Trostlosigkeit
Sommer 1871. Der 37jährige „Designer und Craftsman“ William Morris bereist zum ersten Mal Island, das Land seiner Sehnsucht. Er ist in einer Lebenskrise. Als er seiner Frau von den Freuden und Leiden des Camping schreibt, erwähnt er wie nebenbei, dass er beim Anblick eines riesigen Steinhaufens am Rande eines Lavafeldes sofort an „die Ruine einer Pariser Barrikade“ denken musste. Fast zur gleichen Zeit erforscht der 29jährige Fürst Pjotr Kropotkin an finnischen Gletscherseen die Geschichtlichkeit der Erde. Immer mehr beschäftigt ihn jedoch die „soziale Frage“. Welchen gesellschaftlichen Nutzen haben seine Forschungen? Warum sind die finnnischen Bauern weniger servil als die russischen? Er ist zudem unzufrieden, nur unvollständige und parteiische Informationen über die Pariser Commune zu erhalten. Es ist frappierend, so die Literaturhistorikerin Kristin Ross: für beide Reisenden spiegelten die trostlose Schönheit und erschreckende Strenge der nordischen Landschaften die Ereignisse in Paris (1).
Mit sehr realer Trostlosigkeit ist allerdings der 31jährige Geograph und Anarchist Elisée Reclus konfrontiert, Der Nationalgardist wird schon einen Monat vor der Niederlage der Commune gefangengenommen. Den ganzen Sommer lang erleidet er eine Odyssee durch die französischen Kerker, eine Dauererfahrung de Erniedrigung:
Nach den Maitagen kannten sie keine Gnade mehr. Sie wussten, dass wir nicht mehr die Herren waren,
schreibt er noch im selben Jahr. Ein Kriegsrat verurteilt ihn zur „einfachen“ Deportation nach Neu-Kaledonien. Britische Geographen und Naturwissenschaftler (darunter auch Darwin) sowie der amerikanische Botschafter setzen sich für Reclus ein, so dass er schließlich „nur“ des Landes verwiesen wird. In Handfesseln bringt man ihn zur Schweizer Grenze.
Vom Eigenleben der Commune
Ein neuer Blick auf die Commune ist nötig, so Kristin Ross, ein Blick, der lange Zeit durch zwei Vulgaten bedeckt wurde. Für die offizielle kommunistische Historiographie war die Commune nur die gescheiterte Vorgängerin der Großen Oktoberrevolution. Die nationale französische Historiographie ihrerseits sah die Commune in der letztlich erfolgreichen Republik positiv „aufgehoben“. Selbst das Martyrium der Communarden, ihr aufopfernder Kampf gegen die „Versailler“, wurde so zu einer erbaulichen Geschichte umgedeutet. Wenn die Republik einige Forderungen der Commune erfüllt hat, so wird angedeutet, war ihr Tod nicht umsonst.
Bei alledem ist jedoch das Besondere der Commune verlorengegangen: die Commune, so Ross, war ein Zukunftslabor von anti-hierarchischen Erfahrungen, sowohl ein – notwendiges - Bricolage vergangener Revolutionsmuster, als auch auch die Erfindung und Erfahrung neuer zukunftsweisender Praktiken. Die Commune, schreibt Kropotkin 1885, „lebte 5 Monate lang ihr eigenes Leben“. Die Aktionen schufen die Träume, und nicht umgekehrt.
Ross "datiert" die Commune zurück und nach vorn. Schon vor dem berühmten 18. März 1870 , als die Regierungstruppen vergeblich versuchten, das „kommunale“ Paris zu besetzen, liegt sie "auf der Straße". Ross verweist auf die "Bienenkörbe", Arbeiterversammlungen am Ende des zweiten Kaiserreichs. Da beginnt zum Beispiel ein auf den Tod kranker Arbeiter seine Rede unter dem Applaus der Anwesenden erstmalig mit „Citoyennes et Citoyens!“ Damit nimmt er die "heiligen" revolutionären Begriffe der Vergangenheit wieder auf, meint diesmal aber eben nicht die Zugehörigkeit zum nationalen Staatskörper, sondern explizit die von Staat, Empire, Polizei und aus der Welt der ehrbaren Bürger Ausgeschlossenen. Die Quellen zeigen, dass die Arbeiterviertel schon 1869 in fiebriger Revolutionserwartung sind:
Wir werden sie bekommen, unsere große demokratische und soziale Commune... Das Licht wird von den Höhen Bellevilles und Ménilmontants (Arbeiterviertel im Osten) hinabsteigen und die Finsternis des Rathauses vertreiben.
Die Proletarier kündigen damit die Besetzung der sozialen und politischen Raumes ihrer Herren an. Und die reagieren panisch.
Diese Commune – so die Autorin – ist anti-national und anti-etatistisch, anders als die beiden Vulgaten der Commune behaupten. Das zeigen schon die Reden in den Clubs, und das demonstrieren ihre großen symbolischen Handlungen: die Verbrennung der Guillotine unter der Statue von Voltaire und die Zerstörung der Siegessäule auf dem Vendômeplatz als Protest gegen die imperialen Kriege und als Verteidigung der internationalen Brüderlichkeit.
Die Vertreter der beide Vulgaten wiesen immer wieder auf eine gewisse Inkohärenz der „Idées communales“ hin. Wie sollte es auch anders sein? Kohärent ist der Barrikadenkampf, der fast zu einem Element der langen Revolutionsdauer des 19. Jahrhunderts geworden ist und 1871 einen letzten Höhepunkt erlebt. Eine Revolution, so wiederum Kropotkin, ist nicht das Produkt eines philosophische Konzepts. Sie entsteht im kollektiven Geist. In diesem Sinn lassen sich die Ideen, Gesten, Theoreme und Handlungen kohärent verbinden.
Das "Imaginaire" der Commune
Der Schlüsselbegriff für die Autorin ist der „Luxe communal“, der gemeine Luxus – und eben nicht der „Gemeinnutz“, der faschistisch „vor Eigennutz“ geht. Eugène Pottier, der Verfasser der Internationalen, kreiert diesen Begriff im April 1871, er zielt auf eine grundlegend andere soziale Politik. Gegen die entfremdete kapitalistische Überproduktion, die manche reich, aber nicht glücklich, die meisten jedoch arm und unglücklich macht, wird die sinnvolle kollektive Arbeit gesetzt.
Noch in der Tradition Fouriers stehend, schreibt Elisée Reclus: Sobald die Arbeit leidenschaftlich wird, sobald sie Freude bereitet, wird der Arbeiter Künstler. Ähnlich äußert sich später William Morris: Die Kunst ist der Ausdruck der Freude, die der Mensch aus seiner Arbeit zieht. Die Commune ist weit davon entfernt, die Republik der „Verteiler“ zu sein, wie die bürgerlichen Gegner in Versailles kolportieren. Der „kommunale Luxus“, so Ross, war die Antwort auf die Verteilung des Elends und schlug eine Welt vor, wo jeder seinen Anteil des Besseren haben sollte. Die Gleichheit in der Fülle. Die Fülle der Künste in der Gleichheit. Rimbaud nennt dies zur gleichen Zeit „travailler libre“(2). Die "Freiarbeit" war noch nicht auf die Pädagogik gekommen.
Ausführlich beschreibt William Morris den „Luxe communal“ in seiner Utopie „News from Nowhere“ (1890). Er nimmt darin übrigens das Commune-Lied „Die Zeit der Kirschen“ und den Abriss der Siegessäule wieder auf, wenn er die utopische Veränderung von Trafalgar Square beschreibt::
The blackbirds were singing their best admist the garden trees. There were great many cherry-trees, now laden with fruit... We came into a large open space..., the sunny side of which had been taken advantage of for planting an orchard of apricot trees... I opened my eyes and cried out: „Trafalgar Square“ (News from Nowhere) (3).
Der Trafalgar Square, auf dem 1887 eine große sozialistische Demonstration brutal unterdrückt wurde („Bloody Sunday“), hat hier wie der Vendôme-Platz im Paris von 1871 seine imperiale Symbolkraft verloren. „Aprikosen und Kirschen statt Kanonen!“ fordert die spöttische Drossel. Man denkt an Heines "Zuckererbsen für Jedermann/Sobald die Schoten platzen".
Die Vertreter des „Luxe communal“ sind zuweilen Poeten, aber keine politischen Träumer (im bürgerlich despektierlichen Sinne). Sie entwickeln Ideen zu den Voraussetzungen der Aufhebung entfremdeter Arbeit, zum Beispiel deren Grundlage, die "integrale" (polytechnische) Erziehung. Ein von Pottier unterschriebenes Plakat der Commune fordert:
Jedes Kind, gleich welchen Geschlechts, soll am Ende der Schule die Elemente von einem oder zwei manuellen Berufen beherrschen.
Die Methoden des Pädagogen des von Jacques Rancière so sympathisch beschriebenen Pädagogen Jacotot wirken nach: Es ist nicht hochmütig zu sagen: Auch ich bin ein Künstler (4). So wie sich der Schuhmacher Gaillard als Barrikadenkünstler sieht. So wie es für einen Maler wie Courbet selbstverständlich ist, auch politisch zu handeln. „Je est un autre“. Das kann und darf natürlich nicht sein. Selbst ein Emile Zola reagiert so unverständlich wie ironisch:
Courbet, der große Courbet gehört der Commune an! Er wird Gesetzgeber. In hundert Jahren werden die Ateliers noch darüber lachen!
Die Entfremdung aufgehoben hat z.B. der Schuhmacher Gaillard. Er ist unübertroffener Barrikadenbaumeister, Mitglied der Internationale und Autor einer "Kunst des Schuhwerks". Seine Barrikadenk unstwerke nennt man nicht ohne Stolz "Châteaux Gaillard".
Weiterleben
Das „Imaginaire“ der Commune lebt in einer Art „Dialektik des Gelebten und des Gedachten“ weiter. Ross spricht von „Prolongationen“. Das Exil generiert „zentrifugale Effekte“, die sich die Herrschenden so nicht gewünscht haben. Neue politische Projekte entstehen in den 70er und 80er Jahren des Jahrhunderts. Aus den Erfahrungen sinnvoller, nicht entfremdeter Arbeit (auch der Frauen) während der Commune entwickelt sich ein „penser ensemble“ über alle Unterschiede zwischen autoritären Marxisten und kommunistischen Anarchisten hinweg.
In London positioniert sich der erwähnte William Morris mit seinem Gedicht „Pilgrims of Hope“, in dem die Commune die Hauptrolle spielt. Er wird zum „Pionier“ (E.P. Thompson) des englischen Sozialismus (4). 1886 lernt er, der Gegner der Anarchisten in seiner Partei, Kropotkin kennen – und schätzen, übrigens bei einer Gedenkveranstaltung für die Commune. In der Schweiz wiederum arbeitet Kropotkin mit Elisée Reclus an der 17000seitigen (!) „Nouvelle Géographie Universelle“, aber auch an einer anarchistischen Zeitschrift, "Le Révolté". Es gibt einen neuen Anfang nach dem Ende der Commune. Und Kropotkin macht eine ermutigende Entdeckung:
Ich wäre (angesichts der Berichte über den Terror der Commune-Gegner) verzweifelt, hätte ich nicht bei den Mitgliedern der besiegten Partei, die durch all diese Schrecken gegangen waren, diese Abwesenheit von Hass, dieses Vertrauen in den Sieg ihrer Ideen, den traurigen aber ruhigen Blick in die Zukunft, diesen Willen, den Alptraum der Vergangenheit zu vergessen erlebt, der mich bei fast allen Flüchtlingen der Commune in Genf in Erstaunen setzte und denn ich heute noch bei Louise Michel, Lefrancais, Elisée Reclus und anderen Freunden finde.
Ebenso ermutigend ist es, so die Autorin, dass für einen anarchistischen Kommunisten, wie Reclus sich nun nannte, der ideologische Gegensatz zwischen Bakunin und Marx keine große Rolle spiele. Überhaupt, so Ross vielleicht etwas zu pauschal, werde dieser in unserer heutigen Wahrnehmung dramatisiert. Nie sei der „Nichtmarxist“ Marx so „anarchisierend“ gewesen, wie zur Zeit der Commune. Der „Bürgerkrieg in Frankreich“ mag dies belegen. Es gibt aber auch gegensätzliche Aussagen. Was aber alle Communarden (Reclus hasste den Begriff, er sah sich als „Communal“) eint, ist „die Vision der gesellschaftlichen Transformation auf der Basis einer großen freiwilligen Federation kleinerer autonomer Einheiten“. Kapital, Staat und Nation, so die Vorstellung, sollen gleichzeitig aufgehoben werden. Deutlich sind die Bezüge auf die „Déclaration du peuple francais“ vom 19. April 1871:
Ständige Intervention der Bürger in den gemeinsamen Angelegenheiten mittels der freien Äußerung ihrer Ideen und der freien Verteidigung ihrer Interessen.
Jeder solle sich für seine Arbeit, das Material, den Arbeitsprozess, die Kooperation wirklich interessieren. Glück, so Morris, ist, mit Interesse an allen Details des alltäglichen Lebens teilzunehmen, diese zu Kunstwerken zu erheben. Es gibt Dutzende solcher Aussagen.
Morris schwebt vor, die großen Industriezentren aufzulösen. Nicht nur Aprikosengärten sollen die Natur in die bisher mit Morris' Lieblingswort "shoddy" belegten Metropolen bringen, er denkt an angenehme Dörfer an der Themse, die vorteilhaft diesen absurden Irrsinn, den man früher London nannte, widerlegen. Das Übel der Arbeitsteilung sei abzuschaffen. Wie schon der Marx der Deutschen Ideologie andeutete, kann auch für Morris jeder Mensch mehrere sinnvolle erfüllenden Tätigkeiten nacheinander ausführen, in einer Gesellschaft, die alles andere als gleichmacherisch sei:
Die Varietät des Lebens ist ein Ziel des wahren Kommunismus, ebenso wie die Gleichheit der Voraussetzungen, nur die Verwirklichung der einen und der anderen wird die wahre Freiheit bringen.
Im Unterschied zu Fourier setzen die „kommunistischen Anarchisten“ nicht (mehr) auf kleine anarchistische Inseln, Ikarien. Es geht ihnen ums Ganze. Sich zurückziehen, bedeute immer Resignation und Aufgabe des Kampfes. Zu oft haben sich Kooperativen in einfache „Boutiquen“ verwandelt:
Man hatte den festen Willen, die Welt grundlegend zu verändern und langsam verändert man sich zu einem simplen Krämer (Reclus).
Wie wahr! möchte man rufen. Für Kropotkin liegen die Ursachen im anfänglichen fast, religiösen Enthusiasmus, in dem zu engen Familienmodell und in der Isolierung von den sozialen Zentren:
Wenn Bourgeois den Anarchisten eine Insel zwecks Errichtung einer kommunistischen .Gesellschaft anbieten, sollten diese annehmen... unter der Bedingung, dass die Insel die Île-de France ist. (Kropotkin).
Schließlich sei Paris 1871 nicht sehr weit davon entfernt gewesen.
Reclus zieht die Lehren aus der Niederschlagung der Commune durch bäuerliche Regimenter. Es gebe keinen Gegensatz zwischen den Arbeitern und den Bauern. Er bezieht sich in seinem „Brief an meinen Bruder, den Bauer“ (1893) auf die russische Gemeinschaft des „Mir“ (die auch Marx interessiert), die er der agro-industriellen Ausbeutung des amerikanischen Westens gegenüberstellt. In modern anmutenden Sätzen beschreibt er die Wirklichkeit der „Getreidefabriken“:
Was wird der Arbeiter, der Bauer, in dieser durchorganisierten Welt? Maschinen, Pferde und Menschen werden gleich behandelt - als bezifferbare Kräfte, die man bestmöglich für den Unternehmergewinn einsetzen muss, mit möglichst geringem Aufwand, aber möglichst hohem Gewinn.
Nach der Revolution und der Abschaffung des Privateigentums wird die doppelte Ausbeutung, die des Menschen (durch die Großgrundbesitzer) und die der Natur (durch den zerstörerischen Charakter des Kapitalismus) aufgehoben sein. Im „Nowhere“ entdeckt der Held Lachsnetze in der Themse (die er von früher nur verschmutzt kennt). Sein Gegenüber erklärt: of course they are not always in use; we don't want salmon every day of the season. Die Liebe zur Natur ist ein vernünftiger, solidarischer „Instinkt für menschliche Soziabilität“(Kropotkin). Nicht mehr (nur) Produktivkraft, ist die Natur (wieder?) ein Wert an sich. Die berühmte „Nachhaltigkeit“ ist keine technische, sondern eine gesellschaftliche Frage. Entdeckten die Achtundsechziger den Communarden Elisée Reclus, so ist es seit einigen Jahren der weitsichtige Ökologe, der das Interesse weckt.
Überleben
Für Ross hängt die rezente „Entdeckung“ von Autoren wie Reclus, Morris und (wieder verstärkt) Kropotkin mit aktuellen Bedürfnissen zusammen. Die Menschheit stößt an ökologische und ökonomische, aber auch an ästhetische Grenzen. Wir verdanken Reclus (und nicht einem amerikanischen) Häuptling folgende schöne Passage:
Da wo man dem Boden die Schönheit nimmt, da wo jede Poesie aus der Landschaft verschwunden ist, stirbt die Phantasie, verarmt der Geist. Die Routine und die Servilität bemächtigen sich unserer Seele und ermächtigen sie zu Schrecken und Tod.
Warum muss ich beim Lesen solcher Zeilen immer an die Windräder denken? Es gibt doch Schlimmeres.
Die Commune lebt also weiter. Anders, aber ähnlich. Ihre Ideen sind nicht „gescheitert“, im Gegenteil. Schon der Untergang der realen Commune, so Ross im Gespräch mit Alain Badiou, ist kein „Scheitern“ gewesen, sondern ein massives Staatsverbrechen. Bis heute gebe es eine „communale“ Kontinuität. Natürlich ist die Welt der Gegenwart von der damaligen unterschieden. Ein ganzes Jahrhundert der Extreme liegt zwischen uns und den Reclus, Kropotkin, Morris. Ross ist jedoch der auf den ersten Blick frappierenden Ansicht, dass die Welt der Communarden uns in Wirklichkeit näher ist als die unserer Eltern:
Die heutige Form des Kapitalismus – der Zusammenbruch des Arbeitsmarktes, das Aufkommen der informellen Ökonomie, die Zerstörung der gesellschaftlichen Solidarität in einer überentwickelten Welt – erinnert an die Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert, die meist nicht arbeiteten, sondern auf der Suche nach Arbeit waren.
Gleichzeitig kann Ross auf den offensichtlichen Tod der Utopie eines „kreativen postmodernen Kapitalismus“ verweisen, den ihre Verkünder nicht wahrhaben wollen. Man sollte sie nicht mehr ernst nehmen , damit die Kirschen wieder blühen können. Und wir sie mit „traurigem, aber ruhigem Blick“ auch zukünftig genießen können. Das wäre nicht alles, aber nicht wenig.
(1) Kristin Ross, L'imaginaire de la Commune, Paris 2015 (La Fabrique). Der amerikanische Titel lautet: Communal luxury. The Imagery of the Commune. 2015
(2) vergl. dazu Kristin Ross , The Emergeance of Social Space. Rimbaud and the Paris Commune, Minnisota 1988 (Neuaufl. London 2008)
(3) William Morris, News from Nowhere or An Epoch of Rest. London 1890
(4) zit. Jacques Rancière, Le maître ignorant. Paris 1987 (Fayard)
sehr lesenswert:: Elisée Reclus, Les Grands Textes. paris 2014 (Flammarion)
Kommentare 24
Wunderbar. Schön, dass Sie und Frau Ross herausarbeiten, dass die Commune vor allem auch ein Labor war, in dem gezeigt wurde, wie in großen urbanen Gebilden, eine sichere und sozial verantwortliche, weitgehend diskriminierungsfreie Teilhabe-Gemeinschaft möglich sein könnte.
Tatsächlich ist das Verständnis für die Internationalität und Eigenständigkeit der Kommunen, auf dem weiteren Weg der Entwicklung der Nationalstaaten, ebenso als Nebensache abgetan worden, wie eben diese Commmunauté überhaupt an Bedeutung verlor, nun vielleicht wieder gewinnen muss.
Es erstaunt durchaus nicht, wenn heute die Kommunen unterfinanziert sind, ihnen die Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten der Landesplanung genommen werden, ihre Finanzen praktisch von Zuweisungen aus Land und Nation abhängen, ihr Krankenversorgungswesen und ihre Betriebe privatisiert oder wie Privatbetriebe geführt werden, ihre Schulen verkommen, während sich derzeit der Bund, die Nationalregierung, im Lichte bester Haushaltszahlen sonnt. Aller Integrationsaufgaben die schwierig sind, müssen vor Ort geleistet werden, alle "Gnadenmittel" und Gesetze hierfür, befinden sich in der Hand übergeordneter Stellen.
Das Commune- Paris war so ein Versuch und Vorbild für selbstverwaltete Autonomie, wie später das Barcelona der Anarchisten, wie Stadtstaats- oder Bauernstaatsvorbilder, von der Meldorfer- Republik Dithmarschens, bis zur selbstverwalteten Chiapas- Republik, mit ihren vielen direkt- und basisdemokratischen Strukturen ( http://userpage.fu-berlin.de/~haberlan/wp-content/uploads/Diplomarbeit_Chiapas-end.pdf ).
Der zentralistisch und avangardistisch orientierte, gar der Staatskommunismus, tat sich damit immer schwer, wie eben die bürgerlichen Ideologien vom Vater-, Nachtwächter-, National- und Machtstaat auch. - Machtstaat selbst da, wo es nur Schlachten im Angiari- Format gab und trotzdem machiavellistisch regiert wurde, in den italienischen Stadtstaaten.
Selbst kleinere Städte sind, im Vergleich zum Land, zur Nation, in vielen Fällen internationalistischer, solidarischer. Heute noch! Trotz aller Schwierigkeiten. Das bemerke ich bei meinen Streifzügen im "Dreiländereck" Mainz- Wiesbaden- Frankfurt. Regio Rhein- Main.
Dazu muss man nicht mehr in die Metropolen, die früher der Inbegriff dafür waren: New York, London, Paris, später auch Berlin und besonders nicht zu vergessen, Wien. Die zeigen gefährliche Auflösungstendenzen, weil eben die wieder wachsende, ökonomische Spaltung der Bürgerschichten die Städte, auch die Weltstädte, ungeahnt radikal seggregiert, nach Wohnungspreis und jeweiliger Fahrstrecken zur Arbeit, nach Bildungs- und Kulturzugang, nach tatsächlicher politischer Mitsprache, statt wieder aufkommendem Stadtpatriziat mit weitgehnd informellen Arbeitsweisen.
Kurzes Fazit: Die Muster der Commune von 1870/71 leben in der starken Stellung der europäischen Städte weiter. Das ist ein Kulturgut, zu wissen, wie man die Differenz miteinander dauerhaft lebbar macht.
Allerdings funktioniert das Konzept nur, wenn die Kommune jedem Bewohner, Bürger, "Kommunisten", wirklich ohne Ausnahme Grundsicherheiten gewährt: Z.B. sozial, z.B. bezüglich der Teilhabe an der Stadtkultur und dann an der Stadtpolitik. Fehlen die Sicherheiten, dann werden die Zustände schnell unerträglich und alles Seiten suchen nach Macht- und Gewaltlösungen, die sich im Prinzip so auswirken, wie ein militärisches Eingreifen oder wie eine Aneignung der Stadt durch Verbrechen und durch das Recht des ökonomisch Stärkeren. Kein Land thematisiert diese schlechte Art der Urbanisierung medienträchtiger und anschaulicher, als die USA: Von der "Bürgermeister-Bande" die die Stadt oder ihre Viertel übernimmt, über ethnische Seggregation, bis zum Bürgerkrieg aller städtischer Institutionen gegen diskriminierte Bewohner oder früher, schlicht die Arbeiter.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Danke für den Kommentar. Frau Ross ist wirklich eine Quelle des Wissens - postmodern gegen eine bornierte Moderne und modern gegen eine beschränkte Postmoderne. Die zitierte Rimbaud-Monographie ist fulminant. Eagleton stellt sie in eine Reihe mit dem Baudelaire Benjamins.
Persönlich war für mich Frankovielen William Morris eine Art Entdeckung.
Kommentar Zangen Geburtshilfe
WWALKIE 29.09.2015 | 17:57
Danke für den Kommentar. Frau Ross ist wirklich eine Quelle des Wissens - postmodern gegen eine bornierte Moderne und modern gegen eine beschränkte Postmoderne. Die zitierte Rimbaud-Monographie ist fulminant. Eagleton stellt sie in eine Reihe mit dem Baudelaire Benjamins.
Persönlich war für mich Frankovielen William Morris eine Art Entdeckung.
Wer weiß, wie heute über die "Großen Oktoberrevolution" geschrieben würde, wäre ihr eine ähnlich kurze Lebensdauer zuteil geworden ...
Ich kenne den Beitrag von K. Ross im Sammelband "Demokratie"(2012). Ihr Denken finde ich sehr inspirierend. Es hebt sich positiv von den recht miefigen Debatten zum Thema "linke Politik" im Freitag ab.
Eindringlich, dieser Brückenschlag von Pariser Commune 1870/71 zur Arabellion 2011, damals unter dem niederschmetterndenden Artilleriefeuer der Koalition der Willigen aus deutschen Sieger Landen von Versailles im Bunde mit den Resten niedergeworfen französischer Monarchie. 1871 wie 2011 waren es Mächte von außen, die durch Intervention, Unterlassungen das Ende eines sozialen Aufbruchs hin zu Demokratie herbeiführten. Was blieb waren, ind die Erfahrungen. die sich wie ein Roter Faden im kollektiven Gedächtnis verankert haben
Vielleicht tut man den Preußen und ihren Verbündeten da doch ein wenig Unrecht, Joachim Petrick.
Vom Dichter Paul Verlaine, einem Mitglied der Commune und von Friedrich Engels, kann man erfahren, dass die dt. Truppen zwar das Militär der Garnisonen entwaffneten und dort schwere Waffen einsammelten, aber eben nicht gegen die Pariser Nationalgarde vorgingen. Sie suchten auch nicht nach den zahlreichen versteckten Waffen in Paris.
Keine Frage, die an das Napoleonische Frankreich gerichteten Bedingungen eines Vertrages im späteren "Versailler"- Diktatstil, mit überzogenen Reparationen in Gold, die das erste "Wirtschaftswunder" im Deutschen Reich auslösten und die Gebietabtretungen, waren sicher perfide. Die Commune de Paris ließen die Preußen in Ruhe.
Das besorgten die Franzosen, bzw. ihr Präsident Adolphe Thiers, mit ihm treuen Regierungstruppen, ganz allein. Sie würgten die Autonomie der Commune ab, sie gingen gegen die Kommunaden brutal vor, sie entwaffneten, soweit sie das konnten, die Pariser Nationalgarde.
Die Preußen griffen nicht ein und hatten auch kein Interesse daran.
Beste Grüße
Christoph Leusch
"Vielleicht tut man den Preußen und ihren Verbündeten da doch ein wenig Unrecht, Joachim Petrick."
Werter Christoph Leusch, n. m. E. tut man den Preußen und ihren Verbündeten nicht Unrecht, ganz im Gegenteil bisher scheint historisch die Devise zu gelten
"Niemals nicht die Preussen böse schelten!",
wenn doch, nur aus Versehen "Tschiuldigung!"
Die monarchistischen Reste des Französichen Kaiserreiches nötigten ihrem Sieger Deutsches Reich in Gründung 1871 ab, gegen die eigene republikanisch gesonnene Bevölkerung in Paris den ersten asymmetrischen Krieg der Neuzeit auf europäischem Boden seit dem Westfälischen Frieden 1648 zu führen, um Frankreich angeblich monarchistisch zu befrieden!?
Was über den toten Gebeinen Abertausender Pariser misslang
Heute intervenieren die USA, Frankreich, Russland demnächst auch, mit Kampfbomberflugzeugen, Drohnen im syrischen Bürgerkrieg, angeblich allein gegen den IS, ohne Truppen am Boden zu entsenden.
Damals 1971 bombardierte Bismarck, unter Bruch des Westfälischen Friedens 1648, in Kriegen die Zivilbevölkerung zu schonen, die Pariser Commune Zivilbevölkerung mit einem Trommelfeuer an Artilleriegranaten gnadenlos zusammen, ohne Truppen am Boden nach Paris zu entsenden. Da war ihm ohnehin jeder preussische Grenadier, wie später auf dem Balkan, zu schade.
Das "Aufräumen" die Herstellung der alten "Ordnung" überließ er mit taktischem Kalkül der monarchistisch umtriebigen Pariser Garnison, während der französische Kaiser Napeleon III als persönlicher Gefangener Bismarcks im Kasseler Hauptquartier diesem zukünftigen Reiichskanzler für Kamingespräche ausgeliefert bereitstand.
- was für eine Hohn gegenüber dem Geist des Westfälischen Friedens 1648 -
Mit bestem Tschüs
JP
https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/urknall-des-asymmetrischen-welt-wahrungskrieges
JOACHIM PETRICK 01.12.2010 | 19:29
Urknall des asymmetrischen Welt- Währungskrieges?
Aber damals 1871 war für den Sieger Deutsches Reich in Gründung eine Lage entstanden, die sich kein Sieger wünscht.
Alles irgendwie so. Aber die Pariser Commune, haben nicht die Preußen und ihre Verbündeten zerstört. Darum ging es mir aber.
Stellen Sie sich vor, dass die Frage der Zerstörung der Commune, auch noch eine Deutsche Angelegenheit gewesen wäre. Der französische Streit um die Bedeutung der Commune, -Adolphe Thiers hat ja selbst versucht, die Geschichte als Historiker auszudeuten, ist bis heute nicht beendet. Aber kein Franzose käme auf die Idee, deren Untergang als Ergebnis des deutschen Kriegsgewinns auszudeuten.
Was also anfangen, mit der erstaunlich selbstorganisierten, kurzen Autonomie der Stadt Paris?
Beste Grüße
Christoph Leusch
Es geht im Beitrag vor alem um das Nachleben der Commune und den noch immer aktuellen "Luxe communal".
Kurz zur Chronologie: In einem Memorandum vom 14. Jan. 1871 hatte Moltke, Chef des Generalstabs, die totale Besetzung von Paris gefordert. Die 250000 Mann Besatzung sollten als Gefangene nach Deutschland gebracht werden. Bismarck war da "milder" (Engelberg) und setzte quasi eigenmächtig in Verhandlungen mit dem Gesandten der neuen Republik einen Waffenstillstand durch. Die "schönen Viertel" von Paris wurden zunächst preußisch-deutsch kontrolliert, aber weder Zentrum noch Arbeitervietel wurden besetzt. Die (proletarisch dominiserte) Nationalgarde blieb so intakt.
Im März siedelte die neue Nationalversammlung von Bordeaux nach Versailles über. Das neue Staatsoberhaupt Adolophe Thiers schickte dann am 18. März Truppen zur Entwaffnung der Nationalgarde aus, was bekanntlich misslang. Bei der Niederschlagung der Commune erlaubte das deutsche Oberkommando den Versailler Truppen, Paris von Norden her - durch die deutschen Linien - zu attackieren. Am 28. Mai konnte konnte Thiers voller Stolz und Rachsucht den Prefekten verkünden:
Jetzt werden sie, an den äußersten Rand zurückgedrängt, zwischen der französischen Armee und den Preußen, die ihnen den Durchgang versperrten, für ihre Verbrechen büßen. Ihnen bleibt zu sterben oder sich zu ergeben...
Was folgte, ist bekannt.
Bei Jacobinmag gibt es ein Interview mit Kristin Ross und Manu Goswami. Aus dem Einleitungstext:
"Kristin Ross, in her powerful new book, Communal Luxury: The Political Imaginary of the Paris Commune, clear-cuts the accumulated polemics regarding the Commune, which she says have calcified into false polarities: anarchism versus Marxism, peasant versus worker, Jacobin revolutionary terror versus anarcho-syndicalism, and so on.
Now that the Cold War is over and French Republicanism is exhausted, Ross argues, we can free the Commune from such sclerosis. Such an emancipation can, in turn, revitalize the contemporary left to act and think about the challenges of today. No work specifies more fully Marx’s claim that, the greatest achievement of the Paris Commune was its “actual working existence.”"
Ross selbst:
"Not only Kropotkin, Reclus, and Morris, but Marx too was preoccupied by the “anachronistic” existence in their own time of pre-capitalist forms and ways of life.
The fate of the obshchina, those Russian agrarian communistic forms that had endured for centuries, was a major focus of western socialists. The theoretical challenge that took shape after the Commune revolved around the question of a revitalized commune-form: how to think together the astonishing insurrection that had occurred in a major European capital with the persistence of these older communist forms in the countryside.
(...)
This is the mark, to my mind, not of nostalgia, but of a profoundly historicizing way of thinking. Without it we have no way of thinking the possibility of change, or of living the present as something contingent and open-ended."
https://www.jacobinmag.com/2015/05/kristin-ross-communal-luxury-paris-commune/
Danke für den Link.
This is the mark, to my mind, not of nostalgia, but of a profoundly historicizing way of thinking.
Eine sehr kluge Formulierung.
Bei aller Sympathie und allem Respekt für den großen Versuch: Artikelintro + Generallinie des Beitrags führen in die Irre.
Zugegeben – die Commune ist, zusammen mit dem Laboratorium Spanien 36-39, ein wichtiger Referenzrahmen in Sachen praktizierter Kommunismus. Fakt ist allerdings: Die Commune wurde zerschlagen. Zerstampft, vernichtet, mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Die Bourgoisie hielt blutiges Rachegericht, die Anzahl der Toten, Füsillierten, sonstwie ums Leben Gekommenen liegt im oberen fünfstelligen Bereich (hinzu kamen die x-Tausend Inhaftierten und Deportierten). Noch negativer ins Gewicht fällt – lassen wir Romantik und Sympathie einen Moment beiseite – ihre kurze Dauer.
Sicher »lehrt« die Commune auch uns Nachgeborene, uns Kinder (oder auch nicht mehr ganz Kinder) des 21. Jahrhunderts eine Menge. Zum einen, wie es aussieht, wenn Linke allerunterschiedlichster Couleur kooperieren – unter dem denkbar massivsten Druck und mit kaum einer Blaupause: Jakobiner und andere Zentralisten, Anhänger von Marx und solche von Proudhon. Sicher treten unterschiedliche Konzepte von Selbstverwaltung zu Tage. In Katalonien hat man 60 Jahre später bekanntlich daran anzuknüpfen versucht. Meines Erachtens ist die Commune allerdings die Blaupause für die Machtfrage, die alle unteren Schichten, die antreten, um ein morsches System zu ersetzen, an irgendeinem Punkt zu stellen haben. Ente oder Trente – kann aber auch schiefgehen. Ein mögliches Ergebnis sehen wir aktuell in Syrien.
Was lernen wir? Zunächst einmal das Offensichtliche: Es hat nicht gereicht. Aber auch: Läuft die bewaffnete Macht des Ancien Regimes zum Volk über und gelingt es letzterem, sich zu bewaffnen, ist die entscheidende Sollbruchstelle da – die revolutionäre Situation. Warum sprang der Funke von Paris nicht über? Was hat die Revolutionäre isoliert? Und, übergeleitet von der historischen Zeit in unsere Tage: Welche Lehren lassen sich heute ziehen aus dem Scheitern – aber auch: dem Versuch – der Commune? Ein heterogen aufgestelltes Volksfront-Konzept ähnlich Syriza und Podemos mit einer dialektisch angelegten Dynamik zwischen parlamentarisch und außerparlamentarisch? Linksreformistische Illusionen + Kleinklein à la RRG? Oder der autonome Weg – Selbstverwaltung und Gegenmacht stets da zu forcieren, wo die Gegebenheiten es zulassen?
Das alles sind nur ein paar Gedanken. Angesichts der historischen Bedeutung des Themas finde ich es frappierend, dass es vernünftige Literatur dazu nicht gibt.* Sebastian Haffner hat mal – x-Jahre ist es her – ein längeres Essay dazu geschrieben. Ansonsten – tote Hose. Immerhin: Die Literaturlosigkeit könnte ein Indiz dafür sein, dass auch die Bourgoisie des 21. Jahrhunderts das Thema lieber totschweigt.
* Nein, ich meine keine, die die Fakten – sofern sie sie selbst kennt – voraussetzt und schöne theoretische Schlussfolgerungen aus den Ereignissen zieht. Sondern das echte, hundssolide historische Standardwerk, das erst einmal in aller Gründlichkeit und auch Detailhaltigkeit darlegt, was genau stattgefunden hat.
* Nein, ich meine keine, die die Fakten – sofern sie sie selbst kennt – voraussetzt und schöne theoretische Schlussfolgerungen aus den Ereignissen zieht. Sondern das echte, hundssolide historische Standardwerk, das erst einmal in aller Gründlichkeit und auch Detailhaltigkeit darlegt, was genau stattgefunden hat.
Was die historische Richtigkeit angeht, können wir Kristin Ross vertrauen. Sie ist Spezialistin, hat unter anderem ein auch historisch fundiertes Buch über Rimbaud und die Commune geschrieben (das Thierry Eagleton in eine Reihe mit Benjamins Baudelairebuch stellt).
Die Forschung wurde natürlich durch die Vermengung von politischen und Erkenntnisinteressen lange behindert. Lissagaray war lange der Gewährsmann - und ist es ja auch immer noch (Elisée Reclus hat ihm übrigens zugearbeitet). Es gibt aber schon seit den Sechzigern und Siebzigern sehr solide Werke. Nur als Beispiel: Jacques Rougerie, Paris libre 1871 (mit repräsentativen Quellen, Statistiken etc.).
Was natürlich stimmt: Es gibt viele Nichthistoriker, die sich bestimmter Themen annehmen. Sehr beliebt ist zum Beispiel das Thema Louise Michel und die Commune. Das ist oft verdienstvoll, weil diese "Hobbyforscher" (oft Anarchisten) nicht selten neue oder lange übersehene Quellen zutage fördern. Andererseits greifen sie bei größeren Darstellungen wieder auf die ihnen politisch genehme Literatur zurück. Immer noch.
2021 feiern wir das Hundertfünfzigjährige der Commune. Spannend. Wer hält die große vereinnahmende Rede? Hollande? Valls? Sarkozy? Le Pen?
Wer hält die große vereinnahmende Rede? Hollande? Valls? Sarkozy? Le Pen?«
Spannende Frage. Ich denke: Wir werden’s frühzeitig genug erfahren ;-).
Sie habe völlig Recht. Die Commune von 1871 zeigte sich inkompatibel mit dem damaligen Nationalstaat Frankreichs, der unter Louis- Philippe und N.III ein Staat der oberen Burgoisie war und blieb. Der nationale Erfolg, bis eben hin zum Krieg mit den Deutschen, berauschte selbst alte Revolutionäre so sehr, dass sie völlig reaktionär wurden (das dürften geschichtsbewusste Deutsche aber ebenfalls kennen). Es erklärt auch den Hass Thiers auf die Commune.
Mir fällt noch ein, dass bezüglich des Internationalismus, dieser Teilhabe der Fremden, die "Große Revolution" schon ein Vorbild war. Die Revolutionäre glaubten ja , nicht gänzlich unberechtigt, sie stritten für die ganze Menschheit und die Gesellschaften oder Klubs in den Stadtteilen des alten Paris, -Arrondissments gab es erst später-, praktizierten durchaus demokratische Verfahren und kannten die Selbsthilfe im Quartier. Ja sogar Stadtteilfeste, im weitesten Sinner Kultur, wurden auf dieser Ebene geplant.
Es gibt bis heute die Frage, ob denn Paris überhaupt zum übrigen Land gehöre/passe. Für London wird das ebenfalls lange schon abgehandelt und für die Österreicher ist das Teil der Abwehrfolklore gegen den Kopf Wien.
Da musste im Laufe der "Republiken" immer wieder justiert werden und das gewaltige Übergewicht des Großraumes Paris, bis in die späten 80er des letzten Jahrhunderts, löste erst eine Regional- und Europapolitik, die ihren Namen auch verdiente, langsam auf.
Das eigentliche Département Paris, also der Teil, in dem der "Luxe communal" als politisch erstrebenswert auch kontinuierlich durchgesetzt werden könnte, fällt erstaunlich klein aus. Gerade einmal 2,5 Millionen Bürger leben in dem politischen Gebilde zwischen drei Nachbar-Dép., die ja zunehmend auch die negativen Folgen des rein kapitalgetriebenen Stadtausbaus zu tragen haben.
Was sollte/könnte diesen "Luxe communal" ausmachen? Schule und Ausbildung für alle, ohne Diskriminierung, die Weiterentwicklung der allgemeinen Schulbildung, "Kultur für alle" (Slogan aus unseren 70ern), in dem Sinne, dass es dauerhaft und beständig dafür an der Basis, in den Quartieren, an den Häusern, in den Kultureinrichtungen, Kunst- und Kulturschaffende gibt und stadtteilbezogene Beschäftigungsgesellsschaften, die Gemeindeaufgaben angehen (Traveaux publics). Dazu eine aktive Beteiligung an der politischen Gemeinde.
Idealisiert geht viel. Aber das Commune- Modell ist natürlich weder mit dem Agarsozialismus, noch dem kommunistischen Zentralismus, noch mit dem Sozialdemokratismus in seiner Agenda des Dritten Weges vereinbar. - Fast ist es so, als ob die Schwundformen dieser Strömungen heute in der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik wieder auftauchen und die Schwundformen der Commune begründen, warum funktionierende Städte in Europa immer noch besonders wichtig sind und selbst wenn sie einmal abwirtschaften, auch wieder aufblühen.
Daniel Domeinski und Richard Zietz haben natürlich viele Fakten auf ihrer Seite, wenn sie die kurzen Leben der Commune und z.B. auch der Münchner Räterepublik (an der sich erstaunlich viele Intellektuelle beteiligten), der Ruhrautonomie oder des anarchistischen Barcelona, als gescheiterte Versuche sehen. Ideal gut, aber praktisch untergegangen.
Seltsam, dass das Beispiel Schweiz nicht auftaucht. Da halten sich viele Elemente des "Luxe communal", z.B. in der beispielhaften Kulturförderung der Kantone, neben den basisdemokratischen Beteiligungen, die ja auch Biedermeier und Spießbürger ermächtigt.
Beste Grüße
Christoph Leusch
"Aber kein Franzose käme auf die Idee, deren Untergang als Ergebnis des deutschen Kriegsgewinns auszudeuten."
Das mag gewiss soo sein, selbst in Fragen der Revolution sind Franzosen Chauvinisten.
Die Frage, die Sie aufwerfen, finde ich spannend,.
Waren es nicht die Ängste Bismarcks vor dem 1848er "Bazillus", der ihn 1971 veranlasste, die Pariser Commune als ein französisches Problem zu belassen, wo dies doch ein weiters Urelebnis Europas als Demoratie nach der 1848er Revolutin in der Neuzeit war und ist, die royalistische Pariser Garnison bestehen zu lassen, damit die das Ende der Commune exekutiert?
Bismarck war es als preussischer Gesandter 1862 im Deutschen Bund, im Bundesrat zu Frankfurt/Main als Überbeibsel der 1848er Revolution, der durch spektakuläre Abkehr und Rücktritt dessen Todesglöckchen eineutete.
Vieleicht räumen Sie ein, dass Bismarck mit Bedacht genannten Behufes
"Zerschlagung der Pariser Commune"
die royalistische Pariser Garnison, anders als die sonstigen franzöischen Truppen 1871 nicht entwaffnen ließ. Darum ging es mir
Bestes Tschüs
JP
"Daniel Domeinski und Richard Zietz haben natürlich viele Fakten auf ihrer Seite, wenn sie die kurzen Leben der Commune ..."
Und wo habe ich so etwas behauptet. Richtig ist, dass ich wie so oft, mit dem Kommentar von R. Zietz wenig anfangen kann (z.B. mit dem Lob für die "Volksfront-Konzepte" von Syriza und Podemos. Solche "Volksfronten" beinhalten immer auch Klassenkompromisse und gerade die Entwicklung von Syriza zeigt, dass diese Vorgehensweise gut mit "Linksreformistischen Illusionen + Kleinklein" vereinbar ist. Hr. Zietz scheint mir eine Schwäche für "charismatische" Führer und Stimmungspolitiker zu haben...)
Nach der Lektüre Ihres Kommentars frage ich mich auch, ob Sie die Thesen von Kristin Ross, die wwalkie dankenswerterweise in seinem Blog vorgestellt hat, überhaupt wahrgenommen haben.
Ich habe das Buch zur Commune nicht gelesen. Aber darum ja gerne das, was Wwalkie davon berichtet. Es kann also sein, dass ich da was missverstanden habe.
Aber hören Sie sich Kristin Ross selbst an:
https://www.youtube.com/watch?v=c-rXTMzAZF4
Sie zitiert z.B. Courbets Wort, es komme ihm vor, als strebte die Commune an, zu diesem Zeitpunkt nicht Teil des Staats Frankreich zu sein. Sie betont den Zorn gegen den Staat, sie redet zu den Hauptaufgaben denen sich die Commune- Mitglieder stellten, die Autonomie, die Schulbildung und Kultur, den Internationalismus, Geschlechtergerechtigkeit, pp.
Alles das widerspricht eben dem späteren Zentralismus der Staatskommunisten, aber auch dem etatistischen Ansatz, dem republikanischen und später napoleonischen, weniger revolutionären Anteil der französischen Revolution und dem Agrarkommunismus, der auch sehr technikfeindlich daherkam.
Das Gemeinwesendenken der Commune kennzeichne gute und heute wieder nötige Stadtpolitik. Das, was der reinen Municipalité (Verwaltung) fehlt. Sehr schön und tiefsinnig erläutert sie auch die Entstehung des Buchtitels, aus einem Manifest der Commune- Künstler.
Gutes Wochenende
Christoph Leusch
»(…) Hr. Zietz scheint mir eine Schwäche für "charismatische" Führer und Stimmungspolitiker zu haben...)«
Ich persönlich denke, dass Sie Probleme haben, Fakten und Wünsche voneinander zu unterscheiden. Ja – es ist richtig: Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Volksfront-umgesetzten (also parlamentarisch flankierten oder gesteuerten) Sozialismus, der halbwegs klappt und einem rätekommunistischen, der drei Monate dauert und anschließend in Blut ertränkt wird, würde ich mich für den ersten Weg entscheiden. Ansonsten habe ich in meinem Kommentar lediglich die drei aktuellen Grundwege aufgeführt. (Eventuell können wir uns ja darauf verständigen, dass es Syriza / Podemos gibt und eine Aufführung dieser Kräfte unter der Rubrik »ja – sind vorhanden« nicht in Gänze verkehrt ;-)
Zum Problem mit der »Charismatik«: haut schon deswegen nicht hin, weil mir die Kandidaten dafür viel zu schnelllebig sind. Eine bestimmte Person wird Ihnen, auf Ihr favorisiertes Spektrum bezogen, sicherlich in den Sinn kommen. Aber da kann ich nur sagen: NIE NIE NIE !!
Ross geht es allerdings nicht darum, das "Ereignis der Commune" als Verlaufsgeschichte aus einer neuen Perspektive zu erzählen. Sie ist v.a. daran interessiert, wie dieses "Ereignis" auf die Diskurse der Linken wirkte. In dem vom mir verlinkten Interview heißt es dazu:
"But I have been more concerned with documenting what I take to be the prolongation of the Commune (...)
I describe how the shockwave of the Commune as event, as well as the discussions and sociability that ensued with its survivors, changed the method of these thinkers, the issues they addressed, the materials they selected, the intellectual and political landscape they mapped for themselves — in short, their path."
In dieser Perspektive ist die von Ihnen aufgestellte These , dass Politik der Commune mit der "Technikfeindlichkeit des Agrakommunismus" nicht vereinbar wäre, nebensächlich. Ross möchte beschreiben, wie das "Ereignis der Commune" Intellektuelle dazu anregte, dass Verhältnis zwischen sozialrevolutionären Bewegungen in den Metropolen und in ländlichen Gegenden neu zu denken. Noch einmal aus dem Interview:
"The fate of the obshchina, those Russian agrarian communistic forms that had endured for centuries, was a major focus of western socialists. The theoretical challenge that took shape after the Commune revolved around the question of a revitalized commune-form: how to think together the astonishing insurrection that had occurred in a major European capital with the persistence of these older communist forms in the countryside."
Mit diesem Ansatz ließen sich auch die Wirkungen bescheiben, die die "Schockwellen" des "Ereignis der Commune" in den politischen Diskursen der Rechten, vom klassischen Leser der "Kreuzzeitung" bis zu avantgardistischen Denkern wie Friedrich Nietzsche, hinterließen.
"lediglich die drei aktuellen Grundwege"
... und ich hatte nur kurz angedeutet, dass diese Aufzählungen inklusive der Wertungen zur Beschreibung politischer Realitäten nur bedingt taugen, ausgenommen natürlich die eigentümlichen Frontverläufe von FC-Debatten ...
Ja, wie nun die verschiedenen, wie immer zerstrittenen Linken reagieren und die Commune bewerten und nutzen, dazu habe ich zu wenig geschrieben und da kann der Eindruck entstehen, ich wollte das auslassen.
Mir war aber diese urbane Anknüpfungsperspektive, der sich Linke mehr bewusst werden sollten wichtiger. Das sind eben Elemente der Commune, die heute noch ein gute, urbanes Gemeinwesen ausmachen.
Ich kenne ja auch ein bisschen Kropotkin und vor allem Alexander Herzen.
Was mir noch einfiel. Eigentlich erwartete am Ende des 19. Jahrhunderts ganz Europa eine kommunistische Revolution in Deutschland. Die Sozialdemokraten haben den Tag X immer rechtzeitig abgeblasen und häufig fanden sie ein Argument, das man auch bei strammen und radikalen Marxisten findet: Die Zeit sei gerade nicht reif, man müsse pragmatisch sein, pp.
Beste Grüße
Christoph Leusch