, bevor er Ehrenpräsident der deutsch-ukrainischen Gesellschaft wurde.

Selbstgleichschaltung in Breslau

Ein weiterer Schüler Schiemanns war Otto Hoetzsch. Wie sein großer Lehrmeister wirkte Hoetzsch nicht nur durch professorale Expertise, sondern ebenso als Publizist und Politiker. Hoetzsch durchlief die ganze Bandbreite der im Kaiserreich und in der Weimarer Republik tätigen ultrakonservativen Vereine, vom antisemitisch geprägten Verein Deutscher Studenten über den Alldeutschen Verband, den Deutschen Ostmarken- und den Deutschen Flottenverein bis zum deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband. Er arbeitete als Redakteur bei der schon erwähnten Kreuzzeitung, unterrichtete an der Preußischen Kriegsakademie und vertrat als Reichstagsabgeordneter die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). 1913 gründete er die Gesellschaft zum Studium Russlands, die nach dem Ersten Weltkrieg in „Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas“ umbenannt wurde. Schließlich hob er 1925 die noch heute existierende Fachzeitschrift Osteuropa aus der Taufe, die der bekannte Journalist und Hoetzsch-Schüler Klaus Mehnert ab 1951 redigierte.

Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 verlagerte sich der Schwerpunkt der Osteuropaforschung von Berlin nach Königsberg, Posen, Prag sowie Breslau und wurde zur „Ostforschung“ unter dem völkischen Gesichtspunkt der Germanisierung Europas. Die Selbstgleichschaltung der Osteuropaexperten verlief weitgehend reibungslos. In Breslau etwa besetzte 1937 der zunächst in Königsberg lehrende Theologe Hans Koch (NSDAP-Mitglied seit 1932) den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte und wurde dort auch Direktor des Osteuropa-Instituts. Der gebürtige Lemberger hatte im Ersten Weltkrieg für den militärischen Geheimdienst gearbeitet, wurde 1918 Hauptmann in der Armee der Westukrainischen Volksrepublik und diente später als Verbindungsmann zu den ukrainischen Nationalisten der OUN. 1944 war er mit dem „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ am Kunstraub in der Sowjetunion beteiligt. 1945 tauchte er als Dorfpfarrer unter, um kurze Zeit später als Mitglied der „Professorengruppe der Organisation Gehlen“ wieder aufzutauchen. Nun arbeitete er für die CIA und die US-Armee. 1952 wurde Koch Direktor des neu gegründeten Osteuropa-Instituts in München und beriet Bundeskanzler Konrad Adenauer. Als er 1955 das Buch des Altnazis Heinrich Härtle Marxismus, Leninismus, Stalinismus. Der geistige Angriff des Ostens empfahl, forderte die SPD im Bundestag seine Entlassung, doch CDU-Innenminister Gerhard Schröder hielt seine schützende Hand über ihn.

Zwar versuchte man Anfang der 1950er Jahre, sich von der völkisch gefärbten „Ostforschung“ der Nazis abzusetzen und gründete wieder zahlreich „Osteuropa-Institute“, doch der Kalte Krieg sorgte dafür, dass die alten Kader – nur oberflächlich entnazifiziert – wieder überall Verwendung fanden, gefördert von einer konservativen Ministerialbürokratie und einschlägig vorbelasteten Vertriebenenfunktionären. Viele, die sich aus Dorpat, Posen oder Breslau kannten, trafen sich nun in den neuen Zentren der Osteuropaforschung, in Hamburg, Berlin, Köln, Mainz, Tübingen, München oder Wien. Während in München der erwähnte Hans Koch die Geschicke leitete, bildete sich an der Freien Universität Berlin ein Gründungsdirektorium aus gleich fünf altgedienten Osteuropakundlern: Walter Meder war schon an der nationalsozialistischen Musteruniversität in Posen gewesen, Max Vasmer kam aus Dorpat, Werner Philipp aus Breslau, Erich Kosiol und Karl Thalheim kannten sich aus SA und NSDAP.

Akademische Frontkämpfer

Weiter nördlich, in Hamburg, versammelte sich die alte Breslau-Connection um den wieder eingesetzten Osteuropahistoriker Hermann Aubin, der in den 1930er Jahren zu den führenden Vertretern der völkischen Ostforschung zählte. Der deutschnational gesinnte Aubin, der Hitlers Machtergreifung 1933 begrüßte, weil nur ein Mann wie Hitler den Kampf um das Deutschtum im Osten siegreich bestehen könne, hatte an zahlreichen Denkschriften für den Gauleiter Schlesiens mitgewirkt, die unter anderem für eine „völlige Entjudung Polens“ plädierten, schwärmte für die Befreiung Österreichs und des Sudetenlands und war in der SS-Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe aktiv. 1953 gründete er den Verband Deutscher Historiker und wurde dessen Gründungsvorsitzender.

Aubin holte seinen alten Breslauer Buddy Gotthold Rhode (1940 NSDAP-Mitglied) nach Hamburg, der wenig später Direktor des Instituts für osteuropäische Geschichte in Mainz wurde. So zog einer den anderen nach. Zusammen machten sie aus der Osteuropaforschung der frühen Bundesrepublik wieder das alte Kampfinstrument gegen den barbarischen Osten. Beschützt von der Ideologie des Kalten Krieges schuf sich ein kleiner verschworener Kreis ein blickdicht abgeschottetes Refugium für Nostalgiker und Rückwärtsgewandte, das sogar die 68er-Bewegung und die sozialliberale Ostpolitik überdauerte. Egal, ob sich die Osteuropa-Kundigen im Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat oder in der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde trafen – die alten Seilschaften hielten zusammen wie Pech und Schwefel und arbeiteten emsig an der Ausweitung ihrer Etats.

Erst mit der Zeitenwende von 1989 schien sich das Fach kritischen Fragen stellen zu müssen – wegen des Abhandenkommens des Endgegners Sowjetunion und aufgrund der Furcht, politisch nicht mehr gebraucht zu werden. 1998 konstatierte der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski in der Zeitschrift Osteuropa, sein Fach betreibe nur noch dilettierende Landeskunde, vermittle keine wissenschaftlichen Impulse, koste viel Geld und sei ein unnützer Wurmfortsatz der Historischen Institute. Die Osteuropaforschung habe sich ghettoisiert, sei methodisch rückständig und konnte nur deshalb überleben, weil sie als nützliches Instrument zur politischen Feindmarkierung von den Regierungen alimentiert worden sei.

Baberowskis Angriff löste eine heftige Debatte aus. Und tatsächlich: Um ein Haar hätte seine Abrechnung Folgen gehabt. Wäre die „Gefahr aus dem Osten“ nicht im „Krimkrieg“ 2014 und im Ukrainekrieg 2022 wiedererstanden, hätte man die „Feindwissenschaft“, die sich als Osteuropa-Expertise tarnte, tatsächlich einmotten können. So aber sind „Osteuropaexperten“ wieder erstaunlich präsent. Mit kämpferischen Tweets und leidenschaftlichen Interviews, mit Politikberatung und wissenschaftlich klingenden Beiträgen („Abschied vom Wolkenkuckucksheim. Deutschlands langsamer Wiedereintritt in die Weltpolitik“). Teils bewusst, teils unbewusst verfolgen sie das ehrgeizige Ziel, die bisherige Zurückhaltung der bundesdeutschen Außenpolitik durch neue imperiale Untertöne zu unterminieren. Es ist fast wie 1902, als die Geschichte Osteuropas als akademische Frontkämpfer-Disziplin geboren wurde.

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

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